Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

D


er Mevlana Boulevard in Anka-
ra ist eine achtspurige Auto-
schneise. Hochhäuser rechts,
Hochhäuser links. Nachts sind
die Büros leer. Und so bemerkt
erst niemand, wie in einer Nacht im Mai
aus einem der Glastürme ein Mensch fällt.
Es ist kurz vor vier Uhr früh, als der Kör-
per der 23-jährigen Türkin Şule Çet auf ei-
ner Terrasse im ersten Stock aufschlägt.
Am Morgen wird sie gefunden. Die Ge-
richtsmediziner werden später sagen, sie
könnten nicht feststellen, woran sie ge-
storben sei, ob an dem Sturz aus dem



  1. Stock, der ihr Gehirn zerschmetterte,
    oder weil ihr schon vorher jemand das Ge-
    nick gebrochen hatte.
    Das hätte genügen können für einen An-
    fangsverdacht gegen die zwei Männer, mit
    denen sie den Abend in dem Glasturm ver-
    bracht hat. Es war der 29. Mai 2018, ihr Ge-
    burtstag. Einer der Männer war ihr Chef,
    Çağatay A., er hat der Staatsanwaltschaft
    diese Geschichte erzählt: Şule Çet habe
    ihm gesagt, sie wolle nicht mehr leben, und
    habe sich dann aus dem Fenster gestürzt.
    Selbstmord also. Er habe noch versucht,
    sie festzuhalten, vergeblich.
    Die zwei Männer haben keine Polizei ge-
    rufen, keinen Krankenwagen. Sie sind in
    ein Auto gestiegen und weggefahren. Zwei
    Nachtwächter in dem Gebäude haben das
    gesehen, haben gefragt: „Wo ist denn das
    Mädchen, das bei euch war?“ Berk A. ant-
    wortete, die sei schon gegangen, und frag-
    te zurück: „Habt ihr sie nicht gesehen?“
    Zwei Mal entscheidet ein Richter, dass
    die beiden Männer auf freiem Fuß bleiben.
    Sie werden nur als „Informanten“ gehört.
    Also Fall zu den Akten?
    So hätte es gehen könne,n und es wäre
    nicht ungewöhnlich gewesen für die Tür-
    kei, wo jeden Tag mindestens eine Frau
    durch die Gewalt eines Mannes stirbt. Er-
    schossen, erstochen, erwürgt. Zu Tode ge-
    treten. Jeder hier weiß, dass ein Suizid
    auch ein kaschierter Mord sein kann.


