Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1
von ulrike nimz
undantonie rietzschel

G


leich hinter Halle ist das Land
aufgewühlt. In weißen Dünen
ragt Abraumsalz in den Him-
mel, das unvermeidliche Erbe
des Kalibergbaus. In den deut-
schen Revieren haben sie Kosenamen für
diese Wahrzeichen – Monte-Kali, Kali-
mandscharo – das klingt nach großer, wei-
ter Welt. In Teutschenthal, Sachsen-An-
halt, sagen sie: Halde. Wenn Jutta Schäl im
Garten der Bäckerei steht, dann fällt ihr
Blick auf die Halde, und der Schatten der
Halde fällt auf sie. Man kann das Wetter
am Salzberg ablesen, sagt sie. Sieht er aus
wie der perfekte Rodelberg, wird die Sonne
scheinen. Sieht er aus wie ein monströser
Maulwurfshügel, gibt es Regen.
Die Bäckerei Schäl gibt es seit 1923, Stra-
ße der Einheit 17. Die Straße beginnt am
Bahnhof und endet auf Höhe eines Gara-
genkomplexes. Reihenhäuser, das Denk-
mal für verunglückte Bergarbeiter, 1,1 Kilo-
meter. Dienstags hält ein mobiler Hofla-
den, einmal im Monat ist Seniorentanz drü-
ben in der Volkssolidarität. Es gibt Pfirsich-
bowle und nach jedem Lied Applaus. Die
Straße ist nicht gerade das Zentrum des Or-
tes, aber das dieser Geschichte.
Die Wende hat das Land verändert, auch
auf der Landkarte. Es gibt keine Grenze
mehr, dafür Straßen, Plätze, Brücken, Tun-
nel der deutschen Einheit. Manche wur-
den vor dem Mauerfall benannt, als hof-
fentlich selbsterfüllende Prophezeiung.
Manche erst danach. Es gibt einen Wander-
weg von Görlitz nach Aachen und eine „Er-
lebnisstraße“ entlang des ehemaligen To-
desstreifens. Wie lebt es sich an den Adres-
sen der Einheit in Ost und West, 30 Jahre
nach dem Mauerfall? Was lässt sich lernen
über das Land, durch Ortsbesuche und den
Zauber der Zufallsbegegnung?
Jutta Schäl, 80, hat Kaffee gekocht, ei-
nen Tisch in der Bäckerei freigeräumt. Sie
tanzt nur noch selten, seit sie einen Geh-
stock braucht. Jahrelang hat sie hinter der
Theke gestanden. Heute führt der Sohn die
Geschäfte, ihr Enkel hat sich auf ausgefalle-
nes Backwerk spezialisiert. Traktor-Torte,
Batman-Torte, auch ein DDR-Kuchen ist
schon bestellt worden, Hammer und Zirkel
aus zuckrigem Fondant. Die Bäckerei
Schäl liegt gegenüber dem ehemaligen Ka-
liwerk. „Wenn die Werkssirene ging, wur-
de es eng hier drin“, sagt Jutta Schäl.
Fragt man die Anwohner der Straße der
Einheit, was typisch ist für Teutschenthal,
ist die erste Antwort: die Grube. Fast jeder
hier hat irgendwann mal dort gearbeitet
oder tut es noch. Seit Beginn des 20. Jahr-
hunderts wurde in Teutschenthal Kali-
und Steinsalz für Düngemittel abgebaut.
Sie haben das Letzte aus der Erde geholt;
die Halde ist an die 100 Meter hoch. Heute
werden unten in der Grube nur noch Hohl-
räume verfüllt – mit Schlacken, Aschen,
Industrieabfällen. Immer wieder klagen
Menschen in Teutschenthal und Um-


gebung über Gestank und Atemnot. Jutta
Schäl aber klagt selten, erzählt heiter, wie
damals die feinen Dederon-Strümpfe
beim Trocknen auf der Leine Löcher beka-
men, der Sohn verrußt nach Hause kam,
weil die Schlote Asche in die Luft bliesen.
„Den Kinderwagen konnteste früher nicht
draußen stehen lassen. Aber auch das war
irgendwie Heimat.“ Die Worte „früher“
und „damals“ hört man oft in Teutschen-
thal: Früher sei das Miteinander herzlicher
gewesen. Früher gab es noch eine Kneipe.
Damals haben bis zu 1200 Menschen im
Werk gearbeitet, heute sind es noch 200.

