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Merkels langer Schatten
LeitartikelDie Kanzlerin hat ihre Partei in die Krise gestürzt. Es ist Zeit für Neuwahlen.
E
ine der schwierigsten Zeiten der Politik ist die
Spätphase einer Ära, die Zeit des Übergangs. Der
Anführer ist noch da, aber er verliert an Einfluss,
seine möglichen Nachfolger bedrängen ihn, unter
ihnen brechen Kämpfe aus. Die Zustände werden instabil,
eine Partei oder ein Staat rutscht in die Krise. Besonders
schwierig wird es, wenn der Anführer nicht weichen will,
obwohl er weichen müsste, um dem Anfang eine Chance
zu geben.
Die Bundesrepublik hat das zweimal erlebt, am Ende der
langen Kanzlerschaften von Konrad Adenauer, 14 Jahre,
und Helmut Kohl, 16 Jahre. Jetzt erlebt sie es ein drittes Mal.
Die Ära Merkel, bislang 14 Jahre, geht zu Ende, und die
CDU steckt tief in der Krise. Der Staat noch nicht, aber auch
hier gibt es Risiken, denn die
Bundesrepublik war bislang
ein Parteienstaat, tief durch-
drungen und getragen von
den beiden Volksparteien
Union und SPD. Die Sozial-
demokraten verlieren diese
Rolle gerade, auch wegen
ewiger innerer Kämpfe. Soll-
te sich auch die CDU auf die-
sen Weg machen, verliert das
politische System der Bun-
desrepublik, verliert der
Staat den bislang stabilsten,
kräftigsten Anker.
Derzeit versucht sich die
Partei in der Rolle des Toll-
hauses. Offener Streit, har-
sche Kritik an der Vorsitzen-
den und der Bundeskanzle-
rin, eine wieder offene Füh-
rungsfrage. Orientierungslos
in Fragen der Programmatik
und möglicher Bündnisse. Wo bleibt denn die gute alte,
gemütliche Kanzlerpartei, die so gern folgsam war?
Merkel trägt die größte Verantwortung für den närrischen
Zustand der Union, der sich natürlich auch auf die Große
Koalition auswirkt. Die Kanzlerin hatte sich vorgenommen,
nicht die Fehler von Konrad Adenauer und Helmut Kohl zu
machen. Sie wollte den Zeitpunkt ihres Abgangs selbst
bestimmen. Deshalb kündigte sie lange vor dem Ablauf ihrer
Amtszeit an, nicht noch einmal zu kandidieren. Das wirkte
erst einmal sympathisch, weil nicht machtversessen. Aber es
war ihr erster Fehler in dieser Angelegenheit. Merkel mutete
Deutschland damit einen langen Übergang zu. Auch in den
USA, wo man vierjährige Übergangszeiten in der zweiten,
finalen Amtsperiode eines Präsidenten gewohnt ist, wird man
allmählich zur »lame duck«, zur lahmen Ente, die kaum noch
entscheidet, mit ihrer Präsenz aber Aufbrüche verhindert.
Schwer angeschlagen nach schlechten Ergebnissen der
Union bei Landtagswahlen, verzichtete Merkel vor einem
Jahr auch auf den Parteivorsitz, was ihr ebenfalls als
sympathischer Akt ausgelegt wurde. Aber es war ihr zwei-
ter Fehler. Es ging ihr weniger um Machtverzicht als um
Machtsicherung. Sie gab ein Amt auf, um das wichtigere zu
behalten. Damit hat sie den Übergang endgültig verdorben.
Annegret Kramp-Karrenbauer macht bislang alles
andere als eine gute Figur als Parteivorsitzende. Das liegt
zum Teil an ihr, weil sie die große Bühne Bundespolitik
zu überfordern scheint. Aber es liegt auch an Merkel, an
dem Schatten, den sie als Kanzlerin wirft. Kramp-Karren-
bauers unausgegorener Vorschlag, eine Schutzzone in
Nordsyrien einzurichten, wird auch damit zu tun haben,
dass sie verzweifelt nach
Wegen sucht, aus diesem
Schatten zu treten.
Merkel weiß selbst, wie
schwer es ist, als kanzler-
tauglich zu gelten, bevor
man das Amt erobert hat.
Ihr Anspruch auf das wich-
tigste Regierungsamt war
zu Beginn der Nullerjahre
heftig umstritten. Erst wäh-
rend der Kanzlerschaft
konnte sie beweisen, dass
sie das Zeug dazu hat.
Aber ihre besten Jahre
liegen hinter ihr. Außen -
politisch ist Frankreichs
Präsident Emmanuel
Macron dominierend. Den
wichtigsten innenpoliti-
schen Kampf, gegen die
AfD und für die liberale
Demokratie, verfolgt sie
meistens schweigsam, in die größte Anstrengung ihrer
Koalition, das Klimapaket, wurde sie von protestierenden
Kindern getrieben und handelte am Ende doch nur halb-
herzig. Da kann man sich kaum vorstellen, dass es ohne
Merkel schlechter wäre.
Es wäre auch nicht sofort besser. Aber die CDU hätte
immerhin die Chance auf einen echten Neuanfang. Sie muss
ja nicht nur einen Kanzlerkandidaten finden. Sie braucht
eine Haltung zum dominierenden Thema Klima schutz
sowie zu den immer komplexer werdenden Wahlergebnis-
sen und der schwierigen Suche nach Koalitionen.
Es sind neue Zeiten, Zeiten für Aufbrüche. Die sind
nicht mehr mit einer Kanzlerin am Ende ihrer Ära möglich.
Und würden Neuwahlen auf Merkels Abgang folgen,
wäre das auch nicht schlimm. In Wahrheit ist das für einen
Neuanfang das Beste. Dirk Kurbjuweit
ANGELIKA VON STOCKI / FACE TO FACE
Das deutsche Nachrichten-Magazin
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019