Süddeutsche Zeitung - 08.11.2019

(lily) #1

E


inmal waren wir alle, viele von uns
jedenfalls, für Ho Chi Minh. Für Al-
gerien. Für die Sicherheit der ande-
ren. Aber heute will keiner von uns Kurde
sein. Erinnern wir uns, wie in den Unru-
hen von 1968 die Sorge um Menschen, die
in der Ferne litten und uns doch nahestan-
den, Hunderttausende Demonstranten
auf die Straße trieb.
In diesen Herbstwochen des Jahres
2019 dagegen wird das kurdische Volk
bombardiert, jenes Volk, das uns entschei-
dend vor der fundamentalistischen Ge-
fahr des sogenannten Islamischen Staates
gerettet hat und das die Terroristen unter
Kontrolle brachte und dann bezwang, die
auf Pariser Bürger, Berliner Weihnachts-
marktbesucher oder Londoner Passanten
Anschläge verübten. Und niemandem von
uns in Europa fällt es ein, die Kurden zu un-
serem Brudervolk zu erklären, und sei es
auch nur aus Dankbarkeit.
Die Terrormiliz Islamischer Staat hat
uns – wer wollte es leugnen – Angst einge-
jagt, sie hat uns terrorisiert. Ihr gerade
erst ums Leben gekommener Anführer,
der sich während eines US-Angriffs selbst
in die Luft sprengte, der stets wie eine Wit-
we gekleidete, monströse kleine Abu Bakr
al-Bagdadi, wirkte wie aus mittelalterli-
chen Albträumen entsprungen. Man den-
ke nur an die grausamen Videoaufnah-
men des IS, die zeigten, wie amerikani-
sche und britische Geiseln enthauptet wur-
den. Oder man denke daran, wie Männer
von Hochhäusern gestoßen und deswegen
ermordet wurden, weil sie ihresgleichen
liebten. Oder an die öffentlichen Steinigun-
gen, das Musikverbot, den massiven Kon-
sum von Crystal Meth durch die funda-
mentalistischen Milizen.
Wenn dies alles von einem gewissen
Zeitpunkt an aus den Hauptschlagzeilen
verschwand, wenn der Islamische Staat ir-
gendwann nur noch recht weit hinten in
den Zeitungen auftauchte, dann haben
wir das vor allem ihnen zu verdanken, den
Kurden.

Was sie dazu trieb, die Terrormiliz er-
folgreich zu bekämpfen, war nicht zuletzt
die Hoffnung, von amerikanischer und eu-
ropäischer Seite Unterstützung für die
Gründung eines unabhängigen kurdi-
schen Staates zu erhalten, dem sich die
Türkei, unser alter Verbündeter, seit jeher
widersetzt. Wie wir alle wissen, ist die Sa-
che anders verlaufen.
Die Kurden besiegten den IS im Namen
und im Auftrag der westlichen Demokra-
tien, die eines seiner ersten Opfer waren,
und im Gegenzug zogen sich diese westli-
chen Demokratien, allen voran die USA
des Donald Trump, aus Syrien zurück und
überließen die Kurden der Gnade des tür-
kischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo-
ğan. Den Rest der Geschichte kennt man
aus den Nachrichten der vergangenen Wo-
chen: das Ende aller Träume von einer au-

tonomen Kurden-Nation, stattdessen
Bombardierung und Vertreibung. Hier ver-
zweifelte Soldaten, die für ihre Heimat
und Kultur kämpfen, dort der niederträch-
tige und unerbittliche Despot Baschar al-
Assad, der den Einsatz chemischer Waffen
befiehlt und die Zivilbevölkerung massa-
kriert. Dazwischen die USA, deren Außen-
politik von einem Ignoranten verantwor-
tet wird, und ein Europa, das von der
Furcht vor einer Flüchtlingsinvasion der-
art besessen ist, dass es Geschenke an je-
den verteilt, der verspricht, sie zu verhin-
dern oder einzudämmen.
Aber es gibt Anlass, fröhlich zu sein,
weil wir Deutschen, Italiener, Franzosen,
Spanier und anderen Europäer unsere
Grundsätze von Loyalität, die ohnehin nur
part timegelten, zum Teufel geschickt ha-
ben, um uns – während anderswo Massen-
vertreibungen stattfinden – tief über unse-
re rosigen Bauchnabel zu beugen, denen
wir uns gernefull timewidmen.
Man denke nur an Großbritannien.
Wir alle verdanken diesem Land die Befrei-
ung vom Nazi-Faschismus. Dieses Land
stiftete das Modell der liberalen Demokra-
tie, das in der modernen, westlichen Welt
erfolgreich war. Dieses Land schenkte uns
Shakespeare, Virginia Woolf und dieBea-
tles(ganz zu schweigen vonColdplay). In
diesen Tagen und Wochen haben sich in
Großbritannien die Demonstrationen ge-
radezu überschlagen: London wurde noch
nie von so vielen Protestmärschen geprägt
wie in jüngster Zeit.
Hat sich irgendjemand bei diesen
zahllosen Kundgebungen auch nur eine
Sekunde lang um das unter Beschuss ge-
nommene kurdische Volk geschert? Kein
Gedanke. Man protestierte für den soforti-
gen Austritt aus der Europäischen Union
oder für den Austritt zu einem späteren
Zeitpunkt oder für gar keinen Austritt,
wer blickt da noch durch. Man protestier-

