Warten auf den Durchbruch
Verheißung und Realität der
künstlichen Intelligenz
Verheißung: Kümmern sich
um den Haushalt wie »Rosie
the Robot« aus der Zeichen-
trickserie »Die Jetsons«.
Realität: Bislang gibt es nur
selbstfahrende Staub-
sauger, die vor Treppen und
Türschwellen haltmachen.
Roboter im Haushalt
Verheißung: Fahrzeuge
fahren autonom durch
die Straßen.
Realität: Die Algorithmen
werden derzeit nicht mit
den kaum vorhersehbaren
Zwischenfällen fertig, die
im Straßenverkehr jederzeit
auftreten können.
Selbstfahrende Autos
Verheißung: Computer schreiben
selbstständig Texte.
Realität: Computer fügen Daten
in vorbereitete Lückentexte ein:
»In der <24.> Spielminute
erzielte <SCHMIDT> per
<KOPFBALL> den Anschluss-
treffer.«
Roboterjournalisten
Verheißung: Intelligente
Assistenten verstehen Texte,
buchen Reisen und orga-
nisieren Meetings.
Realität: Das Textverständnis
von Facebooks »M« ent-
täuschte, das Projekt wurde
eingestellt. Zu viel Arbeit
blieb an menschlichen
Helfern hängen.
Chatbots
Verheißung: Unterstützt
Ärzte unter anderem bei
Krebsdiagnosen. Kann
nach Auswertung der
Fachliteratur Therapien
vorschlagen.
Realität: Hat sich an mehreren
Kliniken wegen zu vieler Fehler
als unbrauchbar erwiesen.
IBM Watson
ting«, sagt Marcus. »Tief ist das nur in
einem platt technischen Sinn. In philoso-
phischer Hinsicht gibt es nichts Flacheres.«
Die Ergebnisse sind oft trotzdem beacht-
lich – vorausgesetzt, die Software muss
sich nicht zu weit von den Beispieldaten
entfernen, mit denen sie trainiert worden
ist. »Bei einem Brettspiel wie Go geht das
sehr gut«, sagt der Forscher. »Dort läuft
alles genau nach den Regeln, und sie än-
dern sich nie.«
Im echten Leben aber ist stets mit Über-
raschungen zu rechnen. Da genügt eine
Winzigkeit, und die künstliche Intelligenz
kennt sich nicht mehr aus. Marcus erzählt
dazu gern die Geschichte vom Verkehrs-
schild, das mit bunten Aufklebern verziert
war – prompt glaubte der Computer, in
einen offenen Kühlschrank zu blicken.
Ein Mensch wüsste ohne nachzudenken,
dass die Aufkleber nicht zum Objekt gehö-
ren, er sähe das Schild. Der Computer sieht
eine Verteilung von Bildpunkten; er hat
keine Ahnung, worauf es hier ankommt.
Bei vielen Anwendungen sind Fehler
dieser Art durchaus hinnehmbar. Wenn
Amazon fünf Produkte empfiehlt, und nur
drei davon gefallen dem Kunden, kommt
niemand zu Schaden. Aber eine Software,
die Stellenbewerber vorsortiert, sollte sich
nicht wie eine Lotterie verhalten. Und ein
selbstfahrendes Auto darf sich überhaupt
keine Aussetzer erlauben.
Das gilt auch für die Maschinenwesen,
die womöglich eines Tages als Dienstboten
und Pflegehelfer zum Einsatz kommen.
»Wer würde wohl einen Roboter kaufen«,
sagt Marcus, »der den Opa in vier von fünf
Fällen unfallfrei ins Bett bringt?«
Im Internet kursieren dennoch Videos,
in denen bewegliche Automaten aller Art
schon mächtig Eindruck machen. Das ka-
lifornische Unternehmen OpenAI präsen-
tierte kürzlich einen Roboter, der in einer
Hand einen Rubik-Zauberwürfel drehte,
bis die Farben korrekt verteilt waren. Das
geschickte Hantieren hatte der Steuercom-
puter sich selbst antrainiert.