Einer von ihnen ist Michael Dubilzig. Er
sitzt im hinteren Teil der Bäckerei, ein
schmaler Mann, der aussieht, als wolle er
eins mit dem Tisch werden. Seine Schalke-
Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen. Nach
der Schicht kommt er hierher, um ein Bier
zu trinken. Er kann dann besser einschla-
fen, sagt er. Dubilzig ist an der Straße der
Einheit aufgewachsen. Die hieß schon vor
dem Mauerfall so, wegen des Zusammen-
schlusses von SPD und KPD zur Sozialisti-
schen Einheitspartei Deutschlands (SED).
In den Neunzigern entschied der Gemein-
derat, es bei dem Namen zu belassen.
Schließlich war man so am Puls der neuen
Zeit. Seit 2009 gibt es im abgelegenen Orts-
teil Dornstedt auch eine Straße derdeut-
schenEinheit. Aber die wird von den meis-
ten Navis nicht gefunden und sorgt manch-
mal für Verwirrung bei den Paketboten.

Michael Dubilzig, 56, arbeitete fast zehn
Jahre als Bergmann unter Tage, heute ist
er Anlagenfahrer. Ihm gefiel, dass es im
Schacht kein Wetter gab, sondern immer
um die 20 Grad. „Die größte Gefahr da un-
ten war das Rauchen“, sagt er, und Dubilzig
raucht seit der Jugendweihe. Die Kinder
hätten oft auf der Halde gespielt. Immer
mal wieder sei da oben jemand verschüttet
worden. Wie alle Teutschenthaler kann er
sich an den Bergschlag vom 11. September
1996 erinnern. Manche sagen: „Nine-Ele-
ven“. Zwanzig Sekunden lang bebte die Er-
de, 4,9 auf der Richterskala. Schornsteine
bekamen Risse, eine Hausfassade krachte
in sich zusammen.
Als die Mauer zusammenkrachte, saß
Michael Dubilzig mit Freunden im Kultur-
haus. Sie kauften einen Kasten Bier, bestie-
gen ein Taxi und fuhren Richtung Westen,
für 300 Ostmark, so erzählt er es. Heute
treffen sie sich an den Garagen, wenn sie et-
was trinken wollen. Der letzte Stammtisch
an der Straße der Einheit. Dubilzigs Gara-
ge kann man gut erkennen, die Tür ziert
das Logo seines Lieblingsvereins, unter
der Decke wölbt sich ein Baldachin aus Fan-
schals. Warum gerade Schalke 04, ein west-
deutscher Verein, jedes Spiel ein Auswärts-
spiel? Dubilzig zieht an seiner Zigarette,
hält die Erklärung so knapp wie möglich
und so lang wie nötig: „Bin Bergmann, ge-
nau wie die.“ Was wünscht er sich für Teut-
schenthal? Der Mann, der nur Tina Turner
mehr liebt als die Arbeit unter Tage, sagt:
„Die Straßenbeleuchtung könnte besser
sein. Mir ist es hier manchmal zu dunkel.“
Knapp 400 Kilometer westlich ist es
auch nachts taghell. Seit dem großen Um-
bau flankieren Straßenlaternen den Platz
der Deutschen Einheit. Ihr Neonlicht hält
die Schatten klein, Videokameras filmen
die Straße. Und bevor nun die Debatte um
Hell- und Dunkeldeutschland angeknipst
wird, sei erwähnt, dass es vielen Wiesbade-
nern hier noch nicht beleuchtet genug ist.
Sie fühlen sich unsicher, fürchten sich vor
den jungen Männern, die vor den Wettbü-
ros auf ihrem Handy herumwischen.
Es war der Arbeiteraufstand vom 17. Ju-
ni 1953, der den hessischen Innenminister
veranlasste, die Umbenennung von Stra-
ßen und Plätzen zu empfehlen. Als Aus-
druck der Hoffnung; als könnten Straßen-
schilder den Weg weisen in ein irgend-
wann wiedervereintes Land. Der Wiesbade-
ner Boseplatz, benannt nach einem preußi-
schen Infanterie-General, wurde zum
Platz der Deutschen Einheit, später Park-
platz und Busbahnhof. Als das ehemalige
Kaufhaus in der Mitte des Platzes vor aller
Augen verfiel, bekam er weitere Namen:
„Schandfleck“ und „offene Wunde“. Heute
nennen die Wiesbadener ihn gnädig „Vor-
garten“, denn es hat sich viel getan.
Das Kaufhaus hat die Stadt abreißen las-
sen, Rasen ausgerollt. Der Platz der Deut-
schen Einheit ist heute eine grell-grüne
Wiese, durch die sich der Kesselbach
schlängelt. In einem Würfel aus Stein und
Glas trainiert die Volleyballmannschaft für

