schließlich Arbeiter leben. Paris
begleitet einen Müllfahrer und
verbringt viel Zeit in Berliner
Kneipen, die jeden Tag in drei
Schichten gefüllt werden. Stark
sind ihre Porträts von Künstlern
und Schriftstellern der DDR und
die von Passanten am Alexander-
platz. Große Passepartouts iso-
lieren die oft nicht sehr großen
Abzüge aus den 1980ern, die
Menschen scheinen darin ebenso
gefangen wie behütet, die Häuser
abweisend und verwittert wie
Bergmassive.
Es ist ein nach innen gekehrtes
Land, dessen Menschen in Paris’
Aufnahmen immer als Persön-
lichkeiten gezeigt werden, nie als
Typen. Alle verfügen über eine je
eigene Würde. Wo außen wenig
passiert, sich in den Geschäften
die immer gleichen Waren sta-
peln, wo Autos und Kleider wenig
Varianten kennen, erscheinen die
Gesichter umso individueller.
Das echte Leben sitzt in den War-
tehallen und hinterm Tresen, es
lauert in den Augen und in der
Mimik. Unter dem Licht von 1917
(so alt und unrenoviert ist der
Leipziger Bahnhof im Jahr 1981)
trifft sich die Gesellschaft der
DDR und trinkt Pils. Manche sind
sogar im Sozialismus in Eile und
rennen durch den Bahnhof. Die
Serie „Leipzig Hauptbahnhof“ ist
hier zum ersten Mal überhaupt
zu sehen. Bekannter kommen ei-
nem die Porträts Ostberliner
Punks vor, die am Alex herum-
hängen, immer im Visier der Sta-
si, halbe Kinder noch. Einer ist
heute selbst ein bekannter Foto-
graf und Türsteher von Berlins
bekanntestem Klub: Sven Mar-
quardt. Heute eher Furcht einflö-
ßend mit all den Piercings, möch-
te man dem Teenager am liebsten
einen Kakao spendieren.
Die Offenheit und Zartheit der
Protagonisten einfangen, das
kann Paris fabelhaft, doch nicht
immer erreichten die Fotogra-
fien das Publikum, für das sie ja
eigentlich gemacht waren. Die
hundertteilige Serie „Häuser
und Gesichter“ fotografierte
Helga Paris 1983 bis 1985 in Halle,
die geplante Ausstellung wurde
1986 aber kurzfristig verboten.
Die Fragilität und morbide
Schönheit der verfallenden Alt-
bauten kollidierte mit dem
Selbstbild eines Staates, der
doch am liebsten nur heile Fassa-
den präsentiert hätte.
„Ich habe Halle fotografiert
wie eine fremde Stadt in einem
fremden Land – versucht, alles,
was ich wissen und verstehen
könnte, zu vergessen. So als hätte
ich beispielsweise Rom fotogra-
fiert“, sagte Paris später. Populär
waren ihre Bilder immer, doch
Paris’ erstes Fotobuch „Gesich-
ter. Frauen in der DDR“ von 1986
konnte man nur im Westen kauf-
en. Die relative Freiheit, die ihr
Beruf ihr verlieh, wurde konse-
quent genutzt. Helga Paris reiste
früh nach Bulgarien, nach Sie-
benbürgen, Georgien und nach
New York in den späten Achtzi-
gern, sie fotografiert 1991 ein sur-
reales Moskau, dessen Bewoh-
nern gerade der Boden unter den
Füßen wegrutscht, sie porträtiert
13-jährige Jugendliche in Hellers-
dorf und 2011 noch einmal den
Berliner Alexanderplatz, dann
legt sie die Kamera für immer
weg. Ihr Negativarchiv bekommt
nun die Akademie der Künste. Ei-
ne DDR-Fotografin?
Das ist sie so wenig wie Tho-
mas Ruff oder Herlinde Koelbl
BRD-Fotografen sind, aber es ist
natürlich auch ihre eigene
Schuld, wenn man sie so nennt:
So intensiv, so behutsam und ein-
drücklich schaut man 30 Jahre
später kaum in dieses ver-
schwundene Land.
THelga Paris. Fotografin.
Akademie der Künste am
Pariser Platz, bis 12.1.2020
DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 18. NOVEMBER 2019 KULTUR 21
Am 21.11. in
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