Neue Zürcher Zeitung - 01.11.2019

(Brent) #1

Freitag, 1. November 2019 INTERNATIONAL


Die EssenerTafel nimmt nun bevorzugtAlleinstehende über fünfzigJahre sowie Alleinerziehende undFamilien mit Kindern unterzehn Jahren auf. INSA HAGEMANN / LAIF

Jörg Sartor
DPA Chef der EssenerTafel

Deutschlands umstrittenste Tafel

Keine Lebensmittel mehr für Migranten – dieser En tscheid hat die Essener Anlaufstelle zum Sinnbild für gescheiterte Integration gemacht


ANJASTEHLE, ESSEN


«Das machst du nur, weil ich einKopf-
tuch trage», ruftBahar Aslanov* der
Frau zu, die sich soeben mir nichts,dir
nichts vorgedrängelt und eineWarte-
nummer gezogen hat, obwohl sie doch
in der Schlange hinter ihr stand. «Du
denkst, ich sag nichts, weil ich kein
Deutsch spreche.»Bahar spricht per-
fekt Deutsch.Das weiss jetzt jeder in
demTr eppenhaus, in dem ihreWorte
bis in die hinterste Ecke vordringen.
Dann ist es still. DieFrau,der das alles
gilt, versuchtBahars wütendem Blick
zu entkommen.Niemandspringt ihr
bei, und niemand springtBahar bei. Als
dann nach einigen Sekunden dieTür im
ersten Stock aufgeht,ein Mann heraus-


tritt, um die nächste Nummer aufzuru-
fen, kann man es leise hören.Das er-
leichterteAusatmen derWartenden, die
froh sind, dass es nun ohne Ärger wei-
tergeht, weil heute ein wichtigerTag ist.
Weil sich entscheidet, ob sie an derTafel
angenommen werden und ihr Leben da-
mitein bisschen leichter wird.
Die Szene überrascht nicht, vielleicht
weil man, nachallem, was man über die
EssenerTafel weiss, so einen Moment
sogarerwartet hatte. ImJanuar 20 18
wurde die Lebensmittelhilfe über Nacht
zur berühmtesten Sozialeinrichtung
Deutschlands. Sie wurde zum Sinnbild
für alles, was in diesemLand im sozia-
len Miteinander schiefzugehen schien,
für eine Spaltung in der Gesellschaft in
Arm undReich, in Menschen mit deut-
schem und mit ausländischemPass, in
Entscheider und solche, über die ent-
schieden wird. DerTafel-ChefJörgSar-
tor und seine Mitarbeiter hatten da-
mals festgelegt, vorübergehendkeine
Ausländer mehr aufzunehmen, weil die
steigende Zahl der Migranten die deut-
schenRentner an derTafel verdränge.
Eine Tafel, die den Kampf derKultu-
ren ausgerufen hatte–das hatgesessen.
Deutschland war gespalten in zweiLa-
ger, pround contra Sartor. Undheute?
Was ist geblieben von derAufregung?


30 Wartende, 30 Geschichten


Mittwoch ist Anmeldetag bei derTa -
fel im altenWasserturm an der Stee-
ler Strasse.An diesem Morgen An-
fang Oktober stehen Mütter mit un-
geduldigen Kindern nebenRentnern,
dazwischenBahar Aslanov. Sie habe
keinen Streit gewollt,sagt sie jetzt. Man
müsse sich wehren, sonst machten die
das immer wieder. Mit «die» meint die
25-Jährige die Deutschen, mit denen ge-
rate sie immer wieder aneinander.Zum
Beispiel bei derJobsuche. Es sei schwer,
mitKopftuch eine Stelle zu bekommen.
Bahar war zehnJahre alt,als ihreFami-
lie aus Aserbaidschan flüchtete.Später
machte sie eine Ausbildung zur Zahn-
arzthelferin, dann bekam sie eineToch-
ter. Bis es klappt mit demJob,lebt sie
von Hartz IV.
30 Wartende, 30 Geschichten.Daist
auch Monika Stute, Mitte 40, Altenpfle-
gerin, ein Knochenjob. Irgendwann be-
kam sie Probleme mit denBandschei-
ben. Seitzwei Jahren ist sie krank-
geschrieben, im Altersheim wird sie nie
wieder arbeitenkönnen. Den zeitwei-
senAusländerstopp von damals kann
sie nachvollziehen: «Es sind zu viele.»
30 Leben, die an irgendeiner Stelle eine
falscheWendung genommen haben und
nun an derTafel vorbeiführen.Tr otz-
dem gibt es da gemeinsame Nenner: die


Scham, dasWarten, wie auf dem Amt.
Die Ungewissheit, ob man alle nöti-
genPapierevorzeigen kann. Gespräche
übers Essen.Welches Gericht lässt sich
aus nicht mehr frischenTomaten zube-
reiten?Das Mindesthaltbarkeitsdatum
sei Quatsch, erzählt man sich. Plötzlich
das Gerücht: Einer sei mit zehnAus-
weisen hinter derTür verschwunden, er
wolle auf einen Schlag die ganzeFamilie
unterbringen. Die Angst geht um, selbst
leer auszugehen.

