Die Welt Kompakt - 05.11.2019

(Steven Felgate) #1
wo sie sich aufhielten. Die
Staatsanwaltschaften können
bei ausreichend Verdachtsmo-
menten Strafverfahren einlei-
ten und Rückkehrer an den
Flughäfen in Untersuchungs-
haft nehmen. Das ist nach Ein-
schätzung von Freier inzwi-
schen ein eingespieltes Ver-
fffahren.ahren.
So ähnlich lief es auch bei
der aktuell in Düsseldorf ange-
klagten Sarah O. Sie war aus
dem Herrschaftsgebiet des IS
geflohen, als sich die militäri-
sche Lage Ende 2017 verschärf-
te. Im Februar 2018 überquerte
sie die syrisch-türkische Gren-
ze und wurde von türkischen
Sicherheitskräften festgenom-
men. Ein halbes Jahr später
wurde die Angeschuldigte nach
Deutschland abgeschoben und
bei ihrer Einreise festgenom-
men. Das ist der Idealfall. Der
Ausbruch der Kämpfe in Nord-
syrien könnte zu einer unüber-

sichtlichen Lageführen. „Wir
können nicht ausschließen,
dass es einige wenige unkon-
trollierte Rückkehrer geben
könnte. Das ist eine große He-
rausforderung für die Sicher-
heitsbehörden in Deutschland
und Europa“, sagt der NRW-
Verfassungsschutzchef Freier.
Das bevölkerungsreichste
Bundesland ist besonders alar-
miert. Seit 2012 sind 260 IS-
Kämpfer aus NRW Richtung
Syrien oder Irak aufgebrochen.
Das ist etwa ein Viertel aller
bisher aus Deutschland ausge-
reisten IS-Kämpfer. Die Hälfte
der Islamisten aus NRW befin-
det sich nach Informationen
des Landesinnenministeriums
noch in den Krisengebieten.
Davon wiederum ist etwa die
Hälfte inhaftiert oder wird in
einem Lager festgehalten. „Es
geht auch um deren Familien,
die sich in Syrien gebildet ha-
ben. Bundesweit sind es 300 bis
400 Minderjährige, ein Teil ist
in den Krisengebieten im Irak
und in Syrien geboren“, sagt
NRW-Verfassungsschutzleiter
Freier. Bei einer Einreise deut-
scher Islamisten will man be-
sonders auf radikalisierte Frau-
en und Kinder achten. Von
weiblichen Rückkehrern gehen
nach Erkenntnissen der Sicher-
heitsbehörden ebenso große
Risiken aus wie von Männern,
weil sie die Szene vernetzen
und die Dschihad-Ideologie an
ihre Kinder und an andere
Frauen weitergeben. Es gehe
darum, „die Ausbreitung ihrer
Hass-Ideologie“ zu stoppen,
sagte NRW-Innenminister
Herbert Reul (CDU) kürzlich.

bisher Haftanstalten bewacht,
in denen sich auch viele der
ausgereisten IS-Kämpfer befin-
den. Durch den Druck des tür-
kischen Militärs und die Kämp-
fe können die Kurden die
Standorte nicht mehr wie bis-
her bewachen. Die westlichen
Sicherheitsbehörden befürch-
ten, dass IS-Kämpfer die Gele-
genheit nutzen und fliehen
könnten.
Die Sorgen sind berechtigt:
Nach Angaben der US-Regie-
rung sind mehr als 100 IS-An-
hänger aus einem Camp in
Nordsyrien ausgebrochen. Zu
ihnen soll auch der aus Ham-
burg stammende 39-jährige Fa-
tih K.gehören. Sein Anwalt
sagte WELT AM SONNTAG:
„Ausgebrochene IS-Kämpfer
sind unberechenbar und eine
echte Gefahr, auch für die Si-
cherheit in Deutschland. Die
Bundesregierung muss endlich
handeln.“ Ein Teil der Fanati-
ker aus Deutschland dürfte
nach Einschätzungen von deut-
schen Verfassungsschützern
für den IS in den Krisengebie-
ten weiterkämpfen. Einige
könnten sich auf den Weg Rich-
tung Westen machen und unter
die Zivilbevölkerung mischen,
die vor den kriegerischen Aus-
einandersetzungen flüchtet.
„Die Sicherheitsbehörden
haben angesichts der Lage in
Syrien darauf zu achten, dass
IS-Rückkehrer nicht unkon-
trolliert einreisen“, sagt der
Leiter des NRW-Verfassungs-
schutzes, Burkhard Freier,
WELT. Die meisten Ausgereis-
ten seien namentlich bekannt.
Bei etwa der Hälfte wisse man,

D


ie islamische Kon-
vertitin erscheint
unverhüllt und
setzt sich mit offe-
nen, hüftlangen Haaren und
grauem Businesskleid auf die
Anklagebank. Der Düsseldorfer
Gerichtssaal ist speziell gesi-
chert, schon zahlreiche Prozes-
se gegen Terroristen haben hier
stattgefunden. Die 21-jährige
Sarah O. aus Konstanz muss
sich seit Mitte Oktober vor
dem Oberlandesgericht Düs-
seldorf in Nordrhein-Westfalen
verantworten.


