Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1

Konjunkturtief in Deutschland


(^44) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211
Die Chemieindustrie zählt neben Automobil- und
Maschinenbau zu den deutschen Schlüsselbran-
chen. In diesem Jahr wird ihre Produktion kräftig
sinken, der Branchenverband VCI erwartet einen
Umsatzrückgang von fünf Prozent auf 193 Milliar-
den Euro.
Schuld ist die Weltpolitik. Nichts fürchten Unter-
nehmen mehr, als wenn das fein gesponnene glo-
bale Wirtschaftsgeflecht durcheinanderkommt.
Zahlreiche geopolitische Konflikte mindern die Zu-
versicht und Risikobereitschaft der Kunden. Belas-
tet wird das Geschäft der Chemiekonzerne insbe-
sondere durch den Brexit und den Handelsstreit
zwischen den USA und China, vor allem in China
selbst, wo BASF riesige Produktionsstandorte be-
treibt. Im Juli sei die Nachfrage etwa aus der Auto-
mobilindustrie abrupt eingebrochen, in Europa
wie in China, berichten Chemiemanager. Das wiegt
schwer, denn es ist die größte und wichtigste Kun-
dengruppe. Rund 20 Prozent des Geschäfts von
Firmen wie BASF und Covestro entfallen auf die
Fahrzeughersteller.
Zugleich zeichnete sich ab, dass die letzte kon-
junkturelle Lokomotive ebenfalls zu schwächeln
beginnt. Eine „deutliche Verlangsamung“ beobach-
tet Brudermüller in den USA. Beim größten US-
Chemiekonzern Dow Chemical ist der Gewinn im
dritten Quartal um 31 Prozent gesunken, der Um-
satz gab um 13 Prozent nach.
Prognosen für das kommende Jahr scheuen die
CEOs aus der Chemiebranche. Der konjunkturelle
Nebel ist zu dicht, das ist auch die Meinung von
Markus Steilemann, Chef des Leverkusener Kunst-
stoffherstellers Covestro. Der Dax-Konzern ist Welt-
marktführer bei Polyurethanen, das in Autositzen
oder Möbeln und bei der Isolierung von Gebäuden
und Kühlgeräten verwendet wird. Steilemann sieht
keine Besserung. Für eine realistische Prognose für
2020 sei es noch zu früh, sagt er. Der Branchenver-
band VCI wird erst Anfang Dezember seine Erwar-
tungen für das kommende Jahr veröffentlichen.
Doch schon jetzt ist zu hören, dass die Aussichten
für Deutschlands drittgrößten Industriezweig als
sehr gedämpft eingestuft werden.
Die Manager in der Chemie richten in einer sol-
chen diffusen Konjunkturlage ihren Fokus auf das,
was sie selbst beeinflussen können: die Kosten, die
angepasst werden müssen auf das neue, schwäche-
re Absatzniveau. Bei BASF fallen weltweit 6 000
Stellen weg, Covestro hat 900 Arbeitsplätze vor al-
lem in der Verwaltung gestrichen.
Es ist das Ende einer deutschen Erfolgsstory,
die fast zu schön war, um wahr zu sein: Als die Im-
mobilien- und Bankenkrise die Finanzwelt an den
Abgrund und die Weltwirtschaft in den kollektiven
Abschwung führte, rutschte Deutschland 2009
mit einem Fünf-Prozent-Negativwachstum in seine
schwerste Rezession der Nachkriegsgeschichte.
Doch während viele europäische Länder in einer
jahrelangen Schuldenkrise verharrten, erholte
sich die deutsche Wirtschaft prompt. Die Fülle an
exportstarken Unternehmen, die mit ihrem star-
ken Amerika- und Asiengeschäft nicht vom Wohl
der Nachfrage aus Europa abhängig sind, ließ
Deutschland zur Wachstumslokomotive des Kon-
tinents aufsteigen.
2018 fuhr Deutschland zum dritten Mal in Folge
den größten Exportüberschuss aller Staaten welt-
weit ein. Der deutsche Überschuss entspricht da-
mit 7,4 Prozent der deutschen Jahreswirtschafts-
leistung. In absoluten Zahlen ist das mehr als der
kombinierte Überschuss der beiden Zweit- bezie-
hungsweise Drittplatzierten, Japan und Russland.
Doch die deutsche Exportabhängigkeit wird in
Zeiten von Protektionismus, Handelsbeschränkun-
gen und einer schwächeren Weltwirtschaft zum
Problem. Nach jahrelang zweistelligen Wachs-
tumsraten sinken die Umsätze deutscher Konzer-
ne in China erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder.
Mit einem Umsatzanteil von gut 15 Prozent, das
sind jährlich knapp 200 Milliarden Euro, ist China
für die Dax-Konzerne nach den USA und Deutsch-
land der drittwichtigste Markt. Kein anderes west-
liches Industrieland ist so eng mit China verfloch-
ten wie die Bundesrepublik.
Die schwächere Weltkonjunktur und die inter-
nationalen Konflikte machen immer mehr deut-
schen Unternehmen zu schaffen, nicht nur in der
Chemiebranche. Im ersten Halbjahr gaben die
308 im „Prime Standard“ der Deutschen Börse
notierten Unternehmen nach Berechnungen der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY 54 Gewinn-
oder Umsatzwarnungen heraus. Das ist gut ein
Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum und zu-
gleich ein neuer Höchststand seit der Rezession



  1. Im Prime Standard notieren unter anderem
    alle Unternehmen aus den Indizes Dax, MDax,
    TecDax und SDax. Prozentual die meisten Ge-
    winnwarnungen kommen aus der Autobranche:
    Fünf der zwölf börsennotierten Autobauer oder
    Zulieferer mussten bereits ihre Prognosen nach
    unten korrigieren.
    Fast alle betroffenen Konzerne eint, dass sie
    mehr als die Hälfte ihrer Umsätze und Gewinne
    im Ausland erwirtschaften und deshalb besonders
    stark unter dem zurückgehenden Welthandel in-
    folge der Handelskonflikte leiden. Weitverzweigte
    Lieferketten erhöhen die Kosten, etwa wenn China
    Zölle auf in Amerika produzierte SUVs von Daimler
    und BMW erhebt. „Der Gegenwind nimmt zu“, be-
    obachtet EY-Partner Martin Steinbach, „zahlreiche
    Unternehmen mussten schon zu Beginn des Ge-
    schäftsjahres feststellen, dass ihre ohnehin nicht
    übermäßig optimistischen Prognosen doch nicht
    erreichbar sind.“


Ruhige Hand
Kanzlerin Angela Merkel
und Vizekanzler Olaf Scholz
(o.) setzen auf Gelassenheit
angesichts des Konjunktur-
einbruchs in Deutschland,
den unter anderem
US-Präsident Donald
Trump und Chinas Staats-
chef Xi Jinping (u.) mit
ihrem Handelsstreit aus-
gelöst haben.

APdpa,


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PROZENT
beim Umsatz
erwartet die deutsche
Chemiebranche
für das Jahr 2019.
Quelle: VCI
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