4INTERNATIONAL Freitag, 1. November 2019
Dänemark raubte Inuit-Kindern die Zukunft
Jahrzehnte nach einem gescheiterten kolonialistischen Bildungsexperiment für Grönländer wagt sich Kopenhagen an eine Bewertung
RUDOLF HERMANN
«Mutter hat nichtrecht gehabt», dachte
HeleneThiesen, als sich ihr Schiffin
derDämmerung eines Sommertags in
der Mitte des letztenJahrhunderts dem
Hafen vonKopenhagen näherte. «In
Dänemark gibt es ja doch Berge.» Am
Horizont nämlichkonnte sie deutlich
Umrisse von Erhebungen ausmachen.
Erst beim Näherkommen stellte sie fest,
dass es sich nicht um Berge,sondern um
Bäume handelte.Woher auch hätte sie
wissenkönnen, dass es so hoheBäume
gibt? In Grönland, wo Helene, damals
ein Kind vonsiebenJahren, bisher auf-
gewachsen war, gab es sie nicht.
Von diesem Erlebnis sollte Helene
Thiesen erstJahrzehnte späterdäni-
schen Medien und der britischen BBC
erzählen. Denn die Begebenheit hängt
mit der schwierigsten Zeit zusammen,
die sie als Kind zu bewältigen hatte und
die sie für ihr Leben zeichnen sollte.
Mehr als vierzigJahre lange hatte sie zu-
dem nicht einmal gewusst, dasssieTeil
einessozialen Experiments war.
Muttersprache verlernt
Man schrieb dasJahr1951. Das König-
reichDänemark, das vor über zweihun-
dertJahren auf Grönland eineKolonie
gegründet hatte und die Insel seither für
sichbeanspruchte,hatte sich vorgenom-
men, die hauptsächlich jagenden und
fischenden grönländischen Inuit in die
Moderne zu führen. Den Anfang soll-
ten Primarschüler machen, die dänische
Pädagogen als begabt einstuften: Die
Kinder im Alter zwischen sechs und
zehnJahren sollten einige Monate nach
Dänemark gebracht werden, wo ihnen
die dänische Sprache und die Grund-
lagen einer europäischen Erziehung ver-
mittelt werden sollten. Zurück in Grön-
land, würden sie dann zu einerFüh-
rungsschicht heranwachsen.
Helene Thiesen war eines die-
ser grönländischen Kinder, für die das
Experiment zumAlbtraum wurde. Vo n
Anfang ankonnte sie nicht begreifen,
weshalb sie von ihrer Mutter getrennt
im fernenDänemark leben sollte. Mit
ihrer ersten Pflegefamilie kam sie nicht
zurecht, sie litt an Heimweh und sprach
kaum. In einer zweitenFamilie ging es
besser, doch die Sehnsucht nach Mut-
ter und Geschwistern blieb. Der grosse
Schockaber kam, als sie und ein gutes
Dutzend anderer Kinder des Experi-
ments nach rund anderthalbJahrennach
Grönland zurückkamen.
Thiesen hatte ihre Muttersprache
verlernt, siekonnte sich mit den eigenen
Angehörigen nicht mehr unterhalten.
Schlimmer noch,sie durfte nichteinmal
mit ihnen leben.Das Dänische Rote
Kreuz, das zusammen mitRedBar-
net, dem dänischen Ableger der inter-
nationalen Nichtregierungsorganisation
Save the Children, für die Abwicklung
des Experiments zuständig war, hatte in
der grönländischen Hauptstadt Nuuk
ein Heim errichtet, in dem die künftige
Elite unter sich bleiben sollte. So sollte
die «dänische Erziehung» nicht verwäs-
sert werden. DenFamilien der Kinder
wurde einmal proWoche ein Besuchs-
recht zugestanden.
Das Experiment scheiterte krachend.
Einige der22 betroffenen Kinder star-
ben als junge Erwachsene; sie verkraf-
teten die Entwurzelungnicht. Die ande-
ren sind lebenslang gezeichnet.Wenige
blieben dauerhaft in Grönland, und die
ihnen aufgezwungene dänische Erzie-
hung führte zukeinem erkennbaren ge-
sellschaftlichen Nutzen.
