Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1

R


egenwurmforscher, das versteht sich
von selbst, stapfen durch Wälder
und über Wiesen und graben Regen-
würmer aus. Doch für Helen Phillips gilt
das nicht.
»Ich betreibe nicht gern Feldstudien«,
sagt die Ökologin vom Deutschen Zen-
trum für integrative Biodiversitätsfor-
schung Halle-Jena-Leipzig (iDiv). Die ein-
zigen Würmer, die sie je eigenhändig aus
dem Boden geschaufelt hat, leben im Gar-
ten ihrer Eltern.
Gehoben hat Phillips stattdessen einen
Datenschatz. Gemeinsam mit ihrem iDiv-
Kollegen Nico Eisenhauer hat sie eine
Weltkarte der Regenwürmer erstellt, die
jetzt als Titelstück im Fachblatt »Science«
erschienen ist. Mehr als 6900 Standorte
in 57 Ländern haben die Forscher ausge-
wertet, es ist die größte Datensammlung
zur Regenwurm-Biodiversität – erstellt
auch noch in der Rekordzeit von nur drei
Jahren.
Phillips und Eisenhauer wollten für
möglichst viele Orte auf der Welt wissen:
Wie viele Exemplare von Regenwürmern
sind jeweils im Erdreich versammelt?
Welche Arten kommen vor? Ein solcher
Katalog ist von ziemlicher Bedeutung:
Kaum ein Geschöpf prägt das Ökosystem
Boden so sehr wie die darin hausenden
Gliedertiere. Auf einem Quadratmeter fin-
den sich mitunter mehrere Hundert von
ihnen, rund 3000 Arten sind weltweit be-


schrieben – vom allseits bekannten Lum-
bricus terrestris, dem Gemeinen Regen-
wurm, bis zu Megascolides australis, der
drei Meter messen kann. »Ich gehe da-
von aus, dass 70 Prozent der Arten
noch gar nicht entdeckt sind«, sagt
Eisenhauer.
Der griechische Philosoph Aris-
toteles nannte die Würmer einst die
»Eingeweide der Erde«: Manche fres-
sen pro Tag das 30-Fache ihres Kör-
pergewichts an Erdreich und beschleuni-
gen somit den Abbau von Blättern und an-
derem Biomüll. Sie graben Gänge und
Wohnröhren und lockern dadurch den Bo-
den auf; Wasser kann dann schneller in
die Erde sickern. Wo viele Regenwür-
mer vorkommen, gibt es weniger
Bodenerosion. Pflanzen gedeihen
besser, weil die Würmer Nährstof-
fe leichter verwertbar machen.
Nur: Wo leben besonders
viele der emsigen Nützlinge?
Wo kommen die meisten Ar-
ten vor? Und warum? Um all
das herauszufinden, mussten Phillips und
Eisenhauer erst einmal sehr viele Kollegen
kennenlernen.
»Wir wussten, dass es zu unseren Fragen
Daten von vielen Orten auf der Welt gibt«,
erklärt Ökologe Eisenhauer, »wir wussten
aber nicht, ob alle Forscher sie uns zur Ver-
fügung stellen würden.« Eisenhauer und
seine Mitstreiter reisten zu internationalen
Konferenzen, sie schrieben E-Mails und
durchforsteten soziale Netzwerke nach
passenden Experten. Am Ende waren alle
bereit, ihr Wurmwissen zu teilen: 141 Au-
torinnen und Autoren listet das »Science«-
Paper auf.
So offenbart die Wurmzählung auch ei-
nen Wandel in der Zusammenarbeit zwi-
schen Forschern auf der ganzen Welt.
»Noch vor Kurzem haben Wissenschaftler
nicht gern ihre Ergebnisse für Projekte
herausgegeben, die sie nicht selbst leite-
ten«, sagt Eisenhauer, »aber globale Erhe-

bungen von dieser Di-
mension kann niemand
mehr allein bewältigen.«
Die verblüffendste Erkenntnis
der Studie: Unter der Erde folgt die
Artenvielfalt anderen Gesetzen als da -
rüber. Bisher galt: Der bunteste Artenmix
findet sich in tropischen Regionen; dort
brachte die Evolution die meisten In-
sekten-, Vogel- und Pflanzen-
arten hervor. »Bei Boden-
bewohnern jedoch ist
es erstaunlicherweise
genau umgekehrt«,
sagt Phillips.
Konkret bedeutet
dies: Die größte lokale
Regenwurmvielfalt fin-
det sich in den gemäßigten
Breiten Europas, Neuseelands
und im Nordosten der USA. In diesen Re-
gionen ist oft auch die Anzahl der Tiere
pro Quadratmeter im Durchschnitt am
höchsten. Was im Verborgenen haust, so
die Erklärung der Biologen, scheint andere
Ansprüche zu haben als Lebewesen an der
Oberfläche.
Diese Regeln gelten, wie Untersuchun-
gen zeigen, wohl auch für andere Boden-
bewohner wie Fadenwürmer, Pilze und
Insekten. Eisenhauer wirbt deshalb dafür,
bei der Ausweisung von Schutzgebieten
nicht nur an das Leben über der Erde zu
denken.
Wenig Artenreichtum in der oberirdi-
schen Fauna bedeute nicht, dass auch
darunter nichts Schützenswertes existie-
re – und umgekehrt. »Nur weil wir sie
nicht sehen, sollten wir die Lebewesen im
Boden nicht vergessen«, mahnt er. »Sie
haben enormen Einfluss auf andere Orga-
nismen und auf die Funktion von Öko -
systemen.«
Doch nicht überall auf der Welt hat ihre
Gegenwart nur positive Effekte. In Nord-
amerika, so fand Eisenhauer heraus, scha-
den Regenwürmer sogar der Artenvielfalt.
Jahrtausendelang kamen sie dort kaum
vor, erst europäische Siedler schleppten
sie ein. Die Invasoren stießen auf para -
diesische Bedingungen – keine Fress -
feinde, viel Nahrung. In Kanada hat Ei-
senhauer 600 Würmer pro Quadratmeter
ausgegraben, so viele wie an keinem an-
deren Ort. Weil sie sich unkontrolliert ver-
mehren konnten, beförderten sie das
Aussterben seltener Farne und anderer
Pflanzen.
Auch weiterhin gibt es etliche weiße Fle-
cken auf der Weltkarte der Regenwürmer,
vor allem in großen Teilen Afrikas und
Asiens. Russische Wissenschaftler graben
sich am iDiv derzeit durch Berge von Fach-
artikeln in ihrer Muttersprache. Eisenhau-
er: »Wir sind noch lange nicht fertig.«
Julia Koch

DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019

Wissenschaft

Eingeweide


der Erde


UmweltIn Rekordzeit haben
Biologen eine Volkszählung der
Regenwürmer geschafft –
mit erstaunlichen Erkenntnissen.

118


1 m²^ Oberboden* (0 bis
20 cm Tiefe) enthält u. a.:

*Im Grünland, Quelle: J. Ottow

10
100 bis 200
bis zu 300
100 bis 300
bis zu 10 000
bis zu 100 000
bis zu 1 Million
10 Millionen

Schnecken
Asseln
Regenwürmer
Tausendfüßer
Insektenlarven
Springschwänze
Hornmilben
Fadenwürmer

Schnecken
Asseln
Regenwürmer
Tausendfüßer
Insektenlarven
Springschwänze
Hornmilben
Fadenwürmer

Aktive Unterwelt
Anzahl der Tiere im Erdreich

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