Ein Unfall führt in die Armut


Seit der Entscheidung vor eineinhalb
Jahren hat dieTafel dieAufnahmekrite-
rien verschärft. DerAufnahmestopp für
Ausländer ist zwar aufgehoben, aber es
gibt neueRegeln. DieTafel nimmt jetzt
bevorzugt Alleinstehende über fünf-
zigJa hren sowie Alleinerziehende und
Familien mit Kindern unter zehnJahren
auf.Weil unterden Flüchtlingen, die vor
allem 20 15 nach Deutschland kamen,
viele junge Männer sind, die ihreFami-
lien zurückgelassen haben, wirken die
Regeln aber wie ein Migrantenstopp
durch die Hintertür. Grundbedingung
für alle ist der Bezug von Sozialleis-
tungen: Arbeitslosengeld II (HartzIV),
Grundsicherung oderWohngeld. In der
Stadt Essen trifft das auf etwa 108 000
Menschen zu.Aufnehmen kann dieTa -
fel aber nurjeden Hundertsten.Das
liegt auch daran, dass alle Helfer an der
EssenerTafel ehrenamtlich arbeiten.
Das ist nicht bei allenTafeln so.
MonikaKossmanns Chancen stehen
gut.Ihre knochigen Hände umklam-
mern die Klarsichtfolie, in die sie die
Papiere für die Anmeldung gepackt hat.
«Es gehtnicht mehr anders»,sagt sie.
Seit der Mannder 74-Jährigen gestorben
ist, wird das Geld jedenMonatknapp.
16 Ja hre lang war sieVerkäuferin.Da-
zwischen zog sie Kinder gross. Danach
hat sie als Mini-Jobberin im Kranken-
haus geputzt, abends im KinoPopcorn
verkauft.Ausgerechnet an dem Abend,
an dem «DirtyDancing» im Kino an-
lief, ist es passiert.1987 war das. Monika
rutschte aus, Splitterbruch am Hand-
gelenk. ImKrankenhaus setzten sie
Drähte ein, die sie nicht vertrug.Eiter,
Schwellung, nochmals OP. Ihre Hand

war danach steif, arbeiten war unmög-
lich. 774 EuroRente bekommt sie im
Monat, plus 35 Euro staatliche Grund-
sicherung. Davon gehen 370 Euro 60
Miete ab, plus Stromkosten.
Tafel-Chef Sartor hat ein Herz für
«Omas wie die MonikaKossmann», so
sagt er es mitRuhrgebiet-Slang. Die

Rentnerin hat natürlich eine Berechti-
gung für die Lebensmittelhilfe bekom-
men. Sartor magRegeln, besonders
wenn sieangewendet werden. Mitt-
lerweile ist es Mittag, und im Erdge-
schoss bei der Essensausgaberäumen
Mitarbeiter die ankommenden Liefer-
wagen aus, dieBananen, Brote, Bröt-
chen bringen.Das meistekommt von
Discountern.Vor derAusgabe stehen
dieKunden und warten, bis es losgeht.
DerTafel-Tag bedeutet, Freunde zu tref-
fen.Wer dreimal hintereinander unent-
schuldigt fehlt, fliegtraus; auch so eine
Sartor-Regel.
Der 63-jährigeTafel-Chef sitzt in sei-
nem Büro. Auf dem PC-Bildschirm flim-
mert dieWebsite der Kneipe Bierkönig
auf Mallorca. Morgen fliegt er dorthin
in dieFerien. Sartor ist ein ganzerKerl
mit einem gemütlichenBauch. Einer,
der gerne deftig formuliert, der Sprü-
chen wie «Die Flüchtlinge müssen sich
integrieren, das ist nicht unsereAuf-
gabe» auch noch ein nordrhein-west-
fälisches «dat is einfach so!» hinterher-
schmettert. 30Jahre lang hat er als Berg-
mann gearbeitet, eine schöne Zeit. Sar-
tor denkt gerne daran:Kohle, Kumpel
und so. Dann, Schicht im Schacht. 2006
wird er ehrenamtlicherVorsitzender der
EssenerTafel und erlebt, wie zuerst der
Strukturwandel imRuhrpott und dann,
auf weiten Umwegen, dieKriege in
Afghanistan undSyrien die Menschen
zu seinerTafel treiben.