VON KRISTIAN FRIGELJ

Sie ist 2013 über die Türkei
nach Syrien ausgereist und hat
sich nach Erkenntnissen der
Bundesanwaltschaft in Karlsru-
he der Terrororganisation Isla-
mischer Staat angeschlossen.
Der Prozess findet unter Aus-
schluss der Öffentlichkeit
statt, weil Sarah O. zum Tat-
zeitpunkt nicht volljährig war.
Sie soll in Syrien den ebenfalls
aus Deutschland stammenden
IS-Kämpfer Ismail S. nach isla-
mischem Recht geheiratet ha-
ben. Die Ermittler erheben
schwere Vorwürfe gegen das
Ehepaar: Es soll Wach- und Po-
lizeidienste übernommen ha-
ben. Die beiden sollen Woh-
nungen bezogen und deren Ei-
gentümer getötet oder vertrie-
ben haben, um auf diese Weise
„den Gebietsanspruch des ,IS‘
zu festigen“, heißt es bei den
Anklägern. In ihrem Haushalt
sollen zwei Jahre lang ein jesi-
disches Mädchen sowie zwei je-
sidische Frauen „als Sklavin-
nen“ gehalten worden sein.
Dieses Verfahren zeigt ein-
mal mehr, vor welchen Heraus-
forderungen die westlichen Si-
cherheitsbehörden bei IS-Ter-
roristen stehen, die aus
Deutschland stammen. Reihen-
weise hat die Bundesanwalt-
schaft Ermittlungen gegen
Ausgereiste und Rückkehrer
eingeleitet und Anklage erho-
ben. Der Umgang mit diesen Is-
lamisten erhält angesichts des
aktuellen Einmarsches türki-
scher Truppen in Nordsyrien
eine neue Dramatik. Viele eu-
ropäische Regierungen zögern,
ihre Staatsbürger oder frühe-
ren Einwohner unter den ge-
fangenen IS-Kämpfern zurück-
zuholen und vor Gericht zu
stellen.
Die Türkei will einem Me-
dienbericht zufolge 20 inter-
nierte deutsche Anhänger der
Terrormiliz in die Bundesrepu-
blik zurückschicken. Das Bun-
desinnenministerium lehnt
bisher jedenfalls eine pauschale
Übernahme ab. Es gibt bei Si-


bisher jedenfalls eine pauschale
Übernahme ab. Es gibt bei Si-


bisher jedenfalls eine pauschale


cherheitsbehörden zudem die
Sorge, dass IS-Terroristen un-
erkannt zurückkehren. Von ih-
nen kann eine erhebliche Ge-
fahr ausgehen, weil sie gewalt-
bereit, im Umgang mit Waffen
ausgebildet und kampferfahren
sind. Als wichtiges Ziel gilt es,
Straftaten oder gar Anschläge
zu verhindern. Kurdische
Kämpfer haben in Nordsyrien


Verfassungsschutz, Jugendäm-
ter und Schulen sollen dabei
gemeinsam helfen. Eine ent-
sprechende Handlungsempfeh-
lung wird gerade erarbeitet.
Seit 2018 sind 13 Frauen und
33 Kinder nach NRW zurückge-
kommen, die besonders be-
treut werden müssen. Die IS-
Anhänger und -Kämpfer keh-
ren in Deutschland in der Regel
zu ihren Familien zurück. Da-
bei hat der Verfassungsschutz
folgende Erfahrung gemacht:
Ein Drittel der Familien hat die
Radikalisierung unterstützt, fi-
nanziell oder ideologisch, ein
Drittel bemüht sich um Deradi-
kalisierung, und etwa ein Drit-
tel steht dem gleichgültig ge-
genüber.
Wenn die Verdachtsmomen-
te der Staatsanwaltschaft nicht
ausreichen und eine Festnah-
me bei der Einreise nicht mög-
lich ist, werden diese Personen
von Polizei und Verfassungs-
schutz eng überwacht. Sie wer-
den als „Gefährder“ oder als
gewaltorientierte Personen
eingestuft. In einem nächsten
Schritt wird eine Gefährderan-
sprache vorgenommen, und
der Verfassungsschutz ver-
sucht, sie für Aussteigerpro-
gramme zu gewinnen, damit sie
sich deradikalisieren.
Momentan sind in NRW 249
Personen als „Gefährder“ ein-
gestuft – deutschlandweit sind
es 688. In NRW sitzen momen-
tan 45 Islamisten in Haft. Auch
bei ihnen versucht man, von ih-
rer Ideologie abzubringen und
von einem Ausstieg zu über-
zeugen. Das ist noch schwerer
als bei denjenigen, die frei sind.

Sarah O. wird in Düsseldorf von Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt

DPA

/ DAVID YOUNG

Die Angst der Behörden vor


der Rückkehr derIS-Anhänger


Sicherheitsexperten


fürchten, dass


freigekommene


IS-Terroristen


von Syrien nach


Deutschland


zurückkehren.


Nordrhein-Westfalen


will nun besonderes


Augenmerk auf


eine Gruppe legen


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