die 1. Bundesliga. Die Polizei zog in den neu-
en Klinkerbau gegenüber. Dazwischen
steht verloren ein Stück Beton: 3,60 Meter
hoch, 2,7 Tonnen schwer, über und über
mit Graffiti beschmiert. Es sieht aus, als
hätten es die Bauarbeiter beim Umbau des
Platzes vergessen. Dabei ist es nirgendwo
so gut aufgehoben wie hier, dieses Stück
der Berliner Mauer. 2009 verschenkte die
Bild-Zeitung in einer großen Aktion solche
Mauerfragmente an jedes Bundesland,
auch an Hessen. Zur Einweihung auf dem
Platz der Deutschen Einheit kam der dama-
lige Ministerpräsident Roland Koch und
200 Schüler des nahen Gymnasiums. Koch
bezeichnete das Stück Mauer als „Stein
des Anstoßes“. DieBildschrieb von einem
„Denkmal der Freiheit“.
Nach Berlin reisen Touristen aus aller
Welt, um die Reste des Bauwerks zu bestau-
nen, das Deutschland mehr als 28 Jahre
lang teilte. Das Wiesbadener Mauerstück
ist hinter Bäumen verborgen. Eine zerbro-
chene Bierflasche liegt neben dem bemoos-
ten Sockel. Wer Passanten danach fragt,
blickt in ratlose Gesichter.
Erdal Aslan, 40, weiß um die Bedeutung
des Stücks Beton. Als sein Lehrer im Leis-
tungskurs Geschichte einst wissen wollte,
was die 70 000 Menschen am 9. Oktober
1989 skandierten, als sie um den Leipziger
Innenstadtring liefen, meldete Aslan sich
als Einziger, sagte: „Wir sind das Volk“.
Aslan sitzt auf der Terrasse eines Cafés
direkt am Platz der Deutschen Einheit. Es
gibt Eis und Waffeln, die aussehen wie Dö-
ner mit Sahne. Anfang der Nullerjahre reis-
te Aslan mit dem Ausländerbeirat in die öst-
lichste Stadt Deutschlands – Görlitz ist die
Partnerstadt von Wiesbaden. Er kann sich
an die mittelalterlichen Fassaden erin-
nern, aber auch an die Leere in den Stra-
ßen. An das Gefühl, fremd zu sein. Die
Gruppe bestand aus 20 Leuten, sagt er. Tür-
ken, Kurden, Italiener. Die Menschen
schauten ihnen auf der Straße hinterher.
Jemand rief etwas, es klang nicht freund-
lich. „Bis zu diesem Tag haben wir uns ei-
gentlich als Teil von Deutschland gefühlt“,
sagt Erdal Aslan. Seine Eltern stammen