Der Justizpalast von Ankara ist ein grau-
es Gebäude von einschüchternder Größe.
Die Frauen, die vor dem Eingang einen
Pulk bilden, tragen Plakate in Zitronen-
gelb und Lila: „Gerechtigkeit für Şule Çet“.
Auf einem Foto ist eine junge Frau zu se-
hen, blonde kurze Haare, dunkle, fast
schwarze Augen, strahlendes Lächeln. Die-
ses Bild von Şule Çet steht jetzt für all die
anderen Frauen, deren Tod unaufgeklärt
oder unbestraft blieb. Frauengruppen, kon-
servative wie linke, haben es zum Protest-
symbol gemacht.Sie haben auch früher
schon demonstriert, wenn Frauen getötet
wurden, aber der Fenstersturz der Studen-
tin bewegt auch die ganz Jungen. Deshalb
rufen sie jetzt: „Wir wollen keine männli-
che, wir wollen echte Gerechtigkeit.“ Und:
„Wir schweigen nicht, wir haben keine
Angst, wir gehorchen nicht.“ Wenige Minu-
ten später drängen die Frauen in den gro-
ßen Saal des 31. Gerichts für schwere Strafta-
ten, füllen jeden Platz. Die Polizei öffnet ei-
nen zweiten Saal. Die Angeklagten stehen,
von einem Dutzend Gendarmen bewacht,
mit dem Rücken zu den Zuschauerbänken.
Dass es überhaupt einen Prozess gegen
Çağatay A. und Berk A. gibt, ist nach allem,
was getan wurde, um ihn zu verhindern,
fast ein Wunder. Die Anklage wirft den
Männern jetzt Mord, sexuelle Übergriffe
und Freiheitsberaubung vor. Bewirkt ha-
ben das die Frauenproteste, ein 29-jähri-
ger hartnäckiger Anwalt und ein Vater, der
wissen will, wie seine Tochter starb.
Ismail Çet ist 64 Jahre alt, ein schmaler
Mann mit dünnem grauen Haar und dun-
kelbraunen Augen, die an die seiner Toch-
ter erinnern. Zerbrechlich wirkt er. Er lebt
in Istanbul, dort sagt er vor einem der Pro-
zesstage im Oktober: „Selbstmord, Şule?
So etwas gibt es doch nicht.“ Çet ist Rent-
ner, er war Angestellter einer lokalen Ver-
waltung. „Ich bin ein einfacher Mann“,
sagt er, „ich habe nur Volksschule.“
Das Wohnzimmer der Familie Çet ist
mit großen geblümten Sofas zugestellt,
hier hat auch Şule lange gelebt, zusammen
mit ihrem Bruder, dessen Frau und deren
zwei Kindern. Die Wohnung ist nicht groß,
sie liegt in einem Viertel mit wenigen Bäu-
men und billigen Supermärkten. Die Stra-
ßen hier haben keine Namen, nur Num-
mern. Çets Mutter starb, als das Mädchen
dreizehn war. „Ich habe Şule neben ihrer
Mutter begraben“, sagt der Vater, „in unse-
rem Dorf“, in einer Schwarzmeerprovinz,
gut 900 Kilometer entfernt von Istanbul.
Menschen, die sich selbst getötet haben,
werden in der Türkei gewöhnlich nicht bei
ihren Familien, sondern anonym bestattet.
Ismail Çet spricht leise. Natürlich habe
der Tochter die Mutter gefehlt. Aber sie ha-
be auch gut auf eigenen Füßen gestanden.
Sie war die Einzige in der Familie, die stu-
dierte. „Sie war vom Studium begeistert,
und sie wollte arbeiten, das liebte sie.“ Den
Studienplatz in Ankara bekam sie über die
zentrale staatliche Aufnahmeprüfung, vier
Jahre Modedesign. „In diesem Jahr wäre
sie fertig gewesen.“ Um Geld zu verdienen,
hat sie nebenbei gekellnert. Das Café be-
trieb Çağatay A., der nun vor Gericht steht.
Fünf, sechs Lira die Stunde habe sie ver-
dient, etwa einen Euro. „Und er hat ihr
noch Geld geschuldet“, sagt der Vater.
An jenem Abend im Mai habe Çağatay A.
seine Tochter angerufen. Er habe ihr ge-
sagt, sie könne ihr Geld haben, wenn sie
vorbeikomme. Şule Çets Mitbewohnerin
hat das mitgekriegt und vor Gericht ausge-
sagt. Auch dass Çağatay A. gesagt habe, sie
könne sich ein Taxi nehmen, er werde das
bezahlen, weil es schon dunkel war.
Ismail Çet sagt, der Angeklagte habe ihn
an einem der ersten Tage im Gericht be-
schimpft, dass er besser auf seine Tochter
„hätte aufpassen müssen“. Dann sagt Çet,
was seiner Tochter geschehen sei, könnten
nur „böse Menschen“ tun.