Ende 20 17 habe der Migrantenanteil
an derTafel bei 80 Prozent gelegen, sagt
Sartor. Schieflage nennt er das. «Wenn
vor derTafel 50 junge, dunkelhaarige,
arabisch sprechende Männer stehen,
die wahrscheinlich auch noch lautreden,
und eine ältereFrau steigt aus der Stras-
senbahn und will sich da anstellen, dann
dreht die sich gleich wieder um.» Sar-
tor lehnt sich zurück, legt die Hände auf
seinenBauch, «dat is einfach so».Aus-
serdem hätten einige Migranten an der
Essensausgabe gedrängelt,Rentnerin-
nen seien derTafel ferngeblieben.
Warum hat er es nicht besser orga-
ni siert? Bei dieserFrage wirdderTa-
fel-Chef wütend.Politiker hätten diese
Frage damals reihenweise gestellt
und gleich ihreVorschläge hinterher-
geschickt: Migrantentage war so einer


  • heute dieTürken, morgen die Deut-
    schen.Für Sartor hat das nichts mit Inte-
    gration zu tun. Integration nach Sartor
    geht vielmehr so:«Wenn meine ältere
    Mitarbeiterin der arabischen Oma mit
    Händen undFüssen den Blumenkohl
    erklärt.»Viele haben ihm damals ge-
    schrieben, die Briefe hat er in Ordnern
    abgeheftet.Darunter sind Schreiben
    von ehemaligenVerfassungsrichtern
    oder vom früheren SPD-Finanzminis-
    terPeer Steinbrück, der ihm «Respekt»
    für sein «Auftreten, seine Courage und
    seine äusserliche Gelassenheit in schwe-
    ren Turbulenzen» übermittelte.
    Mittlerweile habe sich dieLage be-
    ruhigt, sagt Sartor. Der Anteilder
    Migranten liege beietwa 45 Prozent.Für
    denTafel-Chef ist das eine gute Quote.
    Die Debattelässt ertrotzdem nicht
    ruhen. Er hat ein Buch mit demTitel
    «Schicht im Schacht» geschrieben. Ein
    Buch über gescheiterte Integration,Ver-
    armung und Hinterhofmoscheen, über
    Stadtviertel wie Essen-Altendorf, nord-
    westlich des Zentrums.


«Integrationist wie Erziehung»


Auf der Altendorfer Strassereihensich
arabische Imbisse anWettbüros und Shi-
sha-Bars. EinLaden der Diakonie ver-
kauft Hosen für zwei, drei Euro. EinPoli-
zeiwagen verfolgt einen alten Citroën
mit rumänischemKennzeichen. Moha-
med Makhlouf und DrissAjir sitzen im

Erdgeschoss desTr effpunkts Altendorf
und warten darauf, dass ihre Männer-
runde vollzählig ist.Das Haus wirdvon
der Stadt finanziert, um soziale Projekte
zu unterstützen. DieVerwaltung mache
inzwischen viel für die Integration, sagen
Mohamed und Driss. Sie sind selbst vor
Jahren ausTunesien und Marokko nach
Deutschland eingewandert.Zum Män-
nertreffkommenSyrer, Iraker,Afghanen.
Sie lernen hier, wie manFormularefür das
Job-Center ausfüllt, und bekommen Hilfe
beim Lesen von Handy-Verträgen. Einer
der Männer berichtet von einem Betrü-
ger, der ihm 900 Euro für dieVermitt-
lung einerWohnung abgenommen habe.
ZurTafel gehtnach eigenenAn-
gabenkeiner aus derRunde. Driss er-
innert sich an den Skandal vor einein-
halbJahren. Er kann sich die viel be-

schriebenenRangeleien bei der Essens-
ausgabe gut vorstellen.Viele Migranten
hätten auf der Flucht gelernt, sich durch-
zusetzen, man müsse Geduld mit ihnen
haben. Die Deutschen wiederum seien
Meister im ordentlichen Anstehen.
Manch eine Beschreibung der beiden
klingt erstaunlich nachTafel-Chef Sar-
tor. «Es ist richtig, dass diePolizei im
Viertel Präsenz zeigt» oder «Integra-
tion ist wie Erziehung» – das sind Sätze,
dieandiesemTag nicht aus dem Mund
von Sartorkommen, sondern von Driss
und Mohamed. Und trotzdemkönnte
dieLage der Männer nicht unterschied-
licher sein:Für Mohamed, Driss und den
Rest derRunde ist dasRuhrgebiet die
grosse Chance, für Sartor hat es seine
Chancen verspielt.

* Name von der Redaktion geändert.

EineTafel, die den
Kampf der Kulturen
ausgerufen hatte –
das hat gesessen.
Deutschland war in
zwei Lager gespalten.

Die Lage habe sich
beruhigt, sagt der
Tafel-Chef. Der Anteil
der Migranten liege bei
etwa 45 Prozent. Das
sei eine gute Quote.
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