Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1
von angelika slavik

W


enn es um große gesellschaftli-
che Umbrüche geht, um echte Re-
volutionen, dann sieht es in der
Rückschau ja immer so aus, als wären sie
über Nacht passiert. Als hätte es plötzlich
diesen einen entscheidenden, donnern-
den, gewaltigen Moment gegeben und
dann sei alles anderes gewesen als zuvor.
Wenn man mittendrin ist in der Revolu-
tion, ist es ein deutlich weniger gewaltiges
Erlebnis, zumindest wenn es um die Revo-
lution in den Führungsetagen der deut-
schen Print- und Onlinemedien geht. Die
Organisation Pro Quote setzt sich in der
Branche dafür ein, dass mehr Frauen die
Top-Jobs in den Redaktionen besetzen, am
Donnerstag präsentierte sie ihre jährliche
Zwischenbilanz. Man kann sagen: Es ist
nicht so, dass sich gar nichts bewegen wür-
de. Aber der gewaltige, große Umbruch,
auf den der Verein hofft? Bislang ist es eher
eine Schneckenrevolution.
Vor allem bei den deutschen Regional-
zeitungen ist die Lage düster. Betrachtet
man die Chefredaktionen dieser Medien,
stehen hundert Männern nur acht Frauen
gegenüber. Von diesen acht sind zudem
drei Teil einer Doppelspitze mit einem
männlichen Kollegen. Die Zahl der Frauen,
die in Deutschland alleinverantwortlich
die Redaktion einer Regionalzeitung füh-
ren lautet also: fünf.
Pro Quote misst den Einfluss von Frau-
en in den Medien nicht an deren Anteil an
den Führungspositionen insgesamt, son-
dern gewichtet nach Führungsebene: Eine

Frau in der Chefredaktion bedeutet einen
höheren Anteil an der Macht als eine stell-
vertretende Ressortleiterin. Dieser „Frau-
enmachtanteil“ hat sich bei den Regional-
zeitungen in den vergangenen drei Jahren
marginal entwickelt, er beträgt nun für die-
se Mediengattung im Schnitt 10,2 Prozent.
Bei den zehn größten überregionalen
Zeitungen liegt dieser Wert bei 25,1 Pro-
zent, wobei nur die Berliner Tageszeitung
tazmit 50,8 Prozent die Macht zwischen
den Geschlechtern ausgeglichen verteilt.
Den geringsten Frauenmachtanteil ver-
zeichnen dasHandelsblattmit 16,1 Prozent
und die FAZ, die genau wie ihre Sonntags-
zeitung FAS bei unter 17 Prozent bleibt. Die
Süddeutsche Zeitungwird in der Statistik

32,1 Prozent Frauenmachtanteil auf Platz
drei geführt – allerdings wurden die Werte
im vergangenen Juni erhoben, als Julia Bö-
nisch noch Mitglied in der SZ-Chefredakti-
on und Chefredakteurin der Onlineausga-
be war. Sie hat das Haus mittlerweile ver-
lassen, ihre Nachfolge ist noch ungeklärt.
Bei den großen Magazinen liegt derStern
klar vorne, dort werden Frauen mit 45,8
Prozent der Macht ausgestattet. Auch, weil
im April 2014 jedes Ressort gezielt paritä-
tisch mit je einem Mann und einer Frau an
der Spitze besetzt worden ist.
Was kann man also machen, damit die
Revolution an Tempo gewinnt? Darüber

wurde im Anschluss an die Präsentation
der Zahlen diskutiert. Die Chefin des Gru-
ner + Jahr-Verlags, Julia Jäkel, unter deren
Verantwortung also auch derSterner-
scheint, sagt, es gelte vor allem auf die At-
mosphäre in einem Unternehmen zu ach-
ten: „Wie sind die Sprüche, wie sind die Wit-
ze, wie ist die Weihnachtsfeier?“, fragt Jä-
kel. Frauen müssten sich wohlfühlen, es
brauche Rollenvorbilder, die verdeutli-
chen wie weibliche Führung aussehen kön-
ne. Wenn das gelinge, seien nicht nur die
Frauen angetan, das ganze Unternehmen