Vier Tage lang wurde verhandelt, immer
mit wochenlangem Abstand dazwischen,
der Vater hat keinen Prozesstag versäumt,
auch wenn es für ihn unerträglich war, sich
anzuhören, was Gerichtsmediziner und
Spurensicherer berichteten.
Es ist ein Indizienprozess, die Angeklag-
ten weisen alle Vorwürfe zurück. Und so
geht es im Gericht um jedes Detail. Um die
Verletzungen an Çets totem Körper. Einris-
se in der Analregion, Druckstellen, Kratz-
spuren, Gewebepartikel unter den Finger-
nägeln. Einer der Verteidiger hat zu Pro-
zessbeginn behauptet, das Jungfernhäut-
chen von Şule Çet sei schon vor jenem
Abend nicht mehr völlig intakt gewesen.
Die Frauen auf den Zuschauerbänken ha-
ben gebuht, gepfiffen. Das taten sie auch,
als der Verteidiger sagte, Çet sei „aus freien
Stücken“ mit den Männern mitgegangen
und habe außerdem Alkohol getrunken.
Das sollte wohl heißen, sie sei mitverant-
wortlich gewesen für alles, was geschah.
Şule Çet hatte nur wenig Alkohol im
Blut, von zwei Bier. Aber offenbar auch ei-
ne betäubende Substanz.

Am vierten Verhandlungstag, dem 16. Ok-
tober, sagt der Angeklagte Çağatay A., die
bei Şule Çet festgestellten Verletzungen
stammten „ja vielleicht von einem vorher-
gehenden sexuellen Kontakt“. Da wird es
wieder laut im Zuschauerraum, der Rich-
ter hat Mühe, für Ruhe zu sorgen.

Çağatay A. ist 34 Jahre alt, er trägt im Ge-
richt einen eng geschnittenen blauen An-
zug und ein weißes Hemd. Sein mitange-
klagter Freund Berk A. ist 33 Jahre alt. Wei-
ßes T-Shirt, kein Jackett. Beide sind in Un-
tersuchungshaft. Çağatay A. wurde in
Handschellen hereingeführt. Er ist der
Selbstbewusstere der beiden, er sagt, er
würde sich wünschen, „dass hier das Fern-
sehen live überträgt“. Dann würden die
Leute ihm schon glauben, dass er unschul-
dig sei. Aber in türkischen Gerichtssälen
sind keine Kameras erlaubt.
An diesem Tag tritt Zeugin L. auf, die
Mitbewohnerin von Şule Çet. An sie hat Çet
noch kurz vor ihrem Tod mehrere Kurzmit-
teilungen geschickt. Der Richter erlaubt
auch dem Angeklagten Çağatay A., die Zeu-
gin zu befragen. Der will wissen, ob sie
nicht ein paar Mitteilungen gelöscht habe?
Alles korrekt, nichts gelöscht, sagt die Zeu-
gin. Sie muss es ein paar Mal wiederholen,
weil der Angeklagte dieselbe Frage immer
wieder stellt, als wollte er die Glaubwürdig-
keit der Zeugin erschüttern. Einige Freun-
de von Çet sollen aus Angst vor den Ange-
klagten ihre Mitteilungen gelöscht haben.
Die Zeugin L. aber hat alles gesichert und
ihr Handy dem Gericht übergeben.
Die letzte Whatsapp von Şule Çet in die-
ser Nacht lautet: „So eine Scheiße, ich hät-
te nicht hierherkommen sollen, Mensch.“
Da ist es 3.03 Uhr. Vermutlich war die
Freundin L., an die das ging, kurz vorher
eingeschlafen. Um 2.31 Uhr hatte sie noch
an Çet geschrieben: „Şule, schreib mir, ich
mach mir Sorgen.“ Dann reagiert L. erst
wieder um 6.49 Uhr morgens. „Şule“, tippt
sie, und eine Minute später: „Ich rufe die
Polizei und komme.“ Um 6.54 Uhr dann:

