Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

18 ANALYSE DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2019


D


er 1. November soll-
te für die EU eigent-
lich einen Neuan-
fang darstellen. Eine
neue Europäische Kommission
sollte ihre Amtszeit beginnen
und Großbritannien die Union
endlich verlassen haben. Statt-
dessen wabert ein Nebel der
Unsicherheit über Brüssel. Der
Start von Ursula von der Ley-
ens Kommission verzögert sich;
mindestens bis Anfang Dezem-
ber, womöglich aber bis ins
nächste Jahr. Und der Brexit
wurde erneut verschoben– of-
fiziell bis Ende Januar, mögli-
cherweise... Traut sich über-
haupt noch jemand, diesbezüg-
lich einen Tipp abzugeben?


VON LILI BAYER, HANS VON DER
BURCHARD UND CRISTINA GONZALEZ


Das Verharren im Schwebe-
zustand bedeutet, dass derzeit
niemand die Macht hat, drin-
gende Themen anzuschieben –
vom Klimawandel bis zur
künstlichen Intelligenz. Von
der Leyen mag zwar an vielen
Fronten kühne Pläne vorgelegt
haben, ihr fehlt aber weiter die
Macht, auch nur zu versuchen,
sie in die Tat umzusetzen. Der-
weil hat die Kommission von
Jean-Claude Juncker in den rei-
nen Verwaltungsmodus ge-
schaltet. Das Ziel: den Betrieb
am Laufen zu halten, ohne den
Nachfolgern auf die Füße zu
treten. Das Interregnum bedeu-
tet auch, dass EU-Beamte in un-
klaren Karrieresituationen fest-
stecken und die Lobbyisten der
Stadt – von Handelsinstitutio-
nen, Beratungsunternehmen
und NGOs – in der Warteschlei-
fe hängen, während sie auf die
neuen Entscheider warten.
Das EU-Parlament hatte drei


Kommissars-Kandidaten abge-
lehnt – aus Frankreich, Ungarn
und Rumänien. Frankreich und
Ungarn haben inzwischen neue
Kandidaten nominiert. Aber
Europas Problem Nummer eins
heißt im Moment Rumänien.
Dort ist die sozialdemokrati-
sche Regierung im Oktober
durch ein Misstrauensvotum
gestürzt worden.
Nun bekriegen sich dort die
Sozialdemokraten und die libe-
ral-konservative Partei, die mit
Ludovic Orban den neuen Mi-
nisterpräsidenten stellen will.
So verstreicht Tag um Tag, der


  1. Dezember ist jetzt schon
    kaum noch zu halten als Start-
    termin für die neue Kommissi-
    on. Denn auch wenn Rumänien
    sich auf einen neuen Kandida-
    ten einigt – dieser müsste sehr
    schnell vom Parlament bestä-
    tigt werden. Am 25. November
    schon will von der Leyen ihr ge-
    samtes Personaltableau dem
    Parlament vorlegen, um am 1.
    Dezember zu starten.
    Der scheidende Kommission-
    schef Juncker selbst hat seinen
    Kommissaren die derzeitige Si-
    tuation unmissverständlich
    klargemacht. „Wie in früheren
    Fällen beschränken sich die Be-
    fugnisse der Kommission in
    dieser Lage auf die Abwicklung
    laufender Geschäfte, basierend
    auf der Notwendigkeit, als Ver-
    waltungskommission Kontinui-
    tät zu gewährleisten“, schrieb
    er in einem Brief vom 25. Okto-
    ber, der dem europäischen Po-
    litmagazin „Politico“ vorliegt,
    das wie WELT zum Axel-Sprin-
    ger-Konzern gehört.
    „Während dieser Zeit werden
    wir die tägliche Verwaltung öf-
    fentlicher Angelegenheiten ge-
    mäß den Regeln der Union
    ebenso wie laufende Akten und


Verfahren weiterführen, ohne
die politischen Entscheidungen
der künftigen Kommission zu
beeinträchtigen.“ Mit anderen
Worten: Wir sind zwar im Amt,
wir haben aber nichts mehr zu
melden. Laut eines Kommissi-
onsbeamten wurde Mitarbei-
tern gesagt, dass sie jetzt in den
„stillen Modus“ wechseln und
nicht mehr über zukünftige Ak-
tivitäten sprechen sollten. Ein
EU-Diplomat beschrieb die ak-
tuelle Lage als „durch einen
Tunnel gehen“ mit „einem klei-
nen Licht am Ende“. Genau die-
ses Licht könnte weiter ent-
fernt sein, als es den Anschein
hat.
In politischer Hinsicht ist
der Stillstand ein massives Pro-
blem für die voraussichtlich
größte Schlacht in Brüssel im
Jahr 2020 – und zwar die um
den nächsten EU-Haushalt für
sieben Jahre, den mehrjährigen
Finanzrahmen. Von der Leyen
hat diverse Leuchtturmprojek-
te vorgeschlagen, die nicht in
der bisherigen Haushaltspla-
nung der Kommission enthal-
ten waren und erhebliche Fi-
nanzmittel erfordern. Dazu ge-
hören ein übergreifender euro-
päischer „Green Deal“, um die
EU bis 2050 kohlendioxidneu-
tral zu machen, ebenso wie spe-
zifische Vorschläge – etwa ein
Kompensationstopf für Kohle-
regionen, die auf erneuerbare
Energien umsteigen. In man-
chen Themenbereichen, wie
beispielsweise der künstlichen
Intelligenz, sehen Beamte und
andere wichtige Akteure einer
zusätzlichen Wartezeit von ei-
nem oder zwei Monaten gelas-
sen entgegen – sofern die neue
Kommission innerhalb einer
angemessenen Zeitspanne ins
Amt kommt.

