Die Welt Kompakt - 18.11.2019

(Tina Sui) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,18.NOVEMBER2019 WISSEN 25


D

ie Verführung ist für
Eltern mitunter so
groß wie für die Kin-
der. Bei einer langen
Autofahrt, wenn die Quengelei
auf der Rückbank immer nerv-
tötender wird. Im Restaurant,
wenn die hibbeligen Sprösslin-
ge eisige Blicke auf sich ziehen.
Nach Feierabend, wenn die er-
schöpften Erwachsenen einfach
nicht mehr können. Dann gibt
es ein Zaubermittel, das sofort
für Ruhe sorgt: Ein Handy oder
Tablet, den Kleinen in die Hand
gedrückt. Schon auf kleinste
Kinder üben die Geräte mit den
bunten, bewegten Bildern eine
schier magische Anziehungs-
kraft aus. Es kehrt Friede ein.
Bei den Eltern aber nagt oft
das schlechte Gewissen. Dass
zu viel Zeit vor Bildschirmen
gerade für kleinere Kinder und
deren Entwicklung schädlich
sein kann, ist bekannt. Doch
wie ernst muss man die War-
nungen nehmen?
Eine neurologische Untersu-
chung aus den USA gibt nun
Hinweise darauf, was im Gehirn
von Kleinkindern passiert, die
häufig mit digitalen Medien be-
schäftigt werden. Forscher am
Cincinnati Children’s Hospital
Medical Center haben gezeigt,
dass der Umgang mit Handy
und Tablet zu sichtbaren Defi-
ziten in der Hirnentwicklung
führt.
Für ihre Studie, veröffent-
licht im Fachmagazin „Jama Pe-
diatrics“diatrics“diatrics“,,untersuchten der Kin-
derarzt John Hutten und seine
Mitarbeiter 47 Kinder im Alter
zwischen drei und fünf Jahren.
Die Kinder kamen alle aus eng-
lischsprachigen Haushalten,
überwiegend aus der Mittel-
oder Oberschicht. Die Forscher
befragten die Eltern, wie viel
Zeit ihre Kinder in ihrem Leben
vor Bildschirmen verbracht
hatten. Dann bewerteten sie
mit einem Punktesystem, wie
gut die Eltern sich an die Emp-
fehlung der amerikanischen
Vereinigung der Kinderärzte
gehalten hatten. Nach dieser
Empfehlung sollten Kinder un-
ter 18 Monate keine Apps be-
nutzen oder Fernsehen schau-
en. Vorschulkinder im Alter von
zwei bis fünf Jahren sollten
höchstens eine Stunde am Tag
gemeinsam mit Erwachsenen
hochwertige digitale Medien
nutzen. Zudem sollten manche
Zeiten wie das gemeinsame Es-
sen grundsätzlich frei von digi-
talen Medien sein, auch im
Schlafzimmer sollte es keine
Bildschirme geben.
Anschließend machten die
Forscher mit einer speziellen
Form der Magnet-
resonanztomografie (DW-MRI)
Aufnahmen der Kinderhirne.
Mit dieser Methode lässt sich
die sogenannte weiße Substanz
im Gehirn messen. Sie besteht
aus Nervenfasern, die einzelne
Hirnregionen miteinander ver-
binden. Man kann sich die Ver-
bindungen wie Datenautobah-
nen vorstellen, über die die
Hirnzentren in Hochgeschwin-
digkeit miteinander kommuni-


zieren. Weiß sind die Fasern,
weil sie mit einer fetthaltigen
Substanz, dem Myelin, umman-
telt sind. Das Myelin isoliert die
Nervenzellen und beschleunigt
so die Verbreitung der Signale.
Je öfter die die Fasern stimu-
liert werden, desto mehr Mye-
lin bildet sich während der
Hirnentwicklung. Zu den ent-
scheidenden Entwicklungs-
schritten, etwa beim Sprechen,
kommt es, wenn die relevanten
Hirnbahnen ihre Myelin-Isolie-
rung ausgebildet haben.
Im Hirnscan fanden die For-
scher Defizite bei der Myelini-
sierung – und zwar umso stär-
ker, je weniger die Eltern sich
an die Empfehlungen zur Me-
diennutzung gehalten hatten.
Das betraf vor allem Areale, die
die Entwicklung von Sprache
unterstützen. Zudem war das
Netzwerk, das die verschiede-
nen Sprachareale miteinander
verbindet, weniger dicht. Pas-
send dazu schnitten die betrof-
fenen Kinder schlechter in
sprachlichen Tests ab. Sie
brauchten mehr Zeit, um Ob-
jekte zu benennen, sprachen
weniger ausdrucksstark, waren
insgesamt weniger weit in der
Entwicklung ihrer sprachlichen
Fähigkeiten.
„In einer einzigen Generati-
on ist die Kindheit digitalisiert
worden – und das verändert die
Art, wie Kinder spielen, wie sie
lernen und wie sie Beziehungen
zu anderen eingehen“, schreibt
John Hutten. Er vergleicht die-
se Entwicklung mit einem gi-