„Şule bitte antworte.“ Da ist Şule Çet schon
etwa drei Stunden tot.
Ein Whatsapp-Dialog als Beweis? Der
Verteidiger von Çağatay A. sagt: „In diesem
Prozess gibt es keine zweifelsfreien Beweis-
mittel.“ Umur Yıldırım sieht das anders. Er
ist der Anwalt der Familie Çet und hat da-
für gesorgt, dass Çets Handy ausgewertet
wurde, was wochenlang nicht geschehen
war. „Darauf fand sich nichts, was auf eine
Suizidgefährdung hingedeutet hätte“, sagt
Yıldırım in seinem Büro in Ankara.
Yıldırım klappt seinen Laptop auf, er
hat die Bilder einer Überwachungskamera
gespeichert, vor dem Aufzug im Gebäude.
Um 4.08 Uhr beginnt die Aufnahme, das ist
wenige Minuten nach dem Fenstersturz.
Berk A. sitzt auf dem Boden vor dem Auf-
zug, er wirkt, als sei er vollkommen fertig.
Zwei Promille Alkohol wird die Polizei
noch am Morgen bei ihm feststellen. Bei
Çağatay A. sind es drei Promille, aber der
steht aufrecht, raucht, wirkt gelassen, be-
merkt die Kamera und schaut weg. Die bei-
den Männer sprechen miteinander, der An-
walt wüsste gern, was sie da sagen. Angeb-
lich konnte das Gericht keinen Lippenleser
finden, um den Dialog zu entziffern.
Yıldırım hat jetzt selbst einen Experten auf-
getan, der Bericht ist noch in Arbeit.
Der Anwalt klickt durch eine Bildergale-
rie auf seinem Computer, Fotos der Spuren-
sicherung. Viereinhalbmeter vom Gebäu-
de entfernt lag die Tote, ihr rechter Arm
auf dem linken Schuh. „Das geht nur,
wenn der Schuh zuerst geworfen wurde“,
sagt Yıldırım. Wer begeht Suizid und wirft
erst einen Schuh aus dem Fenster? Der
zweite Schuh lag ein Stück weg vom Kör-
per. Auf ihm war kein Blutspritzer. Weil

man den Schuh nach dem Körper gewor-
fen habe, sagt der Anwalt. So steht es auch
im Bericht eines Gutachters der Erciyes-
Universität in Kayseri, den Yıldırım beauf-
tragt hat. Er sagt, zu Beginn der Ermittlun-
gen habe es viele Merkwürdigkeiten gege-
ben: Beweisstücke seien verschwunden, ei-
ne Staatsanwältin habe sich mehr für die
Baugenehmigungen des Hochhauses inter-
essiert als für die Männer. „Ich glaube, sie
wollte beweisen, dass Şule gestolpert und

aus dem Fenster gefallen ist.“ Die Bauge-
nehmigungen waren alle korrekt. „Zum
Glück“, sagt der Anwalt. Um aus dem Fens-
ter im 20. Stock zu gelangen, hätte man auf
einen kleinen Tisch steigen müssen, der da-
vor stand. Ein „Hinausstolpern“ war also
unmöglich. Eine Tatortbegehung mit den
Angeklagten sei unterblieben, sagt der An-
walt, „aus Sicherheitsgründen“. Der An-
walt findet die Begründung lächerlich.
Die Polizei sicherte die Alkoholflaschen,
die Staatsanwältin aber habe sie in ihrem
Bericht nicht erwähnt. Die Frau wurde ab-
gelöst, das immerhin hätten sie erreicht,
sagt Umur Yıldırım.
Er sagt auch, die Mutter von Çağatay A.
habe im Gericht erzählt, sie hätte „Leuten
Geld gegeben“, damit ihr Sohn freikommt.
Habe nichts genützt. Freikaufversuche
sind nicht selten bei türkischen Gerichten.
Es gibt ein Video auf Youtube, da wehrt
sich die Mutter gegen diesen Vorwurf. Sie

