Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,5.NOVEMBER2019 MAGAZIN 25


rern geprägt. Später kamen dann
osteuropäische Juden hinzu.
Ab den 70er-Jahren, als ganz
New York zunehmend im Chaos
versank, weil die Kassen leer wa-
ren, die Versorgung litt und die
Kriminalität um sich griff, wurde
auch dieser Teil der Heights, di-
rekt angrenzend an die Bronx,
vom städtischen Zerfall heimge-
sucht. Die Gegend östlich des
Broadways wurde zur Hochburg
des Drogenhandels. Die geografi-
sche Lage auf dem schmalen
Nordzipfel Manhattans machte
das Viertel zu einer Art Shop-
pingmall für Crack und Kokain.
Ob aus New Jersey oder aus der
Bronx, man konnte leicht über
die George Washington Bridge
nach Washington Heights einbie-
gen, seinen Kauf tätigen und
schnell wieder aus Manhattan
verschwinden. Wer immer dem
Drogenhandel in die Quere kam,
wurde kurzerhand beseitigt.
Alteingesessene Einwohner erin-
nern sich, dass es keine Selten-
heit war, morgens in den Trep-
penabgängen vor den Wohnhäu-
sern Leichen zu finden. Brave
Bürger begannen, sich Pistolen
anzuschaffen.
Bis weit in die 90er-Jahre hi-
nein blieben die Heights eine No-
go-Zone. Doch der Stadtteil er-
holte sich wieder. Die Nachbar-
schaft organisierte sich gegen die
Drogendealer. Korrupte Polizei-
wachen wurden aufgeräumt, die
Polizisten taten wieder ihre Ar-
beit, anstatt die Drogengangs zu
decken und mit ihnen zu koope-
rieren. So erleben die Heights
seit knapp 20 Jahren eine bemer-
kenswerte Renaissance. Nach
und nach werden sie als lebens-
wertes, interessantes Viertel wie-
derentdeckt.
Da ist zum einen die Land-
schaft, die einen bisweilen ver-
gessen lässt, dass man überhaupt
noch in New York ist. Als das
Straßenraster im 19. Jahrhundert
geplant wurde, ebnete man die
Insel bis zur 125th Street ein. Der
Norden Manhattans blieb jedoch
als hügelige Felslandschaft unbe-
rührt. In Washington Heights
kann man diese ursprüngliche
Topografie des vorkolonialen
Manhattan noch in den Parks er-
spüren, die das Nordende der In-
sel umranden. Im Osten, zum
Harlem River und der Bronx hin,
liegt der Highbridge Park, der so
wild ist, dass man in seinen Wäl-
dern die Stadt komplett vergisst.
Sogar ein Trailnetzwerk für
Mountainbikes gibt es hier und
seit Neuestem eine Fußgänger-
brücke hoch über dem Fluss in
die Bronx, die über ein altes
Aquädukt führt.
Nach Norden hin schließt sich
an den Highbridge Park der In-
wood Hill Park an, in dem man
ebenfalls durch hügelige Wälder
wandelt und immer wieder zwi-
schen den Bäumen Blicke auf die
Mündung des Harlem River in
den Hudson erhaschen kann. Die
holländischen Siedler nannten
die Mündung wegen der tücki-
schen Strömungen Spuyten Duy-
vil – den spuckenden Teufel. My-
then ranken sich um einen India-
nerfluch, der sich hier dafür


