„Diesem Amerika war das vereinte
Europa immer ein Anliegen. Dieses
Amerika wollte echte Partnerschaft und
Freundschaft in gegenseitigem Respekt.
Vieles davon scheint heute nicht mehr
selbstverständlich.“
Frank-Walter Steinmeier , Bundespräsident, dankt den USA
zum 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Worte des Tages
Sozialdemokraten
SPD-Chefin
der Herzen
F
ranziska Giffey darf ihren
Doktortitel trotz Mängeln in
der Dissertation behalten.
Für die SPD-Politikerin ist das er-
leichternd. Für ihre Partei ist die
Entscheidung bitter, das Timing fast
etwas tragisch. Giffey hatte im Som-
mer wegen der Plagiatsvorwürfe auf
eine Kandidatur für den SPD-Vorsitz
verzichtet. Nun ist es zu spät. Die
Enttäuschung einiger Sozialdemo-
kraten darüber ist verständlich.
Die Regionalkonferenzen haben
gezeigt: Es gibt zwar viele Ideen.
Ein neuer Aufbruch, den die SPD so
dringend bräuchte, ist aber nicht zu
sehen. Das liegt auch daran, dass es
an charismatischen Personen fehlt.
Dieses Dilemma trug dazu bei, dass
die erste Abstimmung so knapp aus-
ging. Die fehlende Euphorie ist auch
den blassen Kandidatinnen geschul-
det. Klara Geywitz und Saskia Esken
stehen klar im Schatten ihrer Part-
ner Olaf Scholz und Norbert Walter-
Borjans. In einer Doppelspitze wür-
den beide es schwer haben.
Giffey führt den Genossen vor Au-
gen, dass es geeignetere Kandidaten
gäbe als die auf dem Wahlzettel. Die
Entscheidung der Freien Universität
Berlin war kaum öffentlich, da ertön-
ten Rufe, Giffey könne anstelle von
Geywitz neben Scholz kandidieren.
Theoretisch möglich wäre das, weil
die Mitgliederbefragung formal nicht
bindend ist. Aber wie sähe das aus?
Scholz erklärt seit Wochen, Geywitz
sei die bestmögliche Partnerin. Ihre
Auswechslung würde das Verfahren
ad absurdum führen und wäre den
Mitgliedern kaum zu verkaufen.
Der SPD würde eine starke Vorsit-
zende gut zu Gesicht stehen, und Gif-
fey hätte das Zeug dazu. Sie hat Er-
fahrungen in der Berliner Kommu-
nalpolitik und als Bundesministerin,
ist ein unverbrauchtes Gesicht und
hat viele Fans in der Partei. Aber Gif-
fey kann es nicht recht sein, sich auf
Kosten einer Parteifreundin mit ei-
nem Freilos vorzudrängeln. Dies mag
dazu beigetragen haben, dass sie am
Donnerstag erklärte, nicht mehr in
den Wettbewerb einzusteigen.
Dass die wohl talentierteste Frau
in der Partei zum Zuschauen ver-
dammt ist, hat aber auch Vorzüge:
Giffey ist erst 41. Ihre Zeit wird kom-
men. Für die SPD ist es wertvoll,
noch eine geeignete Person in der
Hinterhand zu haben.
Auch wenn viele Sozialdemokraten
sich das wünschen: Franziska Giffey
wird nicht mehr in das Rennen um
den SPD-Vorsitz eingreifen können,
meint Christian Rothenberg.
Der Autor ist Politikredakteur.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
A
ls die dänischen Behörden am Mitt-
woch ihr Plazet für den Bau eines Teil-
stücks der Gaspipeline Nord Stream 2
gaben, war die Reaktion der Betreiber-
gesellschaft eher vorsichtig – von Eu-
phorie jedenfalls keine Spur. Lange hatten die Dänen
die Nord Stream 2 AG hingehalten. Vorübergehend
schienen die Verzögerungen den Zeitplan für das
Multi-Milliarden-Projekt ins Wanken zu bringen. Die
bleibende Skepsis der Betreiber hat einen guten
Grund. Denn noch ist längst nicht klar, wann der ers-
te Kubikmeter Gas von der russischen Narwa-Bucht
bis zur deutschen Ostseeküste strömt. Die Unwäg-
barkeiten bleiben.
Dabei wäre es wünschenswert, wenn das Projekt
nun als energiewirtschaftliche Realität wahrgenom-
men würde. Russland hat die Chance, einen Beitrag
dazu zu leisten, aus Nord Stream 2 das zu machen,
was es ist: ein Stück Gasinfrastruktur – mehr nicht.
Entscheidend ist dabei der Verlauf der Verhand-
lungen über den künftigen Transit russischen Erdga-
ses durch die Ukraine. Bei schlichter Betrachtung
mag man zu dem Ergebnis kommen, dass sich die
Verhandlungsposition der russischen Seite drama-
tisch verbessert, wenn Nord Stream 2 fertiggestellt
ist. Doch das ist eine einseitige Betrachtung.
