Focus - 09.11.19

(singke) #1

Fotos:


Fabrizio Bensch/REUTERS, imago


FOCUS 46/2019 47

schrammten, vor allem aber
die Thüringen-Wahl, bei
der die Mehrheit wie am
Ende der Weimarer Repub-
lik die Parteien des linken
und rechten Randes wählte,
machen einen Abgang von
Angela Merkel noch dring-
licher. Die Gründe, immer
noch abzuwarten, sind zahl-
reich, aber allesamt nicht
überzeugend. Der Neu-
aufbruch einer inhaltlich
profilierten CDU wäre der
Anfang vom Ende der AfD.
Die SPD könnte sich mit
der Zeit erholen, indem sie


  • vielleicht zusammen mit
    der Linken – eine sozialisti-
    sche Alternative gegen die
    Unionsparteien aufbauen
    könnte. In den schwierigen
    europäischen Debatten wür-
    de der französische Staats-
    präsident dann gewiss alles
    dafür tun, endlich wieder
    ein herzliches Verhältnis mit
    Berlin zu begründen. Und
    es würde nicht schwerfal-
    len, die Beziehungen zu den
    Staaten Osteuropas von der
    derzeitigen Unterkühlung
    auf eine passable Betriebs-
    temperatur zu bringen. Alles
    spricht für einen schnellen
    Wechsel.


D


er berühmte Chirurg
Ferdinand Sauerbruch
war ein glänzender
Operateur, aber auch
ein machtvoller Patriarch.
Am Ende versagten ihm die
Kräfte. Alle merkten das,
nur er selber nicht. Niemand
redete mit ihm, denn alle
hatten Angst. Und so kam
es zur berühmten Szene, als
endlich mitten in einer Ope-
ration sein Oberarzt ihm das
Skalpell aus der Hand nahm –
und er sich fügte.n

denen bestimmte Positionen
machtpolitisch nicht mehr
zu halten waren, keinerlei
Bedenken, schlagartig und
radikal die Seiten zu wech-
seln. So irritierte sie etwa
beim Atomausstieg und der
Abschaffung der Wehrpflicht
die eigenen Leute, nahm
aber damit den anderen Par-
teien die Möglichkeit einer
engagierten Gegenposition.
So konnte sie plötzlich libe-
raler sein als die Liberalen,
grüner als die Grünen, sozi-
aler als die Sozialdemokra-
ten – und wer aus welchen
Gründen auch immer gegen
die Bundeskanzlerin war,
fand im Parteienspek-
trum im Grunde nur noch
die AfD – mit allen schlim-
men Folgen, die diese Situa-
tion jetzt hat.
Keine Wahl zu haben, das
kennen Menschen im Osten
Deutschlands zur Genüge,
und deswegen ist es kein
Wunder, dass dort die Situ-
ation jetzt zuerst eskaliert.
Das hat auch psychologi-
sche Ursachen. Viele wer-
den einfach diffus wütend
sein, dass sie schon wieder,
was immer sie in der Wahl-
kabine ankreuzen, keinen
Regierungswechsel herbei-
führen können – weder im
Bund noch im Land. Angela
Merkel hat keine Bedenken,
solche Gefühle noch zu ver-
stärken, wenn sie nach einer
krachend verlorenen Wahl
auf die Frage, was sie denn
nun ändern würde, kühl ant-
wortet, sie sehe nicht, was
sie ändern sollte.

A


ngela Merkel hat
in der Flüchtlings-
krise schwere Fehler
begangen, vor allem
in der Kommunikation. Sie
fand dabei nie zu der Größe,
diese Fehler, die jeder sah,
einzugestehen, weil sie das
in ihrem Verständnis von
Macht geschwächt hätte.
Denn ihr Geheimnis war ja,
auf Druck nie zurückgewi-

Winston Churchill und zum
amerikanischen Präsiden-
ten Eisenhower mit seinem
Außenminister Dulles unter-
halten hätte, wenn Helmut
Kohl nicht mit François Mit-
terrand, George Bush und vor
allem mit Michail Gorbat-
schow persönliche Freund-
schaften gepflegt hätte.
Mit niemandem hat Angela
Merkel vergleichbare Bezie-
hungen. Sie wird allseits res-
pektiert, wie man die Macht
respektiert, aber damit allein
kann man keine fruchtba-
re Außenpolitik betreiben.
Und inzwischen ist auch die
Macht weitgehend dahin,
auf dem vergangenen
G7-Treffen hatte sie keine
bestimmende Rolle mehr.
Um die derzeitige politi-
sche Krise zu lösen, müsste
man, wie der Psychothera-
peut Paul Watzlawick für sol-
che Fälle vorschlug, „einen
Unterschied machen, der
einen Unterschied macht“,
es müsste das Undenkbare
geschehen: Die Kanzlerin
müsste gehen. Sie würde
damit dem Land und der
Demokratie im Land einen
großen Dienst erweisen.
Wichtig wäre, dass der oder
die Neue nicht krampf-
haft auf Kontinuität setzt,
sondern einen Neuanfang
macht. Wenn in der zent-
ralen Partei in Deutschland
wieder inhaltliche Positionen
sichtbar würden – gegen die
die anderen Parteien Sturm
laufen können, dann wäre
allen gedient.
Ob das geschehen wird,
ist fraglich. Die Kanzlerin
selber wird es wohl Pflicht-
gefühl nennen, warum sie
nicht zurücktritt. Doch spä-
testens nach der Europawahl
war klar, dass nur ein sol-
cher Schritt Besserung ver-
sprochen hätte, aber keiner
wagte sich aus der Deckung.
Die Wahlen in Sachsen und
Brandenburg, in denen die
Nicht-AfD-Parteien knapp
an der Katastrophe vorbei-

»


Sie kann nicht


reden, liest
vielmehr müh-
sam ab, kann

Menschen nicht
begeistern

«


Manfred Lütz
ist Psychiater,
Psychotherapeut
und Theologe. Er
leitet das Alexianer-
Krankenhaus in Köln

chen zu sein. Doch das funk-
tionierte plötzlich nicht mehr,
und so entpuppen sich jetzt
ihre machttaktischen Fähig-
keiten in der neuen Situa-
tion als politische Defizite.
Aber was jeder sieht, spricht
niemand aus. Zu dankbar ist
man noch für all das, was sie
zu Anfang symbolisierte.
Doch angesichts der dra-
matischen Krise, die sich
innen- und außenpolitisch
zuspitzt, kann sich niemand

mehr diese Rücksichten leis-
ten. Der Elefant im Raum
nimmt immer mehr Platz
ein. Mit der Nüchternheit,
für die man Angela Merkel
stets geschätzt hat, müss-
te man das Offensichtliche
erkennen: Es fehlen Angela
Merkel gerade für die der-
zeitige Situation wesentli-
che politische Fähigkeiten.
Sie kann nicht reden, liest
vielmehr mühsam ab, kann
Menschen nicht begeistern.
Im Osten ist sie zum Hassob-
jekt geworden, das in Wahl-
kämpfen versteckt werden
muss. International wirkt
sich jetzt katastrophal aus,
dass sie nicht in der Lage
ist, persönliche Beziehun-
gen zu wichtigen Persön-
lichkeiten aufzubauen und
zu unterhalten. Was wäre
mit Deutschland geschehen,
wenn Konrad Adenauer nicht
persönlich enge Beziehun-
gen zu Charles de Gaulle, zu
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