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14
63%
Tabuzonen
Umfrage: Wie Bundesbürger die folgende
Aussage beurteilen
Allensbach-Umfrage vom 3. bis 16. Mai 2019; 1283 Befragte
Sehe das auch so
Sehe das nicht so
unentschieden
»Heutzutage muss man sehr aufpassen, zu
welchen Themen man sich wie äußert. Es gibt
viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen
akzeptabel und zulässig sind und welche eher
tabu.«
davon. Garton Ash wendet sich gegen
den Boykott politisch missliebiger Pro -
fessoren oder Gastredner. Universitäten,
fordert er, sollten »der größtmöglichen
Bandbreite an einflussreichen und kon-
troversen Ansichten eine Plattform
bieten, um diesen dann mit höflicher, ro-
buster und gut informierter Kritik zu be-
gegnen«. Studentischen Protest gegen
Redner hält er für legitim, solange die
sprechen dürfen.
Garton Ash wendet sich sogar dagegen,
Hate Speech zu verbieten. »Wenn wir al-
les, was Menschen beleidigen kann, und
alle Tabus aller Kulturen dieser Welt zu-
sammenfassen und für unverletzlich erklä-
ren wollten, wäre kaum noch etwas übrig,
worüber wir reden könnten.« Ein Mindest-
maß an Zivilität sei zwingend, das sagt
auch Ash.
Aber wo ist die Grenze? Es muss sie ge-
ben, aber wo genau liegt sie in einem Land
wie Deutschland mit seiner nationalsozia-
listischen Vergangenheit und seiner rechts-
terroristischen Gegenwart? Einem Land,
in dem ein Antisemit die Synagoge in Hal-
le angreift und zwei Menschen ermordet,
einem Land, in dem der CDU-Politiker
Walter Lübcke Opfer eines Anschlags
wird. Beide Täter hatten sich im Netz ra-
dikalisiert, hochgeputscht von hemmungs-
loser Rhetorik.
Der Brite Garton Ash sagt, dass wir vor-
sichtig sein müssen mit den Grenzen, die
wir setzen, auch wenn es schwerfällt. Mehr
Meinungsfreiheit führe zu mehr Meinungs-
vielfalt und mehr Meinungsvielfalt zu
mehr Streit. Das ist anstrengend, natürlich,
aber er plädiert dafür, sich nicht allzu
schnell beleidigt zurückzuziehen, sondern
Hassrede entweder zu ignorieren oder ihr
selbstbewusst zu widersprechen. »In einer
Welt zunehmender und zunehmend ver-
trauter Vielfalt sollten wir die Leute nicht
dazu ermutigen, dünnhäutig zu sein, son-
dern etwas dickfelliger zu werden, damit
sie mit den Unterschieden leben und sie
bewältigen können.«
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Titel
Eine Gesellschaft, die zu große Rück-
sicht auf Sensibilitäten nehme, schaffe
neue Probleme. In Deutschland, sagt Gar-
ton Ash, hätten jahrelang Intellektuelle,
Journalisten und Politiker die Ängste vor
muslimischer Einwanderung nicht genü-
gend thematisiert. »Je weniger Menschen
das Problem öffentlich ansprachen«,
schreibt Garton Ash, der Deutsch spricht
und sich gut auskennt hierzulande, »umso
mehr dachten daran – und sprachen ver-
mutlich privat, in der Kneipe oder zu Hau-
se, darüber.« Der Druck des öffentlich
Unausgesprochenen sei »wie in einem
Dampfkochtopf« gestiegen und habe sich
schließlich 2010 in Thilo Sarrazins Buch
»Deutschland schafft sich ab« entladen,
einem Millionenbestseller. »So kam es,
dass ein für Deutschland wirklich wich -
tiges Problem nicht auf guter Informa -
tionsgrundlage in einer offenen Diskussion
abgehandelt wurde, sondern anhand eines
stinkenden Gebräus von Eugenik und Kul-
turpessimismus.«
Es sind wie in den USAdie Hochschulen,
an denen die Kämpfe darüber, was sagbar
ist, im realen Leben, ausgetragen werden.
Und es ist kein Zufall, dass einer der pro-
minentesten dieser Fälle sich um den His-
toriker und Gewaltforscher Jörg Babe-
rowski von der Humboldt-Universität in
Berlin dreht. Baberowski wagte es 2015,
die Flüchtlingspolitik Angela Merkels und
die Betonung der Willkommenskultur in
Deutschland zu kritisieren. Als ihn der
Ring Christlich-Demokratischer Studenten
und die Konrad-Adenauer-Stiftung an die
Uni Bremen einluden, musste die Veran-
staltung in die Räume der Stiftung verlegt
werden, Polizisten patrouillierten vor dem
Gebäude. Der Bremer Asta hatte Flugblät-
ter verteilt, Überschrift: »Rechtsradikalen
das Podium nehmen!«.
Baberowski klagte gegen den Asta. In-
zwischen hat das Oberlandesgericht Köln
entschieden, dass der Bremer Asta wieder
behaupten darf, Baberowski verbreite ge-
waltverherrlichende Thesen, verharmlose
das Anzünden von Flüchtlingsunterkünf-
ten, stehe für Rassismus und vertrete
rechtsradikale Positionen. Das Oberlan-
desgericht hat nicht festgestellt, dass Ba-
berowski das alles wirklich tut, nur, dass
es unter die Meinungsfreiheit des Asta fal-
le, all das zu behaupten.
Vergleichsweise zahm fielen im Mai die-
ses Jahres die Proteste gegen den Islam-
wissenschaftler Hans-Thomas Tillschnei-
der an der Universität Bayreuth aus,
Leiter des Seminars »Eine kompakte Ein -
führung in das islamische Recht«. Till-
schneider sitzt für die AfD im Landtag
von Sachsen-Anhalt, er ist deren wissen-
schaftspolitischer Sprecher, sein Büro in
Halle hatte er eine Zeit lang im Haus der
dortigen Identitären Bewegung. Er gilt
das Gefühl geben, nicht frei reden zu kön-
nen. Heute heißt das »chilling effect«.
»Jeder hat das Recht, seine Meinung in
Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und
zu verbreiten und sich aus allgemein zu-
gänglichen Quellen ungehindert zu unter-
richten. Die Pressefreiheit und die Freiheit
der Berichterstattung durch Rundfunk und
Film werden gewährleistet. Eine Zensur
findet nicht statt.«
Das ist Artikel 5 Absatz 1 des Grund -
gesetzes. Drei Sätze, 44 Wörter – mehr
brauchte es 1949 nicht, um für Deutsch-
land eines der wichtigsten Grundrechte zu
postulieren, die Meinungsfreiheit.
Der Historiker Timothy Garton Ash,
der in Oxford und Stanford lehrt, braucht
sieben Jahrzehnte später 700 Seiten, um
all die Probleme zu analysieren, die sich
für die Meinungsfreiheit in einer globali-
sierten, medial vernetzten Welt ergeben.
»Redefreiheit« heißt sein Buch, drei Jahre
nach Erscheinen ist es das Standardwerk
zum Thema.
Noch nie konnten so vieleMenschen
wie heute so viele Meinungen frei äu-
ßern – und diese über alle Grenzen hinweg
verbreiten. Das liegt am Internet, an der
weltweiten Migration und an der Öffnung
westlicher Gesellschaften, in denen sich
immer mehr Minderheiten Gehör ver-
schaffen. Garton Ash spricht von einer
neuen Epoche der Meinungsfreiheit.
Gleichzeitig treten die Risiken dieser
Meinungsfreiheit so offen zutage wie nie,
darunter wahre »Schlammfluten von Be-
schimpfungen und Beleidigungen«.
Wie frei sollte die Rede sein? Und an
welche Konventionen sollten sich die Dis-
kursteilnehmer halten? Der Streit darüber
wird oft in aller Härte ausgefochten, nicht
nur in Deutschland. Die Welt, sagt Garton
Ash, sei nicht zum globalen Dorf gewor-
den, wie es mal in den Sechzigerjahren
hieß, sondern zur globalen Großstadt – zu
einer »virtuellen Kosmopolis«.
Dörfer sind kleine, recht homogene
Orte. In Großstädten leben viele Men-
schen um einen herum, aber sie sind ganz
anders als man selbst. Sie begegnen einem
selten oder nie, und wenn, dann meist nur
kurz. Sie bleiben einem fremd. Umso wich-
tiger wird die Meinungsfreiheit, das ist
eine von Garton Ashs Thesen. Sie erleich-
tert es, mit der Vielfalt zu leben, sie schult
uns in der Kunst der Toleranz. »Nur wenn
die freie Meinungsäußerung gewährleistet
ist, kann ich verstehen, was es heißt, du
zu sein.«
Garton Ash ist ein angelsächsischer Li-
beraler, er listet zehn Prinzipien auf, die
das Recht auf Meinungsfreiheit künftig
ebenso garantieren sollen wie die Würde
Andersdenkender. »Wir nutzen jede
Chance, Wissen zu verbreiten, und tole-
rieren hierbei keine Tabus«, heißt eines