profitiere von einer diversen Führungsebe-
ne: „Ich kenne keine Männer, die in einer
Monokultur arbeiten wollen“, sagt Jäkel,
„zumindest keine, die ich ernst nehme“.
Marion Horn will das nicht recht glau-
ben. Sie ist die Chefredakteurin derBild
am Sonntagund sagt, aus der Sicht eines
Mannes sei heute jede Frau „eine Bedro-
hung für seine eigene Karriere“. Vor ein
paar Jahren hätten männliche Mitarbeiter
in einer internen Bewertung ihren Füh-
rungsstil kritisiert – sie würde Frauen be-
vorzugen, lautete der Vorwurf. Dafür erin-

nert sie sich umso besser daran, dass in ih-
ren Anfängen bei derBildeine Rollenvertei-
lung herrschte „wie beiMad Men:Frauen
gab es nur in jung und hübsch und als Se-
kretärinnen“.
Die klassische Rollenverteilung findet
man übrigens auch heute noch in der Sta-
tistik, wenn man etwa auf die Führungspo-
sitionen bei den Publikumszeitschriften
schaut. Da gibt es in den Segmenten Frau-
enmagazine, Lifestyle, Haus und Garten
viele Frauen in Führungsjobs, bei Motor-
presse, Wissen und Technik und auch bei
Wirtschaft sieht es aber mau aus.
Liegt das am mangelnden Interesse von
Frauen an diesen Themen? Oder daran,
dass die Männerbande dort besonders eng
geknüpft sind? Darauf geben die Zahlen
keine Antwort. Juliane Seifert, die Staatsse-
kretärin des Bundesministeriums für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend, be-
richtet jedenfalls, dass es nicht nur in der
Medienbranche ein zäher Weg sei zur glei-
chen Verteilung von Macht. Aber immer-
hin, kleine Fortschritte gebe es auch an-
derswo: So gebe es 2019 erstmals mehr
Frauen in den Vorstandsetagen der großen
deutschen Konzerne als Männer, die Tho-
mas oder Michael heißen. „Das sieht man
natürlich auch, von welchem Ausgangsni-
veau wir kommen“, sagt Seifert.
Marion Horn will da noch abschließend
anmerken, dass man sich eben von den
Selbstzweifeln, „die Frauen auch so wun-
derbar machen“, nicht abhalten lassen dür-
fe vom Weg an die Spitze. „Wer mit den gro-
ßen Jungs spielen will, darf nicht nur mit
Wattebäuschen werfen.“

An seine Stimme könne sie sich erinnern,
sagteine alte Dame auf der Straße. Und:
„Du warst als kleiner Junge schon böse.“
Frank Meeink, als Kind vom Stiefvater ge-
schlagen und gedemütigt, fand früh An-
schluss in die rechtsextreme Szene Phil-
adelphias, ließ sich ein Hakenkreuz in den
Nacken tätowieren und sagte in einer TV-
Show, er würde für seine eigene Rasse ster-
ben, wenn es sein muss.
Für die DokureiheWarum wir hassen
kehrt Meeink zurück in die Straßen Phil-
adelphias, wo er aufgewachsen ist, wo sein
Hass wuchs. In sechs Teilen spüren der Hol-
lywood-Regisseur Steven Spielberg und
der Oscar-prämierte Dokumentarfilmer
Alex Gibney der Frage nach, ob Hass gene-
tisch veranlagt ist, und was passieren
muss, damit sich Menschen radikalisie-
ren. In einem CBS-Interview sagt Spiel-
berg über das Projekt: „Es war zwingend.“
In der ersten Folge analysieren Ethnolo-
gen Hass, die mit Schimpansen und Bono-
bo-Affen arbeiten. Die zweite Folge zeigt ri-
valisierende Fußballfans von Arsenal und
Tottenham, US-Aktivisten der Republika-
ner und Demokraten und verfeindete Israe-
lis und Palästinenser. Was klar wird: Hass
ist universell und weltweit verbreitet –
vom Sport über Straßenverkehr bis in die
Politik. Die vierte Episode ist Menschen
wie Frank Meeink gewidmet.
Abwechselnd lassen die Filmemacher
Wissenschaftler, Journalisten und Betrof-
fene zu Wort kommen, mischen Original-
aufnahmen mit Handyvideos und Archiv-
material und beleuchten das Phänomen,
ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Man
sieht die Anekdote Frank Meeinks aus der
TV-Show, in der er damals mit kahlgescho-
renem Kopf saß. Ähnlich beklemmend ist
es, wenn Jesse Morton von seiner Vergan-
genheit als Dschihadist erzählt. Rechtsradi-
kale und Islamisten haben, wie es eine Ex-
tremismusforscherin im Film betont, ein
gemeinsames Narrativ: „Unser Weg oder