sagt auch, sie sei „nicht reich“, sie lebe in ei-
ner Mietwohnung. Und so geht es hier
eben auch ein bisschen um soziale Unter-
schiede, um Söhne, die teure Autos fuhren,
und um eine junge Frau, die für ihr Studi-
um kellnern musste. Ismail Çet hat erzählt,
die Familien der Angeklagten hätten ihm
im Gerichtssaal nicht kondoliert, das ma-
che man doch so, den Familien von Verstor-
benen Beileid wünschen.
Die Türkei ist ein reiches Land mit vie-
len Menschen, die gerade so durchs Leben
kommen. Im Fernsehen machen sie dar-
aus die immer gleichen Geschichten: Ar-
mes Mädchen trifft reichen Jungen. Nur
geht es gewöhnlich um Liebe und eher sel-
ten um Mord. Und wenn doch?
Der türkische Oppositionschef Kemal
Kılıçdaroğlu hat sich mit Vater Ismail Çet
getroffen, und auch Innenminister Süley-
man Soylu. Die Familienministerin ist in
dem Prozess jetzt Nebenklägerin. Das ist
nicht ohne Brisanz, schließlich werfen tür-
kische Frauenrechtlerinnen Präsident Re-
cep Tayyip Erdoğan und seiner konserva-
tiv-islamischen AKP vor, sie seien mit
schuld an einem gesellschaftlichen Klima,
das männliche Gewalttäter zu oft entschul-
dige. Das Problem der Gewalt gegen Frau-
en werde „übertrieben“, sagte Erdoğan
2011 auf einer Gewerkschaftsversamm-
lung. Die Zahl der Gewalttaten steige nicht,
es würden nur mehr Fälle bekannt. Frauen-
gruppen sehen das anders. Die türkische
Plattform „Wir werden den Femizid stop-
pen“ meldete 328 getötete Frauen im Jahr


  1. Im Jahr 2017 waren es demnach 409,
    im vergangenen Jahr 440.
    Ismail Çet hat auf die Frage, ob die Ge-
    sellschaft noch konservativer geworden
    sei, „ja, vielleicht“ gesagt. Er wisse davon je-
    doch zu wenig. „Aber es ist traurig, wie
    manche Männer die Frauen betrachten.“
    Irgendwann während des Gesprächs hat
    sich seine Schwiegertochter Songül zu ihm
    ins Wohnzimmer gesetzt. Songül ist 32,
    trägt Kopftuch. „Immer werden die Frau-
    en beschuldigt“, sagte sie, „sogar die, die
    schon tot sind.“


