Die Welt Kompakt - 27.11.2019

(Michael S) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,27.NOVEMBER2019 WISSEN 27


AAAuch an anderer Stelle klaf-uch an anderer Stelle klaf-
fffen gefühlte Wahrheit und Rea-en gefühlte Wahrheit und Rea-
lität auseinander. Vor kaum et-
was haben die Deutschen so
viel Angst wie vor Kriminalität.
Dabei vermeldete die Polizeili-
che Kriminalstatistik (PKS) für
2 018 einen historischen Tief-
stand. Bundesweit wurden ins-
gesamt 5.555.520 Verbrechen
registriert. Eine vergleichbar
geringe Zahl erfasster Fälle
wwwurde letztmals 1992urde letztmals 1992
(5.209.060 Fälle) ausgewiesen.
Freilich gibt es eine Dunkelzif-
fffer. Doch die Anzeigebereit-er. Doch die Anzeigebereit-
schaft der Opfer von Verbre-
chen hat mit der Zeit zugenom-
men. Da die Statistik nur ange-
zeigte Fälle erfasst, war die
Dunkelziffer früher eher höher.
VVVerbrechen wären dann nocherbrechen wären dann noch
stärker rückläufig, als es in der
Statistik sichtbar wird.
Der Soziologe Martin Schrö-
der von der Universität Mar-
burg hat sich intensiv mit The-
men wie Armut, Kriminalität
oder etwa der weltweiten Ent-
wicklung von Demokratie und

W

ashaben folgen-
de Aussagen ge-
meinsam: Die
extreme Armut
auf der Welt nimmt ab? Terro-
rismus ist in Deutschland keine
echte Gefahr. Die Kriminalität
hierzulande ist auf einem histo-
rischen Tiefstand. Alle drei Aus-
sagen klingen in unseren Ohren
äußerst befremdlich. Und ... sie
sind dennoch alle wahr.


VON CHRISTIAN WOLF

Anfang der 1980er-Jahre leb-
ten nach Berechnungen der
WWWeltbank mehr als 40 Prozenteltbank mehr als 40 Prozent
der Menschheit in extremer Ar-
mut, 2000 waren es noch 30
Prozent. 2015 kam die Weltbank
dann zu dem Ergebnis: Nur
noch weniger als zehn Prozent
der Menschen müssen von we-
niger als 1,90 Dollar (1,63 Euro)
am Tag leben – der niedrigste
Stand seit Erhebung der Daten.
Zwar beruhen viele dieser Zah-
len auf Annahmen und Hoch-
rechnungen, etwa wie viele
Menschen Anfang der 1980er in
extremer Armut gelebt haben.
Trotzdem sprechen die Lang-
zeitdaten insgesamt eine ein-
deutig positive Sprache. In
Deutschland ist die frohe Bot-
schaft aber nicht angekommen.
Laut einer von der Bill-&-Melin-
da-Gates-Stiftung finanzierten
Studie des niederländischen
Forschungsinstitutes Motivacti-
on unterschätzen 99,5 Prozent
der Deutschen den weltweiten
RRRückgang extremer Armut.ückgang extremer Armut.


Gewalt beschäftigt. Gefühlten
WWWahrheiten setzt er Fakten undahrheiten setzt er Fakten und
Daten entgegen. Seine auf den
ersten Blick irritierende These:
Wir überschätzen negative Ent-
wicklungen in Deutschland und
der Welt und unterschätzen
massiv die positiven. Sein aktu-
elles Buch heißt dann auch be-
zeichnenderweise „Warum es
uns noch nie so gut ging und
wir trotzdem ständig von Kri-
sen sprechen“. Nicht nur
Schröder, auch andere Forscher
sind überzeugt: Dass wir die
WWWelt so pessimistisch sehen,elt so pessimistisch sehen,
hat viel mit dem negativen
Blick zu tun, den uns die Me-
dien gewähren.
„Zweifelsohne haben Medien
einen Hang dazu, bevorzugt
über Negatives zu berichten“,
sagt der Psychologe und Risiko-
ffforscher Gerd Gigerenzer, Di-orscher Gerd Gigerenzer, Di-
rektor des Harding-Zentrums
fffür Risikokompetenz am Max-ür Risikokompetenz am Max-
Planck-Institut für Bildungsfor-
schung in Berlin. „Das machen
sie teilweise auch zu Recht,
denn Alarme werden mehr ge-
lesen. Eine Studie des Politik-
wissenschaftlers Stuart Soroka
von der University of Michigan
und des Kognitionspsycholo-
gen Stephen McAdams von der
McGill University zeigte in ei-
nem Laborexperiment, dass ne-
gative Nachrichteninhalte bei
den Lesern auch mehr auslö-
sen: Gemessen an physiologi-
schen Indikatoren wie der
Herzfrequenz erhöhten negati-
ve Nachrichteninhalte im Ver-
gleich zu positiven sowohl die

