Focus - 09.11.19

(singke) #1
WISSEN NACHHALTIGKEIT

Der Wirtschaftsinformatiker und Philosoph


Walter Kahlenborn über den mühsamen und


langen Weg zur Green Economy


„Viele Menschen fühlen


sich übergangen“


D


as Klimapaket
der Bundesregie-
rung zeigt einmal
mehr, wie müh-
sam der Weg hin
zu einer nachhal-
tigen Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung
ist. Den einen ist der Preis für
CO 2 -Emissionen zu niedrig,
um überhaupt eine Wirkung
zu entfalten. Die anderen wür-
den am liebsten ganz auf eine
klimaschützende Politik ver-
zichten. Walter Kahlenborn hat
untersucht, wie der Wandel hin
zu einer ökologischeren Ge-
sellschaft gelingen kann.

In Ihrem Buch „Auf dem Weg zu
einer Green Economy“ schreiben
Sie viel über Pfadabhängigkeit.
Wie schaffen wir es, ausge-
tretene Pfade zu verlassen?
Pfadabhängigkeit bedeutet
nicht nur persönliche Gewohn-
heiten. Daneben gibt es viele
weitere Abhängigkeiten, die
Veränderungen verhindern:
rechtliche, ökonomische, kul-
turelle und institutionelle.
Sie alle sind eng miteinander
verwoben. Selbst wenn es ge-
lingt, an einer Stelle einen
Schnitt in das Netz der Abhän-
gigkeiten zu machen, kann es
sein, dass es die anderen Kräfte zusam-
menhalten. Die entscheidende Frage ist:
Löst sich das Netz immer weiter auf, oder
schließt sich der Schnitt wieder, und alles
bleibt wie bisher?
Haben Sie ein praktisches Beispiel?
Derzeit diskutieren wir viel darüber, wie
wir Menschen dazu bringen, vom Auto auf
den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen.
Aber wenn alle Leute morgen umsteigen
wollten, wäre das System gar nicht darauf
eingestellt. Es fehlt an Infrastruktur.
Wie brechen wir aus diesen Netzen aus?
Eine Möglichkeit sind tief greifende
Innovationen, die die technischen Rah-
menbedingungen komplett ändern –
sogenannte Sprunginnovationen. Bei-
spiele dafür sind Smartphones, die unse-
ren Alltag komplett geändert haben.
Auch Lithium-Akkus gehören dazu; sie
ermöglichen jetzt erst die E-Mobilität.
Bundesforschungsministerin
Anja Karliczek und Bundeswirtschafts-
minister Peter Altmaier wollen eine

Agentur für Sprunginnovationen
gründen. Funktioniert das?
Innovationssprünge kann man nur sehr
bedingt steuern. Nehmen Sie zum Bei-
spiel die Idee von einem Flugtaxi. Als
vor 100 Jahren das Flugzeug erfunden
wurde, hätte niemand gedacht, dass es
so lange dauern würde, um ein Fluggerät
zu entwickeln, das von einer Haustür zur
nächsten fliegt.
Wie sonst gelingt der Wandel?
Zum Beispiel durch massive Störfäl-
le, die ein bestehendes System infrage
stellen – etwa die Katastrophe in Fuku-
shima, die zum Atomausstieg in Deutsch-
land führte.
Und ohne solche Ereignisse?
Dann geht es nicht auf einen Schlag,
sondern nur schrittweise auf den ver-
schiedenen Strängen des Netzes.
Was bedeutet das konkret für
die Verkehrswende?
Für eine Verkehrswende genügt es
nicht, wenn wir nur die Spritpreise um

20 Cent erhöhen. Selbst wenn
alle Autofahrer von Verbren-
nern auf Elektroautos umstei-
gen, bleiben viele Mobilitäts-
probleme weiterhin bestehen.
Wir müssen unter anderem
auch die Straßenverkehrsord-
nung umkrempeln.
Um was zu erreichen?
Mehr Gerechtigkeit. Bis-
lang richtet sich auf unseren
Straßen alles nach dem Motto
„Freie Fahrt für freie Bürger“.
Wir bleiben freiwillig an der
roten Fußgängerampel ste-
hen, damit die Autos mög-
lichst schnell vorankommen.
Das ist für Fußgänger zutiefst
ungerecht. Warum gibt es
keinen „freien Gang für freie
Bürger“?
Auch die Energiewende
stockt. Derzeit werden
kaum noch neue Windkraft-
anlagen errichtet, weil Bürger
dagegen protestieren.
Wie lässt sich die Blockade-
haltung überwinden?
Da hat die Politik einfach zu
spät reagiert. Jede Gemeinde
hätte davon profitieren müs-
sen, dass auf ihrem Gebiet
eine Windenergieanlage steht.
Jetzt ist es schwierig, den
Hebel wieder umzulegen.
Viele graust es vor einer
„Verspargelung“ der Landschaft.
Das ist absurd. Heute sind weite Land-
striche längst auch ohne Windkraft ver-
schandelt. Viele Straßen zerschneiden
die Natur, Bäche wurden begradigt, und
Hecken verschwanden. Gleichzeitig ha-
ben wir eine biologische Wüste geschaf-
fen. Auf den Wiesen fliegen kaum noch
Vögel und Insekten.
Aber warum dann jetzt die Aufregung?
Die Windenergieanlagen sind ein
sichtbares Zeichen der Transformation
der Energieversorgung. Viele Menschen
fühlen sich dabei übergangen und emp-
finden eine gewisse Verunsicherung für
ihr eigenes Leben.
Was kann die Politik dagegen tun?
Die Politik muss der Gesellschaft eine
Vision geben, wohin die Veränderungen
führen sollen, welche Ziele sie haben.
Bisher hat sie versäumt, das den Bürgern
und Unternehmern zu erklären.n

HELMUT BROEG

Grüne Ideen
Walter Kahlenborn
ist Geschäftsführer
der Berliner Denk-
fabrik Adelphi

Foto:

Jan Philip Welchering für FOCUS-Magazin

82 FOCUS 46/2019

#voranbringen


Meine Nichte und ich engagieren


uns beide für den Klimaschutz.


Sie geht demonstrieren und ich


gehe zu Bayer.


Bärbel setzt sich dafür ein, dass Ackerböden mehr CO 2 speichern.


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