te gegen die jüngere Ausgabe von Donald
Trump in der Downing Street oder für sie.
Was wäre besser: Wahlen? Keine Wahlen?
Ein zweites Referendum? Vor dem Abend-
essen? Nach dem Abendessen? Was für ein
unwürdiges, infantiles und egozentri-
sches Spektakel.
Und in Rom? Sind etwa in Rom die Stu-
denten und Intellektuellen auf die Straße
gegangen oder ist die berühmte Zivilgesell-
schaft aktiv geworden, um mit den armen,
von den Türken bombardierten und von
uns allen verratenen Kurden wenigstens
eine Spur von Solidarität zu zeigen? Von
wegen. Wer jung ist, kümmert sich heute
ausschließlich um das Klima. Die Welt
muss gerettet werden! Als ob irgendje-
mand apertis verbis das Gegenteil propa-
gieren würde: Los, lasst uns den Planeten
unbewohnbar machen, lasst ihn uns kom-
plett zerstören! Mir erscheint, dass viele
junge Menschen heute nicht mit Konflik-
ten umgehen können. Wenn sie demons-
trieren, dann tun sie es, um Dinge zu unter-
stützen, die sogar meine Katze unter-
schreiben würde. Sie sind den Konsens
gewohnt, das schnelle Lob, den billigen Er-
folg. Ihre Wirklichkeit ist von Handys und
Likes geprägt. Da wirkt die Welt vielleicht
irgendwann wie eine Art Videospiel, aus
dem man jederzeit aussteigen kann.

Und wenn einige wenige Hundert Kilo-
meter entfernt ihre Altersgenossen völlig
rechtlos sind, falls sie nicht gleich bombar-
diert werden, weil ein mittelmäßiger Auto-
krat namens Erdoğan seine Omnipotenz-
fantasien ausleben will, begreifen unsere
jungen Leute nicht einmal, dass all diese
Vorgänge auch für ihr Leben verheerende
Folgen haben können.
Die massenhafte Vertreibung und Ver-
nichtung des kurdischen Volkes sind nicht
nur eine weitere humanitäre Katastrophe.
Sie halten vor allem unserer Schwäche ei-
nen Spiegel vor. Selten lagen der Mangel
an Moral und die Oberflächlichkeit unse-
rer sogenannten öffentlichen Meinung so
auf der Hand wie in diesen Wochen. Es ist
ein halbes Menschenleben her, da wurde
der Krieg in Vietnam durch Ho Chi Minhs
Partisanen beendet, und auch durch das
Bewusstsein der westlichen Zivilgesell-
schaft. Rein rechnerisch sind seitdem et-
was mehr als 40 Jahre vergangen, histo-
risch betrachtet scheinen es 400 zu sein.
Denn während damals eine von diesem
Land weit entfernte Öffentlichkeit einen
klaren Standpunkt bezog, hat die heutige
überhaupt keinen Standpunkt mehr.
Heute sind wir alle stumpf. Und taub.
Und tot wie Gespenster. Gespenster aber
haben kein Gewicht und keinen Körper.
Unsere Epoche ist die Epoche der Gehaltlo-
sigkeit.

Mario Fortunato, Jahrgang 1958, ist Schriftsteller
und lebt, nach Jahren in London und Berlin, wieder
inRom. Aus dem Italienischen von Jan Koneffke.