Die Firma Boston Dynamics wiederum
erregt seit Jahren Aufsehen mit Videos von
turnerisch agilen Maschinen. Der huma-
noide Roboter »Atlas« trat da schon mit
einem Rückwärtssalto auf; auch bewältigte
er mit gewagten Sprüngen einen Hinder-
nisparcours. »Aber für das Video brauch-
ten sie 21 Anläufe, und die Kulisse war
sorgfältig präpariert«, sagt Marcus. »Ich
bezweifle, dass so ein Kunststück irgend-
wo im Freien gelingen könnte.«
Die Netzwelt jedoch gruselt sich gern
bei solchen Vorführungen, als stünde
der »Terminator« bald vor der Tür. Für
diesen Fall weiß Marcus einen Rat: Man
lackiere den Türknopf schwarz, am bes-
ten vor schwarzem Hintergrund – dann
dürfte der Eindringling ihn gar nicht erst
finden.
Wer ganz sichergehen will, kann noch
ein paar Bananenschalen und Nägel auf
den Boden streuen. Damit wäre er auf
absehbare Zeit vor übelwollenden Robo-
tern gefeit.
Der Laie lässt sich da leicht täuschen:
Einer Maschine, die entfernt menschen-
ähnlich agiert, traut er echte Bosheit zu.
Aus dem gleichen Grund ist er anfällig für
den Glauben, eine Software, die ihn im
Go schlägt, könne wirklich denken.
Davon profitiert auch der Zauber des
Deep Learning: Dass der Computer nütz-
liche Dinge lernen kann und trotzdem
nichts versteht, widerspricht jeglicher In-
tuition. Man glaubt, das Erwachen wahrer
Intelligenz zu beobachten.
Manche Vertreter des Fachs sind wohl
selbst nicht frei von dieser Illusion. Ihrer
Überzeugung nach genügt es, die Maschi-
nen weiterhin mit Unmengen von Beispiel-
daten zu trainieren – das Denkvermögen
werde sich dann schon einstellen.
Kritiker Marcushält den Glauben an das
reine Lernen jedoch für abwegig, das führe
zu keinem Begreifen. Die Kollegen sollten
lieber beobachten, wie Kinder sich die Welt
aneignen. »In ihren Gehirnen ist schon eine
Menge angelegt«, sagt Marcus. »Dazu ge-
hört ein Grundverständnis von Kausalität:
Wenn ein Ball auf einen anderen trifft, wird
der sich von der Stelle bewegen.«
Der angeborene Sinn für Ursache und
Wirkung hilft den Kindern, Rasseln und
Lichtschalter zu verstehen, ohne viel Zeit
zu verlieren. Sie brauchen keine Millionen
Versuche, um zu erkennen, wie sich Lego-
steine verhalten. »Kinder setzen die Steine
einfach aufeinander und beobachten, was
umfällt und was nicht«, sagt Marcus. »Da-
raus ziehen sie ihre Schlüsse über die Physik,
und sie bilden Theorien. Deshalb fragen sie
auch andauernd: Warum? Wie geht das?«
Ein neuronales Netz dagegen fragt nach
gar nichts. Viel wäre gewonnen, glaubt der
Forscher, wenn es eines Tages Fragen stel-
len könnte: »Leider sind die Entwickler
darauf fixiert, wie man auf Fotos noch mehr
Hunderassen mit noch weniger Trainings-
daten voneinander unterscheiden kann.«
Marcus ist überzeugt, dass auch lernen-
de Computer ein eingebautes Grundwis-
sen brauchen, wie Kinder es mitbringen.
Aber woher nehmen? Er denkt da vor al-
lem an die klassische KI-Forschung der
Sechzigerjahre. Damals versuchten die
Forscher, ihren Maschinen so etwas wie
Intelligenz einfach einzuprogrammieren –
in Form von Expertenwissen, von Fakten
und von Regeln, die es schrittweise abzu-
arbeiten galt.
Das Verfahren war allerdings denkbar
umständlich. Damit ein Roboter etwa Ob-
jekte erkennen konnte, mussten Forscher
oft jahrelang an handgefertigten Regeln
tüfteln. Damals waren freilich auch die
technischen Mittel sehr beschränkt. Seine
Technik
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