aus Erzurum, einer Stadt im Osten der Tür-
kei. 1969 kam der Vater als Gastarbeiter
nach Wiesbaden, arbeitete bei der Sektkel-
lerei Henkell, in einem Grillimbiss, betrieb
am Ende sein eigenes Billard-Café. Er habe
nie perfekt Deutsch gelernt, sagt Aslan.
Aber einer der Lieblingssätze des Vaters sei
folgender gewesen: „Babbel nicht so viel.“
Die Eltern schickten Erdal Aslan auf das
Gymnasium am Platz der Deutschen Ein-
heit. Mutter und Vater hatten nur die
Grundschule besucht, der Sohn machte Ab-
itur. Heute arbeitet Aslan als Journalist.
Sein Büro liegt direkt gegenüber von dem
Hähnchen-Grill, den der Vater einst leite-
te. In der Türkei nennt man Leute wie Er-
dal Aslan „Almancı“ – „Deutschländer“.
Nicht deutsch, aber auch nicht türkisch.
Als der Vater starb, ließ er sich in der Tür-
kei beerdigen. Damit sein Sohn nicht ver-
gaß, woher seine Familie stammt.
Friedliche Revolution, Wiedervereini-
gung, Mauerfall. Aslan weiß, dass das deut-
sche Geschichte ist. Aber es ist nicht seine.
Wenn sie hier, im Wiesbadener Westend
von Einheit sprechen, geht es um etwas an-
deres. Hundert Nationen leben in dem Vier-
tel zusammen. Es ist der am dichtesten be-
siedelte Stadtteil Deutschlands. Was der
dünn besiedelte Osten bräuchte, wäre Zu-
wanderung, glaubt Aslan. Auch durch Men-
schen wie ihn. Nirgendwo in Wiesbaden
gibt es so wenige AfD-Wähler wie im West-
end. Falls sich doch ein „besorgter Bürger“
hierher verirrte, er würde ihn in die Mo-
schee mitnehmen, in die türkischen Tee-
stuben, ins kurdische Restaurant. „Ich wür-
de ihnen einen richtigen Kulturschock ver-
passen“, sagt Aslan und lacht.
Den Alltag im Viertel beschreibt er als
„friedliche Koexistenz“. Als die deutsche
Mannschaft bei der Fußball-EM 2016 ins
Halbfinale einzog, blockierten Hunderte
Menschen eine der Straßen am Platz der
Deutschen Einheit. Es gibt ein Video aus
dieser Nacht: Die Leute schwenken
Deutschlandflaggen, setzen sich auf den
Asphalt und springen auf Kommando
hoch. Kurden, Türken, Bulgaren, Deut-
sche, sie singen „Humba Humba Täterä.“

54 30 JAHRE FALL DER MAUER Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


Die Bäckerei Schäl in
Teutschenthal (oben links)
gibt es seit 1923, Michael
Dubilzig (rechts) lebt in
Sachsen-Anhalt und ist
trotzdem Schalke-Fan.
DieBild-Zeitung schenkte
der Stadt Wiesbaden einst
ein Stück Mauer (unten).
FOTOS: CHRISTIAN A. WERNER (2),
JANINA STADEL / MERKURIST.DE

Wo die


Einheit wohnt


Die Wende hat die Landkarte verändert. Es gibt keine


Grenze mehr – dafür Straßen, Plätze, Brücken


und Tunnel der Einheit. Eine Deutschlandreise


SZ-Grafik: Eva König; Quelle: Statistisches Amt der DDR, Statistisches Bundesamt

KAUFKRAFT


für ein Herrenrad

11,7 Tage
in Westdeutschland

3,2 Tage
in Ost- und Westdeutschland

für eine Waschmaschine

63,4 Tage


in Westdeutschland

7,6 Tage
in Ostdeutschland

30,1 Tage


musste 1989 ein durchschnittlicher
Vier-Personen-Haushalt für einen Farbfernseher
in Ostdeutschland arbeiten
Free download pdf