heumaps0517

(Ben Green) #1

steller werden. Doch erst als er eine
Schreibweise gefunden hatte, die seine
autobiografische Erfahrung scheinbar
ungefiltert wiederzugeben vermoch-
te, konnte er seinem Schreiben Stetig-
keit geben. Das auf den ersten Blick Un-
gefilterte seines Stils ist jedoch das Ergeb-
nis eines Erzähltons, dessen wesentliches
Merkmal das Unterlaufen der literari-
schen Erwartungen an eine Autobiografie
d a r s te l lt. Ü b e r sic h s e lbs t z u s c h re i b e n i s t
komplizierter, als es zunächst erscheinen
mag. Denn das Ich, das zum Schreiben
entschlossen ist, muss von jener Instanz
unterschieden werden, die im Schreibakt
erst entsteht – dem Autor. Dieser wiede-
rum wird zum Urheber einer imaginier-
ten Ich-Figur, die wiederum aus dem
Schreibprozess geboren wird. Das Ich,
welches noch nicht schreibt, und die vom
Autor entworfene Ich-Figur sind also al-


les andere als miteinander identisch. Erst
aus ihrer Unterscheidung lässt sich das
autobiografische Drama konkret und
Schritt für Schritt entfalten, das am An-
fang des Schreibwunsches nichts als eine
Illusion war. Als Knausgård die Energie
zuf loss, die aus der Spaltung des Ich in
die drei sich überlappenden Zonen von
schreibwilligem Ich, Autor-Ich und Ich-
Figur hervorging, brach sich ein
Schreibstrom Bahn, der jahrelang kein
Ende nehmen wollte.
Zweifellos ist es neben den eindrückli-
chen Themen und Geschichten, neben der
Drastik und Sensibilität der Schilderungen
seines Lebens als Mann, als Sohn und als
Schreibender auch das Glück der Verwirk-
lichung seines Wunsches zu schreiben,
welche die Leser bei Knausgård in so gro-
ßer Zahl in den Bann schlägt. Sie geben
sich einem Stil hin, der sich weder einem
erwartbaren Jargon noch literarischen In-
novationen verpf lichtet fühlt, sondern un-
unterbrochen jene euphorisch stimmende
Freiheit zelebriert, die der Wunsch zu
schreiben in Aussicht gestellt hat.

Die gesamte Öffentlichkeit ist ein
Kampfplatz um Aufmerksamkeit
Knausgårds Werk und seine Aufnahme
durch die Leser weisen zudem direkt auf
das Phänomen der Resonanz. Die Sehn-
sucht nach Resonanz, die der Soziologe
Hartmut Rosa jüngst in seinem vielbe-
achteten Buch Resonanz. Eine Soziologie
der Weltbeziehung (Suhrkamp 2016) in
den Vordergrund gerückt hat, ist zweifel-
los eine der zentralen, die Lebensformen
der Gegenwart betreffenden Fragen. Im
Grunde genommen ist die gesamte Öf-
fentlichkeit ein Kampfplatz um Aufmerk-

samkeit, auf dem die
Aussicht auf Resonanz
eine herausragende
Rolle spielt. Die dadurch
bestärkte Identität des Schrei-
benden erscheint nicht einfach als
ein bloßes Zu-sich-selbst-Kommen, son-
d e r n b e z e i c h n e t w i e d e r u m e i n e n e u e , g e -
steigerte Form des Sich-selbst-Erlebens.
Resonanz ist in diesem Feld die Bestäti-
gung dafür, dass das „neue“ Leben tat-
sächlich möglich ist oder vielleicht sogar
schon begonnen hat.
Im äußersten Fall, wie eben bei Knaus-
gård, wird das Werben um Resonanz von
einem überbordenden Publikumszu-
s p r u c h b e a n t w o r t e t. D o c h d ü r f t e e s w o h l
nicht die Erwartung auf einen solch sin-
gulären Erfolg sein, welche die Verbrei-
tung des Wunsches zu schreiben begüns-
tigt. Eher ist es die jeweils individuelle
Utopie, einen Widerhall seines eigenen
Tuns zu finden. Ohne Bestätigung – und
das meint im Falle des Schreibens und
Veröffentlichens: ohne Resonanz – bleibt
das neue Leben im Zustand der Erwar-
tung. Doch muss man keineswegs untätig
warten, sondern kann sich jederzeit auf
den Weg machen.
Die Tätigkeit des Schreibens erscheint
als Königsweg, aus der Passivität heraus-
zukommen und in Aktion zu treten. Da-
rin liegt die Möglichkeit zur Erschließung
einer stabilen psychischen Kraftquelle.
Die Aufgabe der Überwindung des Gra-
bens zwischen dem Ich, das schreiben will,
und dem Ich, das tatsächlich schreibt,
setzt Motivationsimpulse frei, die sofort
auch über das Schreiben selbst hinaus-
weisen und die immer mehr Zeitgenossen
für sich glauben nutzen zu können. PH

Prof. Dr. Christian Schärf leitet seit 2013 das
Institut für Literarisches Schreiben und Lite-
raturwissenschaft der Universität Hildesheim.
Er hat verschiedene Sachbücher veröffent-
licht, darunter 2013 den Band Der
Wunsch zu schreiben. Zudem
ist er als literarischer Au-
tor tätig; 2016 erschien
sein Roman Die Rei-
se des Zeichners.

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