gantischen, unkontrollierten
Experiment. Seine Studie werfe
die Frage auf, ob die Bild-
schirmnutzung eine optimale
Stimulation während der rasan-
ten, grundlegenden Phase der
frühen Hirnentwicklung ver-
hindere. Allerdings handele es
sich bei seiner Studie, so räumt
er ein, um eine Momentaufnah-
me. Es sei noch nicht bewiesen,
ob die Mediennutzung wirklich
die Ursache der beobachten De-
fizite war und ob diese langfris-
tige Auswirkungen hätten.
Ein Tablet muss nicht unbe-
dingt direkt schädlich auf ein
Kleinkind wirken, könne aber
andere Stimulation verhindern.
„Das Hauptproblem ist in mei-
nen Augen, dass Kinder, die viel
Zeit vor Bildschirmen verbrin-

gen, weniger selbst sprechen
und weniger dem Sprechen an-
derer lauschen“, sagt Martin
Korte von der Technischen
Universität Braunschweig. Der
Professor für zelluläre Neuro-
biologie war selbst nicht an der
Studie beteiligt. Für die Ent-
wicklung des Gehirns sei es am
besten, wenn Eltern direkt mit
ihren Kindern agierten, diese
sich bewegten und Sport trie-
ben. Ähnlich formuliert es
Christian Montag, Leiter der
Abteilung Molekulare Psycho-
logie an der Universität Ulm
und ebenfalls nicht an der Stu-
die beteiligt: „Ein Zuviel an
Bildschirmzeit reduziert bei
Kindern die Gelegenheit für
echtes Spielen und dabei be-
sonders für körperlich betontes
Spielen.“ Solch ein „Rough and
Tumble Play“ genanntes Spiel-
verhalten sei bedeutsam für das
Entwickeln der Grobmotorik
und sozialer Kompetenzen.
Aber könnte der frühe Um-
gang mit elektronischen Gerä-
ten nicht auch günstige Effekte
haben? „Ich sehe keine Not-
wendigkeit von Bildschirmzeit
für ganz kleine Kinder“, betont
Neurobiologe Korte. Die Sor-
gen mancher Eltern, ihr Nach-
wuchs könne durch ein Vorent-
halten digitaler Medien in jun-
gen Jahren einen Nachteil ha-
ben, sei unbegründet. „Kinder
holen das später schnell nach.“
Christian Montag von der
Universität Ulm plädiert für
mehr Forschung. „Da in diesem
wichtigen Bereich aufgrund der

eher dürftigen Studienlage im-
mer noch viel spekuliert wird,
sind Studien wie die vorliegen-
de Arbeit bedeutsam“, erklärt
er. Zu viel Bildschirmzeit führe
beispielsweise zu weniger Mög-
lichkeiten, direkt mit den El-
tern zu sprechen und so die ei-
genen Sprachfähigkeiten zu
schulen – ein Aspekt, den Mar-
tin Korte noch erweitert: „Zur
Entwicklung von Sprache ge-
hört auch, die Gestik und Mi-
mik von jemandem zu beobach-
ten, der spricht.“ Umso wichti-
ger sei es, dass Eltern ihre Kin-
der ansähen, wenn sie mit ih-
nen sprächen, anstatt etwa aufs
Smartphone zu schauen.
Für Korte reiht sich die aktu-
elle Studie in eine Reihe von
Untersuchungen ein, die mögli-
che negative Folgen unserer in-
tensiven Nutzung digitaler Me-
dien ergeben haben. Er spricht
etwa das hohe Suchtpotential
an, das sowohl bei Kindern als
auch Erwachsenen festgestellt
wurde, die Schrumpfung des
Arbeitsgedächtnisses sowie die
Abnahme der Konzentrations-
fähigkeit durch Multitasking,
welches oft mit digitaler Me-
diennutzung verbunden ist.
In Deutschland raten Kinder-
und Jugendärzte, bei Kindern
unter drei Jahren keine Bild-
schirmmedien einzusetzen. Für
Martin Korte sind diese alles in
allem ein Werkzeug, bei dem es
auf die Art der Nutzung ankom-
me: „Die Dosis macht das Gift
und das gilt auch für digitale
Medien.“ DPA/BIH

FFFehlende Stimulation: Echtes Spielen ist nötig für die frühe Hirnentwicklung ehlende Stimulation: Echtes Spielen ist nötig für die frühe Hirnentwicklung

GETTY IMAGES

/THANASIS ZOVOILIS

Ausgebremstes


Kinderhirn


Tablets und


Handys gefährden


laut einer neuen


Studie die geistige


Entwicklung von


Kleinkindern.


Viel Zeit vor dem


Bildschirm könnte


die Bildung von


„weißer Substanz“


im Gehirn


hemmen

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