Wiedererstarken der überholt geglaubten
Kategorien »links« und »rechts« erlebt. Es
geht um Selbstvergewisserung, dass man
zu den Richtigen gehört. Um diese Mecha-
nismen nachzuvollziehen, hilft ein genauer
Blick auf die Genese des Falls Lucke.
Es war der Asta in Hamburg, der Ende
Juli, als klar wurde, dass Lucke an die Uni-
versität zurückkehren würde, ein State-
ment mit markigen Worten veröffentlichte.
»So ein Mensch gehört an keine Universi-
tät, und speziell die Universität Hamburg
kann auf seine Rückkehr getrost verzich-
ten.« Inzwischen sind die Studierenden-
vertreter wohl selbst der Ansicht, dass das
nicht so klug war. Trotz seiner »kritischen
Vergangenheit« habe Lucke »jedes Recht,
an die Uni zurückzukehren«, heißt es in
der jüngsten Veröffentlichung.
Am 16. Oktober sollte Bernd Lucke sei-
ne erste Vorlesung halten. Der Asta hatte
vor dem Hörsaal zu einer lange angekün-
digten Kundgebung geladen. Studierende
kamen, interessierte Bürger, die »Omas
gegen Rechts« und Vertreter der Antifa.
Im Netz kursieren verschiedene Videos,
was dann drinnen passierte. Man sieht
Bernd Lucke, wie er grinsend im Audito-
rium hockt, Antifa-Fahnen ragen ins Bild.
Auf der Bühne versuchen Asta-Vertreter
mit einem Megafon, die Masse zu beruhi-
gen. In einem anderen Video hört man die
Studierenden singen und klatschen, es hat
ein bisschen was von Ferienlager. »Die
Stimmung war friedlich«, sagt Asta-Refe-
rent Leo Schneider. »Auch wenn nach au-
ßen hin ein anderes Bild gezeichnet wurde,
damit Lucke sich als Opfer stilisieren
kann.« Die Polizei griff nicht ein.
Im Netz wurde da längst diskutiert, ob
die Aktion in Hamburg eine Attacke auf
die Meinungsfreiheit in Deutschland sei.
Die zwei Frontlinien: »Keinem muss ge-
fallen, was Bernd Lucke zu sagen hat.
Aber auf ähnliche Weise haben national-
sozialistische Studenten seinerzeit jüdische
Professoren von Universitäten vertrie-
ben«, twitterte der Lokalpolitiker Thomas
Ney, der für die Piraten in der Stadtver-
ordnetenversammlung von Oranienburg
sitzt. »Ich weiß nicht, ob der Antifa diese
methodische Ähnlichkeit bewusst ist.«
Wie die Gegenseite argumentiert, illus-
triert ein Tweet von Robin Mesarosch, Me-
diareferent im Bundestagsbüro von Au-
ßenminister Heiko Maas: »Bernd Lucke
ist der Gründer der erfolgreichsten deut-
schen Nazi-Partei seit der NSDAP. Er hat
in einem Vorlesungssaal nichts verloren.
Das ist keine arbeitsrechtliche, sondern
eine gesellschaftliche Frage. Die Studieren-
den in Hamburg retten gerade die Ehre
dieser Gesellschaft.«
Mehr geht nicht.
Der Präsident der Uni Hamburg heißt
Dieter Lenzen. Er feiert dieses Jahr das
100-jährige Bestehen seiner Universität,
die gerade erstmalig in die Liga der elf
deutschen Exzellenz-Hochschulen auf-
steigt. Besser hätte es für Lenzen kaum
laufen können, doch plötzlich geht es nur
noch um Lucke.
Damit der seine Vorlesung nun im drit-
ten Anlauf nun abhalten konnte, seien der
Stadt Hamburg und der Universität Kos-
ten entstanden, »wie wir es nie zuvor er-
lebt haben«, sagt Lenzen. Studierende hät-
ten sich gemeldet, sie hätten Angst, in der
Vorlesung zu sitzen, technisches Personal
habe sich geweigert, Arbeiten im Umfeld
von Luckes Hörsaal zu verrichten. »Ob je-
mand ein Erlebnis als belastend empfindet,
kann nur die betreffende Person beurtei-
len«, sagt Lenzen. »Wir haben ja auch eine
sehr sensibilisierte Generation, die von ih-
rem Selbstverständnis her sehr gegen Ge-
walt eingestellt ist.«
Im Asta der Uni Hamburg sitzen Leo
Schneider und Niklas Stephan, zuständig
für Soziales und Antidiskriminierung. Bei-
de studieren Politikwissenschaften, sie wir-
ken erschöpft und ein bisschen entgeistert,
wie alles gekommen ist, nämlich anders
als gewünscht. Erst die Anfeindungen aus
dem Netz, mit dem Tenor, die Linken seien
die neuen Nazis. Dann die einstündige Dis-
kussionsrunde nach dem ersten Eklat,
Lucke gegen drei Asta-Vertreter, moderiert
von Lenzen.
Stephan, ein 22-Jähriger im Sweatshirt,
erinnert sich mit Unbehagen. »Lucke ist
Politikprofi, er ist Professor, er sitzt regel-
mäßig in Talkshows. Er hat rhetorische
Fallen gestellt«, schildert der Student. Des-
halb wolle der Asta in Zukunft nicht mehr
mit Lucke sprechen. »Das hat keinen
Sinn.« Außerdem wolle man ohnehin
nicht mit Rassisten reden. Solange Lucke
sich nicht von rassistischen Aussagen »dis-
tanziert, sehen wir keine Gesprächsgrund-
lage«.
Vor allem aber bedauern die beiden,
wie sich »der Diskurs verschoben hat«,
sagt Stephan. Es gehe nur noch darum,
»ob Linke, die über legitimen Protest ihre
Meinung kundtun, die Meinungsfreiheit
einschränken«. Das sei »absurd«, sagt der
Student und schiebt nach: »Moralisch sind
wir im Recht.«
Wirklich? Tatsächlich ist die Frage, wie
die Gesellschaft mit einer erstarkten Rech-
ten umgehen sollte, schwieriger zu beant-
worten, als viele meinen. Der Soziologe
Armin Nassehi von der Universität Mün-
chen hat sich mit ihr in den vergangenen
Jahren viel beschäftigt. Er veröffentlichte
einen Briefwechsel mit dem rechten Ver-
leger Götz Kubitschek, was ihm den Vor-
wurf einbrachte, er verschaffe menschen-
feindlichem Gerede Einlass in die bürger-
liche Gesellschaft.
Das Argument, man dürfe AfD-Politi-
kern oder ganz grundsätzlich Menschen
mit mutmaßlich rechtem Gedankengut kei-
nen Raum für Worte geben, sei im linken
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 15
STEFAN RAMPFEL
Es geht um Selbstvergewisserung, dass
man zu den Richtigen gehört.
In Göttingen verhinderten Demonstranten
eine Lesung des ehemaligen
Innenministers Thomas de Maizière
aus dessen Buch »Regieren«.