Handelsblatt - 08.11.2019

(Barré) #1
Richard David Precht, 54, lehrt Philosophie und schreibt Bücher.
Zuletzt erschien der dritte Band seiner vierteiligen Philosophie-
Geschichte, „Sei du selbst“ (Goldmann).

Dumme Phrasen gibt es viele. Und es ist wirklich
schwer, ein Ranking vorzunehmen. Aber wenn Sie
mich fragen, die dämlichste Phrase unserer Zeit lau-
tet: „Niemand hat eine Glaskugel!“ Der Satz fällt zur-
zeit auf jeder Digitalkonferenz. Selbstverständlich
nicht, wenn ein IT-Manager oder ein KI-Forscher von
der wunderbaren Zukunftswelt superintelligenter Ma-
schinen spricht, die alle Probleme lösen werden. Das
glaubt man sofort. Aber wenn es um die Zukunft der
Arbeit geht, um gesellschaftliche Folgen der Künstli-
chen Intelligenz, der Biomedizin und all die drohen-
den Verwerfungen – dann gibt es immer einen Politi-
ker, der allen Befürchtungen mit einer einzigen Phra-
se das Licht ausdreht: „Niemand hat eine Glaskugel!“
Mach dir keine Gedanken über das, was du ohnehin
nicht ganz genau wissen kannst!
Nun gut, wenn keiner eine Glaskugel hat, dann le-
ben wir halt alle wie Hans Guckindieluft. Welche No-
ten erwartet mein Sohn in seinem Zeugnis? Niemand
hat eine Glaskugel! Welche Autos könnten langfristig
den Fortbestand der Industrie sichern? Niemand hat
eine Glaskugel! Welche Aufgaben sollte der nächste
SPD-Vorsitzende anpacken? Niemand hat eine Glasku-
gel! Und ohne Glaskugel keine Sorgen!
Nun weiß natürlich jeder, dass kein normaler
Mensch und auch kein Unternehmen so durchs Leben
kommen. Was sagt der Bundestrainer vor jedem Tur-
nier: „Wir werden uns so gut vorbereiten wie möglich

und uns auf alle künftigen Herausforderungen einstel-
len.“ Der lapidare Verweis auf Glaskugelmangel wäre
sein mutmaßliches Ende. Stattdessen wagt er vorsich-
tige Prognosen und beschäftigt sich mit naheliegen-
den Szenarien. Und das, ganz ohne irgendeine Witwe
Schlotterbeck mit ihrer Kugel zu befragen. Doch
wenn’s um die weniger wichtigen Dinge als Fußball
geht, um die Zukunft unserer Gesellschaft etwa, soll
sich jede Prognose, jedes Szenario und jeder Zu-
kunftsplan aus Mangel an Murmeln verbieten. Da
nützt nur Wahrsagerei oder gar nichts.
Wer sich nicht mit denkbaren Problemen und He-
rausforderungen beschäftigen will, der hat übrigens
noch eine zweite Phrase zur Hand. Zur Glaskugel
kommt die Nebelkerze: „Das muss die Gesellschaft
entscheiden!“ Klingt demokratisch, liberal und offen.
Ist es aber nicht. „Die Gesellschaft“ entscheidet näm-
lich gar nichts. Sie ist weder Subjekt noch Akteur,
noch Entscheidungsträger. Mir jedenfalls ist „die Ge-
sellschaft“ noch nie begegnet. Gerade weil sie nicht
entscheiden kann, verlagert die Gesellschaft in Demo-
kratien ihr Entscheidungsmandat auf die Ebene ge-
wählter Politiker. Und ihr die Karte zurückzuspielen
bedeutet schlichtweg, die Arbeit zu verweigern.
Um „die Gesellschaft“ trotzdem entlastend ins
Spiel zu bringen, erfindet die Politik Kommissionen
und Expertenräte in Hülle und Fülle. Lauter Koryphä-
en, die in der Öffentlichkeit kaum jemand kennt. Das
wichtigste Kriterium für den Sitz in einem Experten-
rat ist der Mangel an starken Meinungen. Genau da-
ran erkennt man ja die Expertise! Am Ende steht ein
zentnerschwerer Befund, der alles analysiert und
nichts empfiehlt. Denn jedes „Sowohl“ hat ja sein „Als
auch“. Da beruhigt es sehr, dass das ohnehin niemand
liest und auch die Experten sich einigen: „Das muss
die Gesellschaft entscheiden!“
Die Entscheidungsvertagung betrifft Fragen wie
das Ausmaß an Überwachung in deutschen Städten,
die Selbstmanipulation unserer Gehirne durch neuro-
nales Enhancement, die Selektion unserer Kinder
durch reproduktionsmedizinische Optimierungen,
selbstfahrende Autos mit eingebauten Todesalgorith-
men oder die Kreation von Weltraumdrohnen und an-
deren intelligenten Tötungswaffen. Über all das sin-
nieren die Experten, die nicht entscheiden wollen,
noch wirklich entscheiden dürfen und auf die nie-
mand hört. Und am Ende entscheiden dann Firmen-
verträge, Geschäftsinteressen, Marktchancen und der
globale Wettbewerb. Den Digitalministern und Digital-
staatssekretären ist das völlig klar. Je weniger Beden-
ken, umso besser steht es um die eigene Karriere. Um
das zu wissen, braucht niemand eine Glaskugel. n

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Foto: Michael Englert für Handelsblatt Magazin


Niemand hat


eine Glaskugel


DAS LETZTE WORT von Richard David Precht

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