HeleneThiesen sagte in Interviews,
sie habe seit damals schwere psychische
Probleme. Erst1996 habe sie erfahren
- und dies nicht vom Staat direkt, son-
dern von einer interessierten Privatper-
son –, dass sie für ein soziales Experi-
ment missbraucht worden war.
Dieses Experiment steht für ein düs-
teres Kapitel des dänischenKolonialis-
mus, wiewohl es von der Absicht her
besser gemeint war als der verwerfliche
Umgang mit Indigenen anderswo in der
Welt. In Nordschweden etwa wurden
bis in die1960erJahre Kinder aus der
Sami-Urbevölkerung von ihren Eltern
getrennt und in sogenannte Nomaden-
In ternate gesteckt, die von der Kirche
geführt wurden und aufrassenideolo-
gischerBasis standen. Ähnliches ge-
schah im gleichen Zeitraum inAustra-
lien mit Kindern der Urbevölkerung,
die zwangsweise assimiliert wurden und
heute als die «gestohlenen Generatio-
nen» bekannt sind.
Entschuldigungsteht aus
DasDänische Rote Kreuz und die
NGORed Barnet baten die betroffe-
nen Grönländer später um Entschul-
digung.Von derRegierung indes steht
eine solche nach wie vor aus.Immerhin
hat imFrühling diesesJahres die dama-
lige liberalkonservativeRegierung von
Lars LökkeRasmussen Hand geboten
zurKonstituierung einer dänisch-grön-
ländischen Expertenkommission, die bis
Mitte nächstenJahres einen Bericht zum
«Experiment» abliefern soll.LautRas-
mussens Sozialministerin Mai Mercado
soll es darin jedoch nicht um eineAus-
einandersetzung mitder Schuldfrage
gehen, sonderndarum,«Lehren aus der
Geschichte zu ziehen», wie Mercado
gegenüber Medien sagte. Dänemarks
neue sozialdemokratische Ministerprä-
sidentin MetteFrederiksen hat signali-
siert,allenfalls zu einer offiziellen Ent-
schuldigung im Namen des Staates be-
reit zu sein. Dazu will sieaber dieFertig-
stellung des Expertenberichts abwarten.
Auf verwaltungstechnischer Ebene
istDänemarkskolonialeVergangen-
heit längst aufgearbeitet. Grönland ist
seit 1953 keineKolonie mehr, sondern
ein eigenerTeil desKönigreichs mit zu-
nehmend grössererAutonomie. Seit der
letzten Erweiterung derVerwaltungs-
kompetenzen 2009 kann dieFührung in
Nuuk mitAusnahme von aussen- und
sicherheitspolitischenFragen über alle
Aspekte des politischen und wirtschaft-
lichen Lebens selber bestimmen.
Das Problem aber, dass sich viele
grönländische Schülerinnen und Schü-
ler ihre Bildung auch heute noch oft
Hunderte oderTausende Kilometer von
zu Hause entfernt verdienen müssen,
ist geblieben.Das grönländische Schul-
system sieht zwar eine zehnjährige
Schulzeit für alle vor, doch die drei-
jährige Oberstufe kann nur in grösse-
ren Orten, ein Gymnasium sogar nur
in vierregionalen Zentren der riesigen
Insel besucht werden: in Nuuk,Aasiaat,
Sisimiut und Qaqortoq. In diesen vier
Orten an GrönlandsWestküste wohnt
zwar rund die Hälfte der Inselbevöl-
kerung.Das heisst aber zugleich, dass
die Schulkinder der anderen Hälfte ihr
Elternhaus schon mit dreizehnJahren
verlassen müssen, um auch nur die
Volksschule beenden zukönnen.