Erregung als auch die Aufmerk-
samkeit bei den Lesern.
Doch so verständlich und
auch wichtig die ausführliche
Berichterstattung über Kriege,
Umweltkatastrophen oder ter-
roristische Akte wie zuletzt der
Anschlag in Halle ist, sie führt
eben auch zu einer verzerrten
Sicht. „Einigen Umfragen zu-
fffolge ist für die Deutschen eineolge ist für die Deutschen eine
der größten Gefahren für das
eigene Leben Terrorismus und
sogar Krieg“, sagt Gerd Gige-
renzer. Tatsächlich sei aber die
Chance, in Deutschland durch
einen Terroristen ums Leben
zu kommen, kleiner, als von ei-
nem Blitz erschlagen zu wer-
den. „Aber das Thema wird von
den Medien hochgespielt.“ Es
sei einfach, Furcht vor soge-
nannten Schockrisiken auszu-
lösen, also Ereignissen, bei de-
nen viele Menschen gleichzeitig
sterben wie bei einem Flug-
zeugabsturz oder am 11. Sep-
tember 2001. „Paradoxerweise
haben wir hingegen kaum
Angst davor, bei einem Autoun-
fffall zu sterben, obwohl das vielall zu sterben, obwohl das viel
wahrscheinlicher ist.“
Hand in Hand mit der einsei-
tig negativen Sicht der Medien
auf die Welt gehen Wahrneh-
mungs- und Denkverzerrun-
gen, zu denen Menschen nei-
gen. „Der sogenannte Verfüg-
barkeitsbias sorgt dafür, dass
wir das Eintreten eines Ereig-
nisses für umso wahrscheinli-
cher halten, je leichter wir uns
an ein ähnliches Ereignis erin-
nern können“, sagt Martin

Schröder. „Die Medien sorgen
über den Verfügbarkeitsbias da-
fffür, dass wir letztlich Mordeür, dass wir letztlich Morde
und Kriege für viel wahrschein-
licher halten, als es eigentlich
der Fall ist.“
Eine andere Verzerrung ken-
nen wir aus eigener Erfahrung.
Der von Psychologen so ge-
nannte „rosa Blick“ führt dazu,
dass man sich vorwiegend an
Positives aus der Vergangen-
heit erinnert. Als Forscher et-
wa Probanden in einen Ver-
gnügungspark schickten, fan-
den die Freiwilligen den Be-
such an dem Tag lediglich ak-
zeptabel. In der Rückschau
WWWochen später beurteilten sieochen später beurteilten sie
den Besuch im Vergnügungs-
park hingegen ganz wunder-
bar. „Durch diesen rosaroten
Schleier über der Vergangen-
heit schneidet dann aber die
Gegenwart im Vergleich oft-
mals schlecht ab“, sagt Schrö-
der. Das macht es schwierig,
objektive Verbesserungen sub-
jektiv zu registrieren.
AAAusgerechnet die Tatsache,usgerechnet die Tatsache,
dass viele Probleme wie Armut
oder fehlender Zugang zu Bil-
dung weltweit weniger werden,
schafft neue Probleme. Zumin-
dest subjektiv. Das legt eine
2 018 im renommierten Fach-
blatt „Science“ erschienene
Studie von Forschern um Da-
niel Gilbert von der Harvard
University nahe. Die Freiwilli-
gen sollten unter anderem ein-
stufen, ob Forschungsprojekte
unethisch waren. Es zeigte sich:
Je seltener Probanden tatsäch-
lich unethische Forschungspro-
jekte zu begutachten hatten,
desto eher stuften sie auch jene
als unethisch ein, die ihnen vor-
her noch als unbedenklich er-
schienen waren. Daniel Gilbert
vermutet, dass es sich hierbei
um einen generellen Mechanis-
mus handelt, wie wir mit Pro-
blemen umgehen. Die Lösung
von Problemen führe dazu,
dass wir unsere Definitionen
von ihnen erweitern, so der
Forscher in einer Pressemittei-
lung. „Wenn Probleme selten
werden, zählen wir mehr Dinge
als Probleme“, sagt Gilbert.
„Unsere Studien deuten darauf
hin, dass, wenn die Welt besser
wird, wir gleichzeitig kritischer
werden.“ Das könne uns irr-
tümlich zu dem Schluss verlei-
ten, dass es eigentlich gar nicht
besser geworden ist.
Keine Frage: Auch wenn eine
ganze Reihe von Entwicklun-
gen in Deutschland und in der
WWWelt positiv ist, gibt es noch ei-elt positiv ist, gibt es noch ei-
ne Unmenge von Missständen.
„Die Botschaft ist nicht, dass al-
les gut ist und man sich nicht
weiter engagieren sollte“,
warnt Martin Schröder. „Der
Klimawandel etwa und die im-
mer ungleichere Einkommens-
verteilung sind Probleme, die
wir angehen sollten.“ Vieles auf
der Welt habe sich nur durch
menschliches Engagement zum
Besseren gewandelt. „Und viel-
leicht brauchen wir Menschen
auch immer wieder übertriebe-
ne Panik, damit sich etwas zum
Positiven ändert.“

Die goldenen Fünfziger:
„Durch den rosaroten Schleier über der
VVVergangenheit schneidet die Gegenwartergangenheit schneidet die Gegenwart
im Vergleich oftmals schlecht ab“

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Warum die


Welt nicht untergeht


Früher war


alles besser?


Stimmt nicht.


Die Gegenwart


ist viel besser,


als wir glauben

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