kein Weg.“ Keine Kompromisse. Diese Hal-
tung werde zunehmend populär. Momen-
tan kämen Ideologien zurück, von denen
man gehofft habe, sie seien überwunden,
so Forscherin Sasha Havlicek. Oberstes
Ziel extremistischer Gruppen sei die Spal-
tung der Gesellschaft. Nur bleibt die Exper-
tin vage, wie man dem entgegentreten kön-
ne: „Wir brauchen glaubhafte Stimmen.“
Dabei kann die Dokureihe nicht über
ein Manko hinwegtäuschen: dass auch ge-
sellschaftliche, strukturelle oder ökonomi-
sche Zwänge Hass auslösen können. Da
wirkt die Schlussfolgerung, aufeinander
zu zugehen und miteinander zu reden, die
etwa Frank Meeink formuliert, fast naiv.
Vielversprechender klingt eine andere Bot-
schaft, die wissenschaftliche Experimente
in der ersten Folge belegen und die Spiel-
berg selbst im CBS-Interview betont: „Wir
können Hass auch verlernen.“

Und dann sitzen zwei an einem Tisch:
der einstige islamistische Extremist Mor-
ton und Jason Kessler, der 2017 in Charlot-
tesville den Aufmarsch „Vereinigt die Rech-
te“ organisiert hat, dort erschienen Anhän-
ger der Alt-Right-Bewegung, Neonazis
und Mitglieder des Ku-Klux-Klans. Mor-
ton fragt Kessler, was er gedacht habe, als
ihn ein ehemaliger Dschihadist kontaktier-
te. Kessler sagt: „Ich war offen, weil ich den
Eindruck hatte, du interessierst dich ernst-
haft für mich.“ carolin gasteiger

Warum wir hassen, ZDF info, Teile eins und zwei,
Sonntag, 20.15 und 21 Uhr; Teil drei am 11. Novem-
ber, 20.15 Uhr; Teil vier am 12. November, 22.30
Uhr; Teil fünf am 13. November, 20.15 Uhr und Teil
sechs am 18. November, 20.15 Uhr; außerdem Teil
vier im ZDF am 12. November 20.15 Uhr.