Die „Me Too“-Debatte hat die Türkei bis-
lang nur gestreift. Vielleicht, weil es in die-
sem Land, in diesem Teil der Welt noch so
viele Vorurteile gegen Frauen gibt. Zum
Beispiel, dass sie sich nicht in Situationen
bringen dürften, in denen sie Opfer wer-
den könnten, weil man sie dann eben
schnell mitverantwortlich macht. Dabei
sind es auch in der Türkei meist die eige-
nen Partner oder Freunde, die zu Tätern
werden. Die türkische Anti-Femizid-Platt-
form schreibt, von den 440 Frauen, die
2018 getötet wurden, seien zwei Drittel
durch die Gewalt ihrer Ehemänner, Freun-
de oder naher männlicher Verwandter ge-
storben.
Die Türkei ist damit keine Ausnahme. In
Frankreich traten vor Kurzem der Premier-
minister, der Innenminister und die Justiz-
ministerin vor die Presse und beklagten: Al-
le zwei, drei Tage werde eine Frau getötet.
Sie nannten die französische Gesellschaft
„gleichgültig, machistisch“. In Deutsch-
land, so steht es in einer Statistik des Bun-
deskriminalamts, versuchte im Jahr 2017
an jedem Tag ein Mann, seine Frau oder Ex-
Partnerin zu töten. 141 Frauen starben.
In Ankara spricht am vierten Prozesstag
der Gutachter aus Kayseri, ein großer
Mann, der die Haare zu einem kurzen Pfer-
deschwanz gebunden hat. Er hat einen Sta-
pel Papiere mitgebracht, zieht ein Doku-
ment heraus, hebt es in die Höhe, lässt es
zu Boden segeln. Es geht ums Fallen aus
großer Höhe. Und um Çets Kleidung. „Ihr
T-Shirt war hochgekrempelt.“ Auf Brusthö-
he. Das müsse jemand vor dem Sturz ge-
macht haben, sagt der Experte. Und dass
Çet mit dem Füßen voraus aus dem Fens-
ter fiel, das sagt er auch.
Der Anwalt der Verteidigung zweifelt
auch an diesem Gutachter, wie überhaupt
an allem, was die Zeugen sagen. Er spricht
von „Inquisition“ und dreht sich zu den Zu-
schauerbänken. Dann beklagt er die „Vor-
verurteilung“ durch die sozialen Medien
und fordert den Ausschluss der Öffentlich-
keit. Das Gericht lehnt das ab.
Çağatay A. bekommt in der Verhand-
lung vom Richter noch einmal das Wort. Er
sagt, sie hätten mit Şule Çet zusammen ge-
feiert, gesungen, „wie hätten wir sie zehn
Minuten später vergewaltigen können?“
Dann behauptet er, bei Çet sei „nichts ohne
Probleme gewesen“. Sie sei manchmal
nicht zur Arbeit erschienen, „weil es ihr
nicht gut ging“. Das aber hat ein Gutachten
schon entkräftet. Zuletzt sagt er noch: „Ich
weiß, dass ich freigesprochen werde.“
Der Richter ist ein grauhaariger Mann,
der so leise spricht, dass er weiter hinten
im Saal trotz Mikrofon oft kaum verständ-
lich ist. Er hat den Angeklagten lange re-
den lassen, quälend lang für viele der Zu-
schauerinnen. Die meisten von ihnen sind
kaum älter als die Tote.
Der Mitangeklagte Berk A. soll auch
sprechen, aber er ist eher einsilbig. Er hat
in einer der früheren Verhandlungen aus-
gesagt, er sei betrunken gewesen, habe
den Fenstersturz nicht gesehen.
Anwalt Yıldırım schließt seinen Auftritt
mit dem Satz: „Wir wollen, dass die Wahr-
heit herauskommt, ich glaube an die Ge-
rechtigkeit.“ Dafür gibt es Beifall. Der Rich-
ter mahnt erneut zur Ruhe, und es ist noch
nicht wirklich still, als er sagt, kaum hör-
bar, dass der Prozess am 20. November
fortgesetzt werde. Viele Frauen springen
auf und pfeifen. Sie hatten auf ein Urteil ge-
hofft. Polizisten umringen die Familien
der Angeklagten. Als die Mutter von
Çağatay A. aufsteht, wird sie angeschrien.
„Dein Sohn ist ein Mörder.“
Ismail Çet saß die ganze Zeit, umringt
von Frauen, in einer der vordersten Rei-
hen. Mit der Menge wird er aus dem Saal ge-
schoben. Er wirkt noch schmaler als sonst.

Der Verteidiger spricht von
„Inquisition“, will die
Öffentlichkeit ausschließen

Ihre letzte Nachricht, um 3.03 Uhr:
„So eine Scheiße, ich hätte nicht
hierherkommen sollen, Mensch.“

Das Problem der Gewalt gegen
Frauen werde „übertrieben“,
sagte Präsident Erdoğan 2011

Die Angeklagten weisen die


Vorwürfe zurück, und so geht es


um jedes Detail, jede Kratzspur


Der Fall der


Şule Çet


Erschossen, erstochen, erschlagen:


Jeden Tag stirbt in der Türkei eine Frau durch die Gewalt


eines Mannes. Konsequenzen? Fast keine.


Der Tod einer Studentin aber könnte das ändern


von christiane schlötzer


DEFGH Nr. 266, Montag, 18. November 2019 (^) DIE SEITE DREI 3
„Selbstmord, Şule?
So etwas gibt
es doch nicht“, sagt
Ismail Çet, der
Vater. Er kämpft
darum, zu wissen,
was wirklich
passiert ist in der
Nacht, in der
seine Tochter aus
dem 20. Stock
eines Büroturms
in Ankara stürzte.
Und vor allem:
wieso.
FOTOS: CSC; ILLUSTRATION:
STEFAN DIMITROV

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