S


tellt sich eigentlich noch jemand
vor, in welchem Zustand diese Re-
publik sich heute befände, hätte
vor vier Wochen in Halle die Tür
nicht gehalten, die einen zu allem ent-
schlossenen Attentäter von den Betenden
in der Synagoge trennte? Politik und
Medien jedenfalls – und mit ihnen offen-
bar die meisten Deutschen – scheinen
kaum mehr Diskussionsbedarf zu sehen.
Das ist ein irritierender Befund angesichts
einer Bluttat, die mehr hätte auslösen müs-
sen als kurze Bestürzung und Fassungslo-
sigkeit, auch mehr als ein paar spontane
Zeichen der Empathie. Das ist zu wenig
angesichts eines Mordplans, dem zwei
Menschen zum Opfer gefallen sind und
der ein Vielfaches an Menschenleben hät-
te fordern können. Das ist verstörend ange-
sichts eines Verbrechens, das die Grundla-
gen unserer seit 70 Jahren gewachsenen
Demokratie infrage stellt.
Tatsächlich hat die Tat mehr ausgelöst
als Entsetzen und Erbitterung, nur leider
kaum in der Mehrheitsgesellschaft. Der
Minderheit selbst bleibt es überlassen,
darüber nachzudenken, ob und wie es nun
weitergehen soll mit dem jüdischen Leben
in diesem Land. „Packen wir die Koffer?“,
hat der in München lehrende Historiker
Michael Brenner, Sohn zweier Überleben-
der des Holocaust, drei Tage nach dem An-
schlag in dieser Zeitung gefragt(SZ vom
12./13. Oktober). Die Diskussion seines
Textes in unserem Jenaer Doktorandense-
minar ließ niemanden unberührt: weil al-
le wussten, dass Brenners kurzer Durch-
gang durch die Geschichte des Antisemitis-
mus in der Bundesrepublik nur die
schlimmsten Anschläge und „Vorkomm-
nisse“ benennen konnte; weil allen noch
viel mehr einfiel, was das Bild immer wie-
der eintrübte in all den Jahrzehnten, die
seit John McCloys berühmter Mahnung
vergangen sind.
„Einer der wirklichen Prüfsteine für
den Fortschritt Deutschlands“, so hatte
der amerikanische Militärgouverneur
1949 festgestellt, werde sein, wie die jüdi-
sche Gemeinschaft „ein Teil des neuen
Deutschlands wird und mit ihm ver-
schmilzt“. Was bleibt von diesem Aus-
druck der Hoffnung, wenn Brenner nun
sagt, es sei an der Zeit, die sprichwörtli-
chen, seit Langem ausgepackten Koffer
wieder vom Dachboden zu holen, weil der
Tag vielleicht nicht mehr weit sei, „an dem
wir sie brauchen“?
Gewiss, es gibt auch andere Stimmen:
zornige wie die von Richard C. Schneider,
dem gebürtigen Münchner und langjähri-
gen ARD-Korrespondenten in Tel Aviv,
der in derZeitvon „lächerlichen Mahnwa-
chen“ sprach und erklärte, wegen des
wachsenden Antisemitismus in Deutsch-
land schon vor zwei Jahren nach Israel
gezogen zu sein. Und es gibt Stimmen von


brachialer Nüchternheit wie die von Natan
Sznaider, der in derNeuen Zürcher Zeitung
konstatierte, die Juden übten im heutigen
Deutschland, anders als in der Nachkriegs-
zeit, keine „symbolische Funktion“ mehr
aus. Aber nicht allein deshalb sei die „Dro-
hung, die Koffer wieder zu packen“, gegen-
über „wohl 80 Prozent der Menschen in
Deutschland“ unangebracht: Sie lasse, so
der in Mannheim aufgewachsene Soziolo-
ge aus Tel Aviv, nur die „restlichen 20 Pro-
zent triumphieren, die gerne ein einfaches
und primitives Leben der Homogenität
führen wollen“.

Sznaiders Position ist die des Wissen-
schaftlers, der sich in Berlin und München
genauso lehrend und forschend bewegt
wie in den USA; es ist der inzwischen nicht
selten abschätzig apostrophierte Blick der
„Anywheres“ auf die „Somewheres“, der
Kosmopoliten auf die Provinz. Wenn
Sznaider den Juden in Deutschland nun
empfiehlt, nicht „einer verlorenen Heimat
nachzuweinen“, sondern „Formen der Hei-
matlosigkeit als neue, sich öffnende chan-
cenreiche Perspektive“ zu begreifen, dann
mag das manchen als ein bitterkluger Rat
erscheinen. Für die besagten 80 (oder
weniger?) Prozent der nichtjüdischen
Mehrheit allerdings kann es nur heißen,
endlich entschlossen für ihre jüdische Min-
derheit einzutreten: weil der Gedanke ein-
fach unerträglich ist, dass sich Juden in
Deutschland 81 Jahre nach der „Reichs-
kristallnacht“ nicht zu Hause fühlen kön-
nen, dass sie erneut die Koffer packen.
Was daher nottut, ist mehr als polizeili-
che Aufrüstung gegen rechts. Dass diese
dringend geboten ist – im Netz wie auf der
Straße –, scheinen die Innenbehörden von
Bund und Ländern mittlerweile zu begrei-
fen, und nach dem Abgang von Hans-Ge-
org Maaßen gelingt das womöglich sogar
dem Verfassungsschutz. Die Zeiten, in de-
nen man dort notorisch nach links blickte
und viel zu wenig nach rechts, müssen end-