Im WDR kursieren immer noch diese tollen
Geschichten von der früher eher unkonven-
tionellen Genehmigungskultur. Gerne wird
erzählt, wie in den Siebzigern derRock-
palast-Redakteur Peter Rüchel zu seinem
Chef ging und vorschlug, ein Musikfestival
alsRockpalast-Nacht live in etliche Eurovisi-
onsländer zu übertragen. Antwort: „Peter,
das ist eine gute Idee.“ Auch Jürgen von der
Lippe hat solch eine Geschichte parat. Als er
Ende der Achtziger mitDonnerlippchenauf-
hören wollte, sagte ihm der WDR-Show-
chef: „Dann lassen Sie sich mal was einfal-
len.“ Es folgten zwölf JahreGeld oder Liebe.
Einen ähnlichen Freifahrtschein bekam Jür-
gen Domian Mitte der Neunziger vom da-
maligen Intendanten mit auf den Weg: „Hal-
ten Sie sich an die Gesetze, und machen Sie,
was Sie wollen“, sagte Fritz Pleitgen, als er
den Plan einer nächtlichen Anrufsendung
genehmigte. Die Sendung hieß wie der Mo-
derator, lief über 20 Jahre und war in ihrer
Einzigartigkeit so etwas wie ein Vorläufer
der heute boomenden Podcasts.
Man hört die Geschichte mit Erstaunen,
weil man sich dieser Tage kaum noch vor-
stellen kann, dass Wünsche im WDR so lapi-
dar erfüllt werden. Man kann das Erstau-
nen doppelt gut verstehen, wenn man
schaut, wie zaghaft der WDR heute neue
Sendungen anschiebt: Da entschließt sich
Jürgen Domian, seine Karriere als Talker
fortzusetzen, nicht mehr nur im Radio und
im nächtlichen Tele-Abseits, sondern auf ei-
nem halbwegs prominenten Sendeplatz
nach demKölner Treff, und was lässt ihn
der WDR machen? Vier Sendungen. Schlap-
pe vier AusgabenDomian livehat man ihm
vorerst genehmigt.
Glücklicherweise lässt sich der Namens-
geber der Sendung davon nicht beeinflus-
sen. Er ist menschenfreundlich und neugie-
rig wie immer, und er weiß, auf welchen Ap-
parat er sich einlässt. Er weiß wahrschein-
lich auch, dass er nur eine kleine Chance
hat, das neue Format auf so kurzer Distanz
zum Erfolg zu führen. Aber er will die Chan-
ce nutzen, die er eigentlich nicht hat.
„Für mich ist es reizvoll, dass ich meine
Gäste endlich mal sehen kann“, sagt er der
SZ und betont, dass jede Sendung für ihn ei-
ne Art Überraschungsei wird. Er kennt die
Gäste, die ihm die Redaktion zuführt, vor-
her nicht. Er muss sich einlassen auf kleine
und große Probleme, sich einfühlen, spü-
ren, wo die Dinge im Argen liegen. Dass er
das gut kann, steht außer Zweifel. Ob es in
der WDR-Kantine funktioniert, wo die Sen-
dung nach den Essenszeiten produziert
wird, muss sich zeigen. Es sei eine behutsa-
me Weiterentwicklung der Nachtsendung,
sagt Jürgen Domian und hält das Themen-
spektrum bewusst weit offen: „Man kann
über alles reden, solange man reden kann.“
Dass er das kann, muss der 61-Jährige
nicht mehr beweisen. Dafür hat er lange
genug einen zweiten weisen Rat des damali-
gen Intendanten beherzigt. „Reden Sie so
mit den Leuten, als wäre es privat“, hat Fritz
Pleitgen ihm gesagt und in Jürgen Domian
damit recht nachhaltig eine Erkenntnis
implementiert. „Man braucht für ein sol-
ches Format starke Chefs“, sagt der Talk-
master. hans hoff


Domian live, WDR, Freitag 23.30 Uhr.


Schneckenrevolution


Von 108 Regionalzeitungen in Deutschland werden gerade mal acht von Frauen geleitet: Verlagsleiterin Julia Jäkel,


Chefredakteurin Marion Horn und Staatssekretärin Juliane Seifert diskutieren über publizistische Macht und missgünstige Männer


Wir können den Hass auch
verlernen. Das belegen
wissenschaftliche Experimente

Zerstörerisches Gefühl


Regisseur Steven Spielberg erforscht den Hass


Jetzt mit Bild


Der Nachttalker Domian
kehrt zurück – ins Fernsehen

„Frauen gab es nur in jung und
hübsch und als Sekretärinnen“,
sagt Marion Horn über die „Bild“

DEFGH Nr. 258, Freitag, 8. November 2019 (^) MEDIEN HF2 35
Es geht zu langsam: G+J-Chefin Jäkel (2.v.l.), Staatssekretärin Seifert (3.v.r.),
BamS-Chefin Horn (2.v.r.) mit Vertreterinnen von Pro Quote. FOTO: A. KIRCHHOF
Anhänger der Alt-Right-Bewegung und Gegendemonstrant im August in Portland. FOTO: STEPHANIE KEITH / ZDF/GETTY
„Reizvoll, dass ich meine Gäste endlich
malsehen kann“: Jürgen Domian.FOTO: DPA
Lösungen vom Donnerstag
9
6
1
4
9
3
7
8
9
45 1
SZ-RÄTSEL
4261 59738
18536 7942
39784 2516
96 42153 8 7
81 36742 95
57 29831 64
25149 6873
7495 38621
6387 21459
Die Ziffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nureinmal vorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
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Schwedenrätsel Sudokumittelschwer
7 5
6 5 3 2 9
9 1 3
2 9
7 1
8 7
7 5
6 8
9 1 4 8
Str8ts: So geht’s
98 234
874956123
798 2534
687 34 12
65743 1
465789
54 67 98
23498765
32 89 76
6
1
5
2
4
Str8ts schwer

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