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ist seit 2000 Paul Kagame, der ehe-
malige Kommandant, dessen Ar-
mee dem Völkermord ein Ende
bereitete. Manche halten Kagame
für autoritär, andere für visionär.
So propagierte er mit seiner regie-
renden Ruandischen Patriotischen
Front die Schaffung einer neuen
nationalen Identität, die ohne
Begriffe wie Hutu und Tutsi aus-
kommt, und setzte sich für Ge-
schlechtergerechtigkeit ein.
ALICE URUSARO
KAREKEZI
MENSCHENRECHTS
ANWÄLTIN
Die Mehrzahl der
Toten waren Männer.
Die Mehrzahl der
Geflohenen – Männer.
Die Mehrzahl der
Gefangenen –
Männer. Wer also
sollte das
Land regieren?
geschlechterdiskriminierende Ge-
setze zu finden, die überarbeitet oder
aufgehoben gehörten. Zum Beispiel
ein Verbot der Nachtarbeit für Frauen.
Oder ein Gesetz gegen ihre Arbeit als
Diplomatinnen, das sie obendrein
zum Eigentum des Mannes erklär-
te, wenn dieser ins Diplomatische
Corps eintrat. Die Frauen im Parla-
ment kämpften für Gesetze gegen
geschlechtsspezifische Gewalt. So
wurde die Vergewaltigung in der Ehe
unter Strafe gestellt. Und das Erbrecht
sieht seit 2016 vor, dass kinderlose
Witwen den Besitz ihres verstorbenen
Ehemannes erben.
Nicht nur der Mangel an Männern
führte zu diesen Veränderungen, son-
dern „auch eine politische Vision“, wie
Menschenrechtsanwältin Karekezi es
ausdrückt. Frauen wurden ermutigt,
gegen ihre Vergewaltiger auszusagen
oder sich zu weigern, am Völkermord
beteiligte Männer – und seien es Ver-
wandte – zu beherbergen. Die frauen-
freundliche Politik, so Karekezi, habe
auch die vorkoloniale Rolle der Frauen
gewürdigt. Bevor Ruanda 1884 zu ei-
nem Teil Deutsch-Ostafrikas wurde,
ließen sich seine Könige von ihren
Müttern beraten, und die Frauen auf
dem Land hielten Dorfgemeinschaften
zusammen, wenn die Männer mit dem
Weidevieh unterwegs waren.
Binnen nur einer Generation haben
sich Ruandas Werte und die Einstel-
lung gegenüber Frauen – zumindest
im öffentlichen Bereich – völlig ge-
wandelt. Frauen im Staatsdienst wie
Rubagumya verändern nicht nur die
Politik, sie sind auch Vorbild für an-
dere. Agnes Nyinawumuntu (39) ist
Präsidentin einer 160 Mitglieder star-
ken Frauen-Kaffeeanbaukooperative
in den grünen Hügeln des Bezirks
Kayonza im Osten des Landes. Vor
dem Genozid, sagt sie, habe es eine
sehr lange Liste von Verboten für Frau-
en gegeben, auch der Kaffeeanbau sei
ihnen nicht erlaubt gewesen. „Für uns
war nur eine Betätigung vorgesehen:
schwanger werden und Kinder bekom-
men.“ Nyinawumuntu hat fünf, und
Emma Furaha Rubagumya
ist in einer Familie
aufgewachsen, die 1959 wegen der
Verfolgung der Tutsi nach Tansa-
nia geflohen war. Sie erinnert sich,
wie ihr Großvater mit ihrem Vater
schimpfte, weil dieser ihr erlaubt
hatte, auf die Highschool zu gehen
anstatt zu heiraten. Ihr Großvater,
sagt sie, fürchtete, „sie würde keine
gute Frau werden“, wenn sie weiter
zur Schule ging.
Heute ist die 52-jährige Ruba-
gumya Parlamentsabgeordnete in
Ruanda, 2018 wurde sie gewählt.
Sie leitet den Ausschuss für Poli-
tische Angelegenheiten und Ge-
schlechtergerechtigkeit. Ihr Groß-
vater, der 1997 starb, hat das nicht
mehr erlebt.
Sie erinnert sich, wie ihre Mutter
sich aus den Streitigkeiten um ihre
Bildung heraushielt. „So wie die
Gesellschaft damals ausgerichtet
war, konnte sie sich nicht gegen
ihren Schwiegervater stellen.“ Ihre
Mutter und Großmutter waren „ein-
fache Frauen vom Land, die den
Boden bestellten und sich um die
Kinder kümmerten. Sie haben nie
eine Schule besucht“. Aber heute sei
das anders, sagt sie. „Sogar auf dem
Dorf hat die Bildung ihrer Kinder
heute für viele Frauen Priorität.“
Justine Uvuza war Leiterin der
Rechtsabteilung im Ministerium
für Geschlechter- und Familienför-
derung. Zu ihren Aufgaben zählte,