gültig einer Vergangenheit angehören, die
älter ist als die Bundesrepublik.
Aber es genügt nicht, mit den Mitteln
des Strafrechts gegen antisemitische Äu-
ßerungen und Taten vorzugehen; es ge-
nügt nicht, Menschen unter Beobachtung
halten zu wollen, die sich längst zu Juden-
feindschaft, Hass und Gewalt bekennen.
Wir müssen jene erreichen, die dabei sind,
sich in Ressentiments einzurichten, die
noch auf dem Weg sind in eine Welt der
Vorurteile und Verschwörungstheorien.
Was es dazu braucht, wissen wir seit
Langem – so lange schon, dass uns die ein-
schlägigen Begriffe wie aus der Zeit gefal-
len erscheinen. Aber wir haben keine bes-
seren: Aufklärung, Bildung, Erziehung.
Es ist deshalb auch kein Zufall, dass ein
vor mehr als einem halben Jahrhundert ge-
haltener Vortrag von Theodor W. Adorno
über „Aspekte des neuen Rechtsradikalis-
mus“ seit Monaten auf den Bestsellerlis-
ten steht; es ist kein Zufall, dass nicht nur
Historiker sich wieder für das „Gruppenex-
periment“ interessieren, mit dem das aus
dem amerikanischen Exil zurückgekehrte
Frankfurter Institut für Sozialforschung
dem Antisemitismus nach Hitler und der
„autoritären Persönlichkeit“ auf die Spur
zu kommen suchte. Auch Adornos klassi-
scher Aufsatz über „Erziehung nach
Auschwitz“ (1966) wird, erfreulicherwei-
se, wieder viel gelesen: weil er lehrt, dass
Demokratie und Toleranz, Menschenrech-
te und Minderheitenschutz keine aus sich
selbst heraus auf Dauer gestellten Werte
sind, sondern immer wieder neu vermit-
telt und (vor)gelebt werden müssen.
Politische Bildung ist gesellschaftliche
Herzensbildung; sie ist, und auch darüber
hat Adorno klarer als andere geschrieben
und gesprochen, als Aufgabe so unab-
schließbar wie die kritische Auseinander-
setzung mit unserer Vergangenheit.

BILD: ULRIKE STEINKE

Norbert Frei ist Professor
fürNeuere und Neueste
Geschichte an der
Universität Jena, er leitet
das Jena Center Geschichte
des 20. Jahrhunderts. Tierwohl

(^6) MEINUNG Freitag, 8. November 2019, Nr. 258 DEFGH
Und keiner
steht auf
Die Vertreibung der Kurden
aus Nordsyrien ist eine
humanitäre Katastrophe,
die den Niedergang
der öffentlichen Moral
im Westen widerspiegelt
VON MARIO FORTUNATO
Nach Halle
Vier Wochen sind seit dem Angriff auf die Synagoge
vergangen – und in Deutschland ist kaum noch
Beunruhigung zu spüren. Genau das ist beunruhigend
VON NORBERT FREI
Die Kurden besiegten den IS
imNamen des Westens –
verbunden mit einer Hoffnung
Noch nie lag die Oberflächlichkeit
der öffentlichen Meinung
so auf der Hand
STEINKES ANSICHTEN
Es müssen jene erreicht
werden, die dabei sind, sich in
Ressentiments einzurichten
WirtschaftsWoche testen unter:
WIWO.DE/TESTEN
WIWO
PRINT
UND DIG
ITAL
VIER W
OCHEN
KOST
ENLO
S
TEST
EN
LESEN SIE IN DER AKTUELLEN AUSGABE:
!DEUTSCHE SUPERCOMPUTER
Merkels Innovationsagentur setzt auf analoge Te chnik
!PROFITABLE PROFIS
Ex-Adidas-Chef Hainer soll den kriselnden FC Bayern globalisieren
!OPTIMISTISCHE BÖRSENGURUS
Was fünf Top-Geldmanager für 2020 empfehlen

Free download pdf