Wiezum Beispiel die heute zwanzig-
jährigeEmilie Madsen aus Ittoqqortoor-
miit, der vielleicht abgelegensten Ge-
meinde Grönlands.Als sie an die Mit-
telschule nach Nuuk wechselte,bedeu-
tete dies nicht nur eine Luftliniendistanz
zu dem ihr vertrauten Zuhause von 1500
Kilometern, sondern auch eine teure
Reise per Helikopter und Flugzeug –
und das erst noch mit dem Umweg über
Island, weilkeine direktenVerbindun-
gen existieren. Unter solchen Umstän-
den ist ein Besuch zu Hause nicht mehr
als zweimal proJahr möglich.
Die Insel hatschlechte Karten
Anders als HeleneThiesen traf Emilie
Madsen den Entscheidzum Besuch der
Oberstufe im fernen Nuuk aus eigenem
Antrieb, wie aus einerReportage der
dänischen SendeanstaltDRhervorgeht.
Freiwillig entschied sie sich nach der
zehnten Klasse auch für einen Sprach-
aufenthalt inDänemark, was eineVor-
aussetzung für den Besuch einer weiter-
führenden Schule war – ob inDänemark
oder Grönland.
Seit dem Experiment der däni-
schen Regierung mit den grönländi-
schen Schulkindern hat sich in Grön-
land im Erziehungsbereich viel verän-
dert. Nicht zuletzt ist es inzwischen mög-
lich,eine tertiäreAusbildung wenigstens
in gewissen Studienfächern in Grönland
zu absolvieren.Tr otzdem kämpft die
Regierung damit, gut ausgebildete junge
Grönländer auf der Insel zu halten oder
sie nach einemAuslandaufenthalt wie-
der nach Hause zu bringen. Denn mit
den strukturellen Nachteilen, denen sich
Grönlands Bildungswesen und Arbeits-
markt ausgesetzt sieht, hat die Insel in
einer zunehmend globalisiertenWelt
schlechte Karten.
Trotz verbesserter Bildung sinddie Zukunftsaussichten der Kinder in Grönland auch heute nochschlecht. EDUCATION IMAGES / GETTY
Der König von Eichsfeld
In dem katholischen Ort wollte der Thüringer AfD-Spitzenk andidat Björn Höcke ein Zeiche n setzen – stattdessen triumphiert CDU-Mann Thadäus König
ANJASTEHLE, HEILBAD HEILIGENSTADT
Die Menschen auf dem Marktplatz blei-
ben stehen, klopfen ihm auf die Schul-
ter. Schon aus derFerne rufen sie sei-
nen Namen.König bedankt sich, schüt-
telt Hände, lächelt ein Ich-bin-einer-von-
euch-Lächeln.Vor derLandtagswahl in
Thüringen warKönig der Unbekannte in
einemDuell, auf welches das ganzeLand
blickte. ImWahlkreisEichsfeld I imThü-
ringer Nordwesten kämpften der CDU-
Kandidat und Björn Höcke um das Direkt-
mandat. Höcke,der prominente AfD-
Rechtsaussen, gegenThadäusKönig. Es
ging um den Sieg übereinen, der es selbst
innerhalb der AfD noch schafft,Tabus zu
brechen. Es ging um den Sieg über Höcke
und sein Ansinnen, in der CDU-Hochburg
Eichsfeld einen Coup zu landen.
DerBodenständige
Sonntagabend, 18 Uhr. König wartet
mit seinerFrau undFreunden in seinem
Wahlkreisbüro in derFussgängerzone
von Heiligenstadt auf die erste Hoch-
rechnung. Er muss zittern. Erstam spä-
ten Abend die Erleichterung: Er hat es
geschafft, 49 Prozent stimmten für ihn,
21,4 Prozent für Höcke.Er und seine
Freunde stossen an, mit Bier. König ist
«kein Sekttrinker».
Durch und durch verkörpert der
37-Jährige das Bodenständige. Königs
eckige Brille ist das, wonach man greift,
wenn man nicht auffallen will. Seine
braunen Lederschuhe zeugen von Stun-
den amWahlstand auf der Kirmes, vor
der Sparkasse, in den Gassen der Eichs-
felder Dörfer. König ist in Heiligenstadt
geboren und hiergeblieben. Mit 19 Jah-
ren tritt er in die CDU ein, zum Studium
derPolitikwissenschaften zieht er nach
Jena. Sein Hauptwohnsitz bleibt Heili-
genstadt. 20 19 kommt er als Nachrücker
für die CDU in denLandtag.
