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s sind viele Baustellen,
die die Industriegewerk-
schaft Bergbau, Chemie,
Energie (IG BCE) mit ih-
ren gut 632 000 Mitglie-
dern zu beackern hat: Die Beschäftig-
ten in Tagebauen und Kraftwerken
wollen trotz Braunkohleausstieg und
Energiewende ihre Arbeit behalten –
oder zumindest eine neue Perspekti-
ve. In der laufenden Chemie-Tarif-
runde hat die IG BCE teure Forderun-
gen aufgestellt, obwohl der Branche
in diesem Jahr ein Produktionsrück-
gang um sechs Prozent droht. Ihr
Chef Michael Vassiliadis glaubt aber,
dass Deutschland eine schwere Krise
umschiffen kann. Wenn die Politik ih-
re Hausaufgaben macht.
Herr Vassiliadis, wir erleben einen
Stellenabbau großer Unternehmen,
die Arbeitslosigkeit steigt – stehen
wir vor der nächsten großen Wirt-
schaftskrise?
Das Land ist nicht im Krisenmodus.
Wir kommen nach sieben, acht Jah-
ren Boom jetzt zu einer Normalisie-
rung. Es gibt sicher Branchen und
Unternehmen, bei denen Aufträge
oder Umsätze zurückgehen. Aber ich
warne davor, einen Vergleich mit
dem Rezessionsjahr 2009 herbeizu-
reden.
Was macht Sie so optimistisch?
Die konjunkturelle Eintrübung hat
vor allem mit dem globalen politi-
schen Umfeld zu tun. Aber die Han-
delsauseinandersetzungen, die wir
derzeit erleben, müssen ja nicht von
Dauer sein. Hinzu kommt der Struk-
turwandel – die Energie- und Mobili-
tätswende –, aber auch der lässt sich
gestalten. Wir brauchen nur klarere
politische Linien und vor allem einen
realistischen Zeitplan, wann was
möglich ist.
Vermissen Sie diesen Realismus
beim Klimaschutz? Die designierte
EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen will Klimaneutralität
bis 2050 erreichen ...
Wir sind ja nicht im Mittelalter, wo ir-
gendjemand irgendwas verkündet
und dann richtet sich die gesamte
Gesellschaft danach aus. Dass es Zu-
sammenhänge gibt zwischen Klima-
schutz, wirtschaftlicher Leistungsfä-
higkeit, sozialem Frieden und Moder-
nisierung, das ist in der Debatte in
den vergangenen Monaten ein biss-
chen unter die Räder gekommen. Ich
sehe aber die Chance, dass die Politik
das jetzt wieder besser ausbalanciert.
Im Klimakabinett?
Mit der Kohlekommission und dem
Klimakabinett sind Schritte gemacht
worden, die Politik der Ressorts ein
bisschen besser zu koordinieren.
Aber der Kohle- und der Atomaus-
stieg werden nur gelingen, wenn es
beim Ausbau der Leitungen und der
Erneuerbaren vorangeht. Vom Ziel
der Bundesregierung, den Anteil der
Erneuerbaren bis 2030 auf 65 Pro-
zent zu steigern, sind wir jedenfalls
meilenweit entfernt.
Sehen Sie im Industrieland Deutsch-
land die Versorgungssicherheit in
Gefahr?
Bisher gibt es keine ausreichende
Antwort auf die Frage, was passiert,
wenn wir parallel zum Kernenergie-
ausstieg noch viel Braunkohle raus-
nehmen. Bleibt gleichzeitig der Aus-
bau der Erneuerbaren hinter den Zie-
len zurück, können wir echte Eng-
pässe bekommen. Wir müssten dann
für den Übergang viel Geld in Gas-
kraftwerke investieren, die wir dann
aber aus Klimaschutzgründen auch
wieder vergleichsweise schnell ab-
schalten wollen. Und das Gas muss ja
auch irgendwo herkommen. Wenn
wir dann noch gegen Nord Stream 2
sind, dann wird es schwierig.
Kommen wir zurück zur konjunktu-
rellen Lage. Wäre Ihr bester Beitrag,
um durch den Abschwung zu kom-
men, nicht Lohnzurückhaltung in
der laufenden Chemie-Tarifrunde?
Meine Mitglieder bezahlen für den
Strukturwandel, über den wir gerade
gesprochen haben, dreifach: erstens
als Kunden, die die EEG-Umlage zah-
len, zweitens als Arbeitnehmer mit
einem geringeren Verteilungsspiel-
raum wegen der gestiegenen Energie-
preise für die Unternehmen und drit-
tens – wenn man nicht aufpasst – mit
dem Jobverlust. Gerade in Zeiten, in
denen die Industrie in der Öffentlich-
keit zunehmend infrage gestellt wird,
müssen wir zeigen, dass es dort er-
folgreiche, innovative Unternehmen
gibt, die ihre Leute gut bezahlen.
Sie fordern für jeden Beschäftigten
1 000 Euro, die in zusätzliche freie
Tage umgewandelt werden können,
und nennen das „persönliches Zu-
kunftskonto“. Die Arbeitgeber dage-
gen reden von einer Nullrunde ...
Die 1 000 Euro und auch die von uns
geforderte betriebliche Pflegezusatz-
Michael Vassiliadis
„Deutschland ist nicht
im Krisenmodus“
Der Industriegewerkschafter warnt davor, eine Rezession wie im Jahr 2009
herbeizureden, und erklärt, warum Beschäftigte ein „Zukunftskonto“ brauchen.
versicherung sind Antworten auf die
Wünsche der Beschäftigten, deren
Belastung im Job seit Jahren wächst,
die sich aber auch mehr um die Fa-
milie oder pflegebedürftige Angehöri-
ge kümmern oder gegen das eigene
Pflegerisiko absichern wollen. Beides
steigert auch die Attraktivität eines
Arbeitgebers.
Ist die Absicherung gegen das Pflege-
risiko nicht Aufgabe des Staates?
Das ist so. Aber was über die Pflege-
versicherung als Minimalversorgung
abgesichert ist, reicht eben häufig
nicht aus. Deshalb wollen wir neben
der betrieblichen Altersversorgung
auch eine vom Betrieb geförderte
Pflegeversicherung einführen. Wir
haben das bei Henkel ausprobiert,
und dort ist das ein Renner.
imago/IPON
Chemiker Der gebür-
tige Essener war
Chemielaborant bei
Bayer, bis er 1986
seine hauptamtliche
Gewerkschaftskarriere
startete. Bei BASF
und Steag ist der
55-Jährige Aufseher.
Gewerkschaftschef
Vassiliadis steht seit
2009 an der Spitze
der IG BCE und wurde
2017 für vier weitere
Jahre bestätigt.
Vita Michael
Vassiliadis
Wirtschaft & Politik
(^10) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211