rächt, dass der Lenape-Stamm
mit ein paar Glasperlen um seine
Insel gebracht worden ist.
Und dann ist da natürlich der
Fort Tryon Park, den der Ölmilli-
ardär John Rockefeller für so
zauberhaft hielt, dass er ihn als
Bauland erwarb, und auf dem ein
Kloster mit originalen mittelal-
terlichen Gebäudeteilen aus
Frankreich errichtet wurde: The
Cloisters. Damit von dort aus der
Blick nicht durch moderne Bau-
ten gestört würde, kaufte er zu-
sätzlich das gesamte Ufer auf der
gegenüberliegenden Seite in New
Jersey auf, schenkte es dem Staat
und verfügte, dass es nicht be-
baut werden darf. Die einzige
moderne Struktur, die von hier
aus zu sehen ist, ist die George
Washington Bridge, die jüngste
und mächtigste der 20 Brücken
von und nach Manhattan.
Wenn man hier steht, kann
man sich gut vorstellen, wie die
Heights noch im 19. Jahrhundert
waren, bevor die U-Bahn kam
und die Stadt hier heraufwuchs.
Man kann noch immer spüren,
wie ländlich es hier oben gewe-
sen sein muss, als es außer Wäl-
dern und Landgütern nichts gab.
Einiger dieser Güter sind noch
erhalten. Da ist etwa die Morris-
Jumel Mansion über dem Harlem
River. Hier lebte George Wa-
shington, der spätere erste Präsi-
dent der Vereinigten Staaten,
während des Unabhängigkeits-
kriegs, als er keinen Kilometer
entfernt 1776 gegen die engli-
schen Truppen um New York
kämpfte. Oder die Hamilton
Grange im St. Nicholas Park, be-
reits im nahen Harlem und Sitz
des Unterzeichners der amerika-
nischen Verfassung und des Be-
gründers von Amerikas Stellung
als Wirtschaftsmacht, dem das
Broadway-Musical „Hamilton“
gewidmet ist.
Touristenmassen, wie ansons-
ten beinahe überall in Manhat-
tan, wird man hier vergeblich su-
chen. Washington Heights ist
noch ziemlich unentdeckt, die
20-minütige U-Bahn-Fahrt vom
Times Square schreckt die meis-
ten Besucher noch immer ab. Da-
bei verpassen sie ein Stück un-
verfälschtes New York.
Musicalkomponist Lin-Manuel
Miranda – heute der berühmteste
Heights-Bewohner – schätzt ge-
nau diese Atmosphäre. Er wohnt
in einem Apartment mit Hudson-
Blick am Cabrini Boulevard, in
unmittelbarer Nähe zum Fort
Tryon Park. Seit seinem Broad-
way-Hit „Hamilton“ ist Miranda
ein Superstar in der Entertain-
ment-Branche. Er könnte überall
hinziehen, ins hippe Brooklyn,
ins edle Village oder gleich nach
Hollywood. Doch Miranda möch-
te nirgendwo anders sein als in
dem wunderbaren Viertel, in
dem er groß geworden ist und
das sich so vieles bewahrt hat,
was anderswo in New York un-
wiederbringlich verloren ist.

TDer Autor lebt in New York.
Er ist Verfasser des jüngst
erschienenen „Dumont Reise-
Taschenbuchs New York“
(300 Seiten, 18,90 Euro)

können. Wer das einzige Welt-
kulturerbe des Landes besichtigt,
darf jedoch keine Tempel wie in
Mexiko und Guatemala erwarten.
„In Joya de Cerén lebte die nie-
dere soziale Klasse der Maya, die
Landwirtschaft betrieb“, erklärt
Guide Dionisio Mejía. Entspre-
chend bescheiden kommen die
Gebäudereste unter Schutzdä-
chern daher. Als klein, aber fein
lassen sich auch die Zeugnisse
der Mayas in anderen archäologi-
schen Parks beschreiben. Tazu-
mal, das mehr als ein Jahrtau-
send lang bewohnt wurde, hat
kulturelle Einflüsse aus dem heu-
tigen Mexiko. Verstörend ist der
moderne Überzug aus Zement
über dem eigentlichen Baumate-
rial aus Vulkangestein. Auch der
Opferaltar blieb nicht verschont.
In den 1940er-Jahren entschied
sich der US-Archäologe Stanley
Boggs für diese Maßnahme des
Erhalts – gut gemeint, aber ver-
heerend umgesetzt. Das ange-
schlossene Museum gibt Auf-
schluss über die schaurige Vereh-
rung des Gottes Xipe Totec. Ihm
zu Ehren wurde beim Fest
Tlacaxipehualiztli ein Kriegsge-
fangener gehäutet. Priester ver-
sahen daraufhin ein Bildnis der
Gottheit mit der neuen Haut-
schicht des Opfers.
Und dann sind da noch die
Vulkane. Über der Hauptstadt
thront der gleichnamige San Sal-
vador, ein schlafender Gigant.
Ein größerer Kraftakt ist die Be-
steigung des Santa Ana, mit
knapp 2400 Metern der höchste
Vulkan des Landes. Für die ge-
führte Wanderung vom Besu-
cherzentrum im Parque Cerro
Verde aus sind zwei Stunden zu
veranschlagen. Der für normal
fitte Wanderer harmlose Aufstieg
führt durch Wald und Gesträuch,
über Felsen, Wurzelwerk und
Geröll.
Die Aussicht vom Kraterrand
ist spektakulär. Die Farben der
Steilwände reichen von Pech-
schwarz bis Schwefelgelb. Der
See in der Tiefe leuchtet sma-
ragdgrün. Gase zischen aus Spal-
ten. Über dem Wasser wabern
Dämpfe. Der Wind modelliert sie
zu Säulen und jagt sie schließlich
in die Wolken. Nach dem Abstieg
freut man sich auf eine Rast im
Tal – und auf den kräftigen
Hochlandkaffee für neue Energie.