Nun, dreiTage nach derLandtagswahl,
wirkt er wie ein Beamter,der bloss sei-
ner Staatspflicht nachgekommen ist.Viel-
leicht würden das imLandkreis auch ei-
nige so sehen. Mit der CDU und Eichsfeld
verhält es sich ein bisschen wie mit der
CSU undBayern. Dass die katholischge-
prägten Eichsfelder CDU wählen,schien
immer wie eineGesetzmässigkeit.Dann
aber kam Höcke, zog mit seinerFamilie
ins benachbarte Bornhagen und meldete
schliesslich seine Kandidatur an.«Und
plötzlich haben alle gedacht, das Eichsfeld
ist AfD-Land», sagtKönig. Die AfD hat
viel Geld in HöckesWahlkampf gesteckt,
in unzähligeFeste und Flyer. Warum hat
esKönig trotzdem geschafft? Man ver-
steht es besser nach einer Zugfahrt von
Erfurt in die Kreishauptstadt. Im Gast-
haus Sankt Martin neben dem Heiligen-
städter Marktplatz sitzen zur Mittagszeit
ältere Ehepaare und eine jungeFamilie.
An derWand ein Kreuz mit Kalender-
spruch: «Gotthat uns die Zeit geschenkt,
von Eile hat er nichts gesagt.»WirtinVera
Grebenstein tischt ganze Gänse mitRot-
kohl auf, dazu den EichsfelderFörster-
tropfen, ein Kräuterlikör.
Nicht mit derLinken
«Hier gilt noch:Was derBauer nicht
kennt, isst er nicht», sagt Grebenstein.
Sie würde in derKüche gerne experi-
mentieren, aber in Heiligenstadt ist das
eine Gratwanderung. «Der Eichsfelder
magkeineVeränderung», sagt sie.Über
70 Prozent der Menschen imLandkreis
sind katholischen Glaubens. Eichsfeld ist
eine katholische Enklave, das schweisst
zusammen.Während des Nationalsozia-
lismushatte es die NSDAP schwer, die
Menschen wählten lieber das Zentrum.
Später in der DDR hatte die SED zu-
nächst kaum Anhänger. Heiligenstadt,
das erzählt man sich imWirtshaus, ist
so katholisch, dass diePolizei während
der Sonntagsmessebei falsch parkier-
tenAutos rund um die Kirche immer ein
Auge zudrückt. Es istso katholisch, dass
die Kirche während einesWahlkampf-
auftrittes von Höcke die Glocken läuten
liess, und man den AfD-Politiker nicht
mehr hörenkonnte, so jedenfalls erzählt
man es sich imWirtshaus.
Die Aggressivität an denWahlkampf-
ständen habe zugenommen, sagtKönig.
Wasihn aber so richtiggeärgert hat,das
war HöckesWahlkampfspruch«Wende
2.0.». Höcke habe mit Blick auf die Zu-
stände imLand gesagt, dafür sei er 1989
nicht auf die Strasse gegangen. «Höcke
war zum Zeitpunkt unserer friedlichen
Revolution 17 Jahre alt und hat in Rhein-
land-Pfalz maximal vormFernseher ge-
sessen und zugeschaut», ärgert sich
König.Allzuinvolviert in dieRevolution
dürfteKönig zwar auch nicht gewesen
sein, er war erst 7Jahre alt, aber er habe
«mitbekommen, was es für die Menschen
bedeutet hat, was sie riskiert haben».
Auch das war Eichsfeld: eine Grenz-
region. DerWesten war nahe, aber auch
die Erfahrungen am Grenzstreifen.König
findet, das schärfe den Blick auf die SED-
Diktatur. Die Eichsfelder sollten deshalb
gegenüber der Linken skeptisch sein. Der
Vorstoss von CDU-Spitzenkandidat Mike
Mohring, mit der Linken zu sprechen, hat
König «sehr irritiert». Seine Botschaft:
«Das mach ich aufkeinenFall mit.»
ThadäusKönig
PD CDU-Politiker