Und für einige EU-Kommis-
sare birgt der Stillstand auch
die Chance, Projekte weiterzu-
führen, an denen sie jahrelang
gearbeitet haben, um ihre
Amtszeit mit einem Höhepunkt
zu beenden. So hat zum Bei-
spiel der Vizepräsident der
Energie-Union, Maros Sefcovic,
jetzt etwas mehr Zeit für den
Versuch, ein neues Gasabkom-
men zwischen Kiew und Mos-
kau abzuschließen.
Die Verzögerung bedeutet
auch, dass einige EU-Karrieren
pausieren, zumal diverse neue
Kommissare erst noch Schlüs-
selrollen in ihrem Kabinett fin-
den müssen. Einige Beamte im
Berlaymont-Hauptquartierder
EU-Kommission sehen sich
„mit Unsicherheit konfrontiert,
weil sie in neue Positionen ein-
steigen oder befördert werden
wollen“, aber noch nicht wüss-
ten, wer das Sagen hat, so ein
EU-Beamter. Ein anderer Kom-
missionsbeamter sagte aller-
dings, die Verzögerung sei des-
halb willkommen, gerade weil
sie mehr Zeit für die Besetzung
von Schlüsselpositionen ließe,
bevor die neue EU-Exekutive
übernimmt: „Es wäre ein Ge-
hetze gewesen, die Stellen bis
zum 1. November zu besetzen.“
Außerhalb der EU-Institutio-
nen fühlen sich einige derjeni-
gen, die dort Einfluss suchen,
frustriert. „Es gehört immer et-
was Frust dazu, wenn solche
Verzögerungen vorkommen,
weil alle Akteure Verbindlich-
keit bevorzugen. Also wollen
sie die Kommission so zeitnah
wie möglich eingerichtet wis-
sen, damit die gesetzgebenden
Dossiers das System durchlau-
fen können“, sagte Wes Himes,
Präsident der Gesellschaft der
Fachleute für Europäische An-

gelegenheiten. Lobbyisten ar-
beiten weiterhin mit Beamten
in der Kommission und anders-
wo zusammen, finden es jedoch
schwierig, sich ohne hochrangi-
ge Entscheider für ihre Interes-
sen einzusetzen. „Wir haben
keine Ahnung, mit wem wir uns
treffen können“, sagte ein Lob-
byist und fügte hinzu, dass es
ein „Führungsvakuum“ und ein
„Gefühl der nie endenden
Übergangsphase“ gebe.
Für einige Lobbyisten ist der
derzeitige Stillstand aber eine
Gelegenheit, sich besser auf die
neue Ära vorzubereiten. Karen
Massin, Chefin der Beraterfir-
ma BCW Brussels, sagte, die
Verzögerung habe ihrem Team
mehr Zeit gegeben, die Kunden
besser an die neuen EU-Priori-
täten anzupassen und die
Struktur der neuen Kommissi-
on zu analysieren, um zu ver-
stehen, wer die wichtigen Ent-
scheidungen trifft. Es könne je-
doch ein Problem für die EU
werden, wenn die Verzögerung
sich weiter hinziehe.
Ein Diplomat aus einem EU-
Mitgliedstaat schlug einen ähn-
lichen Ton an und sagte, dass
etwas Extra-Vorbereitungszeit
auf von der Leyens Kommission
durchaus hilfreich war. „In
Brüssel ist immer so viel zu tun,
also hole ich die Dinge nach, zu
denen ich vorher nicht gekom-
men bin“, sagte der Diplomat.

Mitarbeit: Laura Kayali und Kali-
na Oroschakoff

UUUrsula von der Leyen wurde im Juli zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt, am 1. November begann ihre Amtszeitrsula von der Leyen wurde im Juli zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt, am 1. November begann ihre Amtszeit

DPA

/ HEIKKI SAUKKOMAA

Gelähmtes


Brüssel


Niemand weiß, wann die neue


EU-Kommission ihre Arbeit


aufnehmen kann. Wichtige


Themen bleiben liegen


Gelähmtes


Brüssel


Niemand weiß, wann die neue


EU-Kommission ihre Arbeit


aufnehmen kann. Wichtige


Themen bleiben liegen


In Zusammenarbeit mit

Übersetzt aus dem Engli-
schen von Jessica Wagener.
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