H


éctor Aguirre kann sich
ein Leben ohne das
schwarze Getränk kaum
vorstellen. „Seit meinem zweiten
Lebensjahr trinke ich Kaffee“,
sagt der 28-Jährige. „Hier gibt
man Kleinkindern Fläschchen
mit Kaffee, nicht mit Milch.“

VON ANDREAS DROUVE

Heute verdient Aguirre mit
dem Heißgetränk sein Geld, auf
der Farm El Carmen Estate im
Hochland von El Salvador. An
diesem Tag zeigt er den Besu-
chern des Landguts am Rand sei-
nes Heimatortes Ataco die Lager,
Maschinen und Fließbänder mit
der Qualitätsauslese. Dort sitzen
Frauen, die voll konzentriert die
guten Bohnen von den schlech-
ten trennen. Handarbeit unter
Neonlicht. Was daraus wird, prä-
sentiert Aguirre im Anschluss:
Spitzenkaffee.
So mancher hat vielleicht
schon Kaffee aus El Salvador ge-
trunken. Doch die wenigsten ken-
nen das kleine Land in Mittelame-
rika aus eigener Anschauung. Als
Reiseziel bietet es auf kleiner Flä-
che eine außergewöhnliche Viel-
falt abseits ausgetretener Touris-
tenpfade. Ataco, eines der schöns-
ten Dörfer des Landes, wirkt he-
rausgeputzt und bodenständig
zugleich. Schauwert haben zum
Beispiel die bunten zeitgenössi-
schen Wandmalereien. Und der
Zentralplatz mit seinen Hibiskus-
sträuchern und der Kirche
Inmaculada Concepción. Hier ist
der Tourismus auf dem Vor-
marsch, wie überall in El Salvador


  • wenn auch auf überschaubarem
    Niveau. Kunsthandwerksläden,
    kleine Galerien und die Webwerk-
    statt Casa de los Telares heißen
    Gäste willkommen.
    Noch ansehnlicher als Ataco
    ist Suchitoto im Herzen des Lan-
    des. Die Fassaden strahlen in
    Orange, Blau und Grün um die
    Wette. Sorgsam drapierte Blu-
    mentöpfe bilden hübsche Foto-
    motive. Vom Hauptplatz führt
    der Weg zu einer Frauenvereini-
    gung, dahinter befindet sich wie-
    derum eine Initiative gegen häus-
    liche Gewalt. Die Vorsitzende
    Ana María Menjíbar nimmt kein
    Blatt vor den Mund. Die 65-Jähri-
    ge beklagt den anhaltenden Ma-
    chismus und ruft Frauen dazu


auf, die Stimme zu erheben und
selbst aktiv zu werden. So ent-
stand auch die Werkstatt, der
zehn Frauen aus umliegenden
Gemeinden angehören. Wer
durch die kopfsteingepflasterten
Gassen Suchitotos streift, ent-
deckt neben Hauseingängen öf-
ters Graffiti mit dem Nationalvo-
gel Torogoz. Prangt der Vogel an
der Fassade, bedeutet das: Hier
gibt es keine häusliche Gewalt –
eine Kampagne der Frauenverei-
nigung.
In der Hauptstadt San Salva-
dor geht es naturgemäß trubelig
zu. Zigaretten- und Kaugummi-
verkäufer mit Bauchläden kämp-
fen im Verkehr um ihr tägliches
Auskommen. Schuhmacher wer-
keln in winzigsten Stuben. Die
Freiluftstände reichen bis zum
Nationalpalast und zum Platz
vor der Kathedrale. In deren
Krypta liegt der heilige Óscar Ro-
mero begraben, die nahe Kirche
El Rosario lockt mit symmetri-
schen, modernen Buntglasfens-
tern. Vielen Bauten in El Salva-
dor haben Vulkanausbrüche zu-
gesetzt. In einem Fall war dies
ausnahmsweise mal keine Kata-
strophe: Den Ascheschichten des
Vulkans Loma Caldera ist es zu
verdanken, dass Joya de Cerén,
ein Maya-Dorf aus dem siebten
Jahrhundert nach Christus, bis
zur zufälligen Wiederentdeckung
1976 wie in einer Blase erhalten
blieb. Die Bewohner des Dorfes
hatten sich rechtzeitig retten

Tazumal


und


Torogoz


Sehenswürdigkeiten
und Geschichten

aus El Salvador
sind in Europa fast

unbekannt. Dabei
hat das Land mit
Kaffee, Maya-Erbe

und Vulkanen
viel zu bieten

Eines der
schönsten
Dörfer des
Landes: In
Ataco ent-
wickelt sich
langsam der
Tourismus,
Souvenirstän-
de inbegriffen

DPA-TMN

/ ANDREAS DROUVE
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