Denn auch die Russen stehen in der Pflicht. Nord
Stream 2 kann nur einen Teil des Transits ersetzen,
der im Moment noch durch die Ukraine erfolgt.
Wenn der russische Gazprom-Konzern auch in Zu-
kunft als vertragstreuer Lieferant für die EU wahrge-
nommen werden will, muss er dafür sorgen, dass es
keine Brüche gibt. Eine Situation wie 2012, als deut-
sche Industriekunden Anlagen abschalten mussten,
weil kein Gas mehr strömte, wollen die Russen auf
jeden Fall vermeiden. Natürlich werden sie nicht je-
den Preis für den Transit durch die Ukraine zahlen,
aber das Drohpotenzial der Gegenseite ist nicht un-
erheblich. Und die Verhandlungspartner der Russen
sind keine Waisenknaben. Zudem ist der Umgang
der Ukraine mit den Einnahmen aus dem Transit in-
transparent, gleichzeitig verrottet das Gasnetz.
Leider haben die Russland-Kritiker viele gute
Gründe, Putin nicht zu trauen. Dessen Gebaren auf
der Weltbühne ist in höchstem Maße bedenklich,
nicht nur mit Blick auf den unerklärten Krieg gegen
die Ukraine. Man sollte sich jedoch davor hüten, al-
lein diesen Aspekt zu betrachten. Der skrupellose
Autokrat Putin ist als Gasverkäufer ein rationaler
Kaufmann. Er wird den Transformationsprozess
Europas hin zu einem klimaneutralen Wirtschafts-
raum nicht durch seine eigene Unzuverlässigkeit be-
schleunigen.
Die EU-Kommission sollte die beiden Kontrahen-
ten bei den laufenden Verhandlungen zur Vernunft
bringen können. Dabei kann es aber nicht nur da-
rum gehen, der Ukraine zu möglichst hohen Einnah-
men zu verhelfen. Wenn die Europäer den ukraini-
schen Staatshaushalt stützen wollen, dann müssen
sie das nicht über den Umweg tun, eine marode Gas-
netzinfrastruktur künstlich am Leben zu erhalten.
Viel hilfreicher wäre es, wenn die EU dazu beitragen
würde, den ukrainischen Gasmarkt zu entflechten,
für eine vernünftige Regulierung und für massive In-
vestitionen zu sorgen.
Allerdings ist die Bereitschaft der EU, das Projekt
rational zu betrachten, sehr begrenzt. Seit Jahren
torpediert die EU-Kommission, kräftig unterstützt
von einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten, Nord
Stream 2. In gleich mehreren Anläufen haben die
Brüsseler Beamten versucht, die Pipeline nachträg-
lich einer europäischen Regulierung zu unterwer-
fen, wie sie sonst nur für Leitungen gilt, die inner-
halb der EU beginnen und enden.
Die EU-Gasmarktrichtlinie, die derzeit in deut-
sches Recht umgesetzt wird, ist zwar für Nord
Stream 2 günstiger ausgefallen als zunächst befürch-
tet. Selbst wenn die negativen Folgen für Nord
Stream 2 überschaubar bleiben sollten, ist die ab-
schreckende Wirkung für jeden Investor beträcht-
lich. Dass im Nachhinein der Rechtsrahmen verbo-
gen wird, um einem missliebigen Lieferanten das Le-
ben schwerzumachen, wird sich langfristig negativ
auf Infrastrukturprojekte aller Art auswirken.
Überdies ignoriert die EU-Kommission die Ent-
wicklung auf dem Gasmarkt, der in den vergangenen
Jahren wesentlich liquider geworden ist. Mehr und
mehr verflüssigtes Erdgas („liquefied natural gas“,
kurz LNG) strömt nach Europa. Daraus ergeben sich
ganz neue Möglichkeiten. Es gilt der Leitsatz: Ener-
giesicherheit ist nicht dadurch definiert, wo man
kauft, sondern von der Möglichkeit, die Bezugsquel-
le zu wechseln. LNG spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Hinzu kommt: Die EU-Staaten haben ihre Gasinfra-
struktur mit erheblichem Aufwand auf Vordermann
gebracht. Die Infrastruktur ist flexibler denn je. Das
Gas fließt nicht nur von Ost nach West und von Nord
nach Süd, sondern bei Bedarf in fast jede gewünsch-
te Richtung. Es ist so gut wie unmöglich, ein einzel-
nes Land von der Gasversorgung abzuschneiden.
Die Sorge, sich durch Nord Stream 2 in nicht vertret-
bare Abhängigkeit zu begeben, ist unbegründet.
Leitartikel
Schluss mit der
Realitätsverweigerung
Die Gaspipeline
Nord Stream 2
kommt ein Stück
voran. Das ist kein
Grund zur Sorge,
sondern ein
Schritt in
Richtung
Normalität, meint
Klaus Stratmann.
Die Sorge, sich
durch Nord
Stream 2 in
nicht vertretbare
Abhängigkeit zu
Russland zu be-
geben, ist unbe-
gründet.
Der Autor ist stellvertretender Büroleiter in Berlin.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
(^14) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211