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Dienstleistungsberuf mit eher miesen Arbeits-
zeiten.
Angesichts der Produktionsbudgets und
neuer Platzhirsche wie Amazon und Netflix
denkt man ja, dass da gerade Goldgräber -
zeiten für Schauspieler anbrechen.
Andererseits darf man sich fragen: Wer soll
diese Flut an Inhalten überhaupt noch konsu-
mieren? Und beim Casting wird gar nicht mehr
darauf geachtet, jemanden zu finden, der viel-
leicht als sehr wandelbar gilt. Es ist viel einfa-
cher, jemanden zu suchen, der zur Rolle eh
schon passt und sich gar nicht groß verändern
muss. Früher nannte man das „Type Cast“. In
Zukunft wird das die Norm werden. Junge
Schauspieler bekommen kaum noch die Mög-
lichkeit, Repertoire zu spielen, also sich zu ver-
wandeln.
Welchen Rat würden Sie dem Nachwuchs
geben?
Ich gebe ungern Ratschläge, würde aber immer
empfehlen, sich auf die Wurzeln unseres Be-
rufs zu besinnen. Und die liegen im Theater.
Nur sich selbst zu spielen ist auf Dauer ja auch
nicht besonders kreativ.
Klingt, als sei die Streamingwelt für Sie eine
Art Vorhölle.
Ich gebe ja zu: Der Boom bedeutet zusätzliche
Chancen für uns. Kritischer sehe ich, dass mit-
telfristig durch die schiere Masse das Produkt
an Begehrlichkeit und Relevanz verliert. Auf
dem Buchmarkt ist das ja auch schon zu sehen:
Viele, viele Neuerscheinungen, aber kaum
noch etwas, das zum Ereignis, zum gesamtge-
sellschaftlichen Gesprächsstoff wird. Stattdes-
sen viele Nischen und Special Interests, immer
mehr Sub-Genres und Zielgruppen, aber im-
mer weniger Höhepunkte.
Kino, Literatur, Kunst – verlieren nicht alle
Kunstformen an Bedeutung?
Wir stehen ein bisschen am Ende der Fiktion.
Alles ist auserzählt. Egal ob Wissenschaft oder
Kunst, Ökonomie oder Politik, die Quanten-
sprünge sind vorbei. Jemand wie da Vinci war
nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ver-
rückter Künstler. Das waren solche Querden-
ker, dass sie alte Muster aufbrachen. An dieser
Stelle sind wir jetzt mit der Fiktion: Es ist un-
heimlich schwer, noch wirklich neue Erzähl-
strukturen zu finden.
Egal ob bei Youtube oder RTL II, das letzte
große Ding scheint Realität zu sein.
Man kann sich heute tagelang echte Schläge-
reien oder Autounfälle im Internet anschauen.
Diesen Kitzel der Authentizität kann auch die
beste Fiktion nicht leisten. Zugleich haben die-
se Bilder einen enormen Einfluss auf unser
kollektives Unterbewusstsein. Insofern ist Rea-
lity-TV wie „Das Sommerhaus der Stars“ auf
RTL die effizienteste Unterhaltung, die man
sich aktuell vorstellen kann: niedrigste Kosten,
hohe Ratings. Sosehr ich solche Formate verab-
scheue – wenn ich zufällig reinzappe, bleibe
ich dran hängen. Nichts fesselt Menschen
mehr als vermeintliche Authentizität. Das
kann schnell gefährlich werden. Brot und Spie-
le wie im alten Rom. ó
»Nichts fesselt Menschen mehr
als vermeintliche Authentizität.
Das kann schnell gefährlich
werden. Brot und Spiele wie
im alten Rom.«
Hemd: Eton, Pullover: Brunello Cucinelli,
Uhr: Rolex Oyster Perpetual Yachtmaster 42
TITEL Moritz Bleibtreu