Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
2000 Flüchtlinge im Lande aufzunehmen.
Auf diesem Schiff reisen der Katalane
Víctor Dalmau und seine Frau Roser ein.
Ihre Flucht- und Liebesgeschichte steht
im Zentrum des Buches. Und ebendieser
Neruda, Dichter der Fliehenden, selbst
oft auf der Flucht.
Oh ja, sie sei Neruda einmal begegnet,
erklärt Allende lachend. »Das war 1973,
Ende Juli/Anfang August, kurz vor der
Machtübernahme Pinochets«, sagt sie. Al-
lende war damals Journalistin, arbeitete
für das feministische Magazin »Paula«,
für das sie humorvolle Artikel schrieb.
Neruda las sie und liebte diese Texte.
Davon wusste die junge Journalistin nichts.
Neruda war so begeistert von den Arti-
keln, dass er beim Verlagshaus anrief und
um einen Besuch der lustigen Journalistin
bat. Die Bitte gab man gern weiter, aller-
dings ohne Allende den Anlass mitzutei-
len. Sie dachte, sie solle den großen Dich-
ter interviewen.
Sie fuhr zu ihm, sie tafelten, chileni-
scher Weißwein, Spezialitäten, sprachen,
lachten. Isabel Allende hatte sich für das
Treffen extra einen Kassettenrekorder ge-
kauft. Irgendwann drängte sie dann doch
auf das Interview, was der Dichter brüsk
zurückwies: »Ich werde mich doch von
Ihnen nicht interviewen lassen«, zitiert
Allende ihn jetzt hier aus der Erinnerung
und lacht. »Sie sind die schlechteste Jour-
nalistin in diesem Land. Sie setzen sich
selbst in den Mittelpunkt jeder Geschichte.
Sie können niemals objektiv sein. Und ich
bin sicher: Wenn Sie keine Geschichte fin-
den, denken Sie sich einfach eine aus. Wa-
rum wechseln Sie nicht in die Literatur?
Denn dort ist all das, was im Journalismus
ein Fehler ist, von unschätzbarem Wert.«
Und sie fügt hinzu: »Ich wünschte, ich hät-
te damals auf ihn gehört. Aber ich war
noch nicht so weit.«
Kurz danach folgte das Exil in Vene-
zuela, eine lange, dunkle, schwere Zeit
und nach Jahren dann: ihre Geburt als
Schriftstellerin: »Exil bedeutet Verlust
von allem. Du verlierst dein Land und
alle Gewohnheiten. Jeder Mensch hat
diese Gewissheit, dass du an einen Ort
gehörst, dort hingehörst. Und das ver-
lierst du. Aber es zwingt dich auch, stär-
ker zu werden, widerstandsfähiger. ›Das
Geisterhaus‹, das ich 1981 schrieb, viele
Jahre nachdem ich Chile verlassen hatte,
war eine Übung in Nostalgie. Der Ver-
such, die Welt, die ich verloren hatte, neu
zu errichten. Zu rekonstruieren.«
An diesem Projekt der Nostalgie und
der Stärke arbeitet Isabel Allende bis
heute. Auch ein politisches Projekt, von
einer Frau, die nichts so absurd und lustig
findet wie den Gedanken – wie einst
Pablo Neruda –, von der Literatur in die
Politik zu wechseln.Volker Weidermann

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STEFFEN JÄNICKE / DER SPIEGEL

ESTEBAN FELIX / DPA

Autorin Allende in Berlin, Protestierende in Santiago: »Ich hasse Kompromisse«

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