der, dass er nichts gegen die DDR habe,
hier gut leben könne, kein Konsumfeti-
schist sei.«
Am Ende vermerkte der zuständige Be-
amte, dass »eine Abstandnahme vom An-
trag nicht zu erreichen« sein werde. Hinzu
komme, dass ein Teil von Jürgens Freun-
den »die DDR bereits verlassen hat«.
In Ost-Berlin herrschte in dem Sommer
Endzeitstimmung. Tausende kehrten ih-
rem Land den Rücken, sie reisten nach
Budapest, Warschau oder Prag und kamen
nicht zurück. Anfang Juni erlebte Jürgen,
wie machtlos der Staat geworden war. Er
hatte mit 200 anderen vor der Sophien -
kirche gegen den Betrug bei den Volkskam-
merwahlen protestiert, eine Demonstra -
tion neuen Ausmaßes. Beim Abtransport
der Protestierenden in von der Polizei ge-
charterten »Ikarus«-Reisebussen gelang es
den Insassen eines Busses, die Heckscheibe
einzudrücken und heraus zuspringen.
In der Sammelzelle in der Stasi-Haft -
anstalt Rummelsburg sangen sie »We shall
overcome«. Morgens kam Jürgen frei. Am
selben Tag verkündete die DDR-Volks-
kammer ihre Solidarität mit China nach
dem Tiananmen-Massaker. In Peking wa-
ren kurz zuvor Hunderte Stu denten getö-
tet und Tausende verletzt worden, weil sie
nach Demokratie gerufen hatten.
Die Hochzeit
Wir konnten uns vor der Trauung nicht di-
rekt am Telefon absprechen, denn wie die
meisten DDR-Bürger hatte Jürgen keins.
Ein gemein samer westdeutscher Freund
richtete mir schließlich aus, dass ich am
- September um zehn Uhr am Bahnhof
Friedrichstraße warten solle.
Ich stand dort lange mit zwei Gästen
und wartete. Schließlich fuhren wir auf ei-
gene Faust zum Standesamt Prenzlauer
Berg. An der Spitze einer kleinen Schar
sah ich dort schon von Weitem meinen
Bräutigam, mit hängenden Schultern. Er
dachte, ich würde ihn versetzen. Die Nach-
richt, dass der Treffpunkt auf neun Uhr in
seiner Wohnung vorverlegt worden war,
hatte ausgerechnet die Braut nicht erreicht.
Nervös gingen wir die Stufen hoch. Ich
trug mein elegantestes Outfit, eine Rock-
Weste-Kombi in Türkis. Unsere Dorf-
schneiderin hatte sie mir zum Abitur ge-
näht. Jürgen flüsterte mir zu, dass er seine
Papiere nicht habe finden können.
»Die Ausweise bitte!« Jürgen klopfte
sich von oben bis unten ab. Ich spielte mit.
»Wissen Sie«, erklärte ich der Standesbe-
amtin, »eben hat er mir gestanden, dass
er unsere Ringe vergessen hat. So ist er,
aber ich liebe ihn trotzdem.«
Jürgen durfte mit Führerschein heiraten.
Zwischen den Ansprachen lauschten wir
Stücken von Vivaldi und Bach, wobei die
Nadel des Standardplattenspielers »Zipho-
na MA 224« über das Vinyl kratzte. Jürgen
trug nun meinen Nachnamen, er trägt ihn
noch heute.
Anschließend fuhr die Hochzeitsgesell-
schaft mit dem Zug nach Zossen und wan-
derte zum Pfarrhaus in Christinendorf.
Jürgens Freund Steffen Reiche war hier
Pastor. Wir wussten nicht, dass auf Reiches
Amstrad-PC gerade die ersten sozialde-
mokratischen Parteiprogramme der DDR
entstanden. Unser Gastgeber bereitete
heimlich die Gründung der DDR-SPD vor.
Jürgens Bruder fielen zwei beigefarbene
Lada in Sichtweite des Hauses auf.
Mir begegnete Steffen Reiche am 18. Ok -
tober im Fernsehen wieder. Damals war
der frischgebackene Sozialdemokrat auf
Westbesuch bei seiner Großmutter; die
ARD hatte ihn um seine Meinung zu Ho-
neckers Rücktritt gebeten. Später wurde
er Kultusminister in Brandenburg.
In Christinendorf lernte ich Jürgens Mut-
ter kennen, sie schenkte uns Bettwäsche.
Bestürzt zog ich meine Schwiegermutter
zur Seite: »Du weißt, dass Jürgen und ich
kein echtes Paar sind?« Margot war Erzie-
herin in Jürgens Heimatstadt Treuen -
brietzen. Sie strahlte mich mütterlich an.
»Jürgen hat gesagt, es könne noch etwas
werden!« Ich drückte sie bloß. Unsere
Hochzeitsfeier war zugleich Jürgens Ab-
schiedsfest, hochemotional in jeder Hin-
sicht. Alle Gäste kannten, alle misstrauten
einander. Der Schein einer echten Hoch-
zeit musste gewahrt bleiben – und wenn
nur für die hauptamtlichen Spitzel im Lada.
Um Mitternacht improvisierte mein
Mann Jazz auf der Orgel; ein anderer Gast
spielte Saxofon. Für mich endete die Party
frühmorgens in der Badewanne. Zu dritt
zwängten wir uns ins warme Wasser, An-
drea, Britta, ich, zwei Ost- und eine West-
deutsche. Der Mond schien durchs Fenster,
und wir redeten über Männer. Im Morgen-
grauen rumpelte es. Militärfahrzeuge roll-
ten durch das schlafende Dorf. Eine Übung
für die chinesische Lösung? Oder doch
schon der Ernstfall? Zwei Wochen zuvor
hatten die Montagsdemos in Leipzig be-
gonnen. Die DDR-Botschaften in den so-
zialistischen Bruderstaaten füllten sich mit
Flüchtlingen.
Jürgen und ich entkamen diesen Sorgen
in Polen bei improvisierten Flitterwochen.
Auf der Spitze des Babia Góra, eines Bergs
in den Beskiden, machten wir ein Bild mit
Selbstauslöser, auf dem ich neben Jürgen
im Gras liege. Wir waren uns inzwischen
unendlich vertraut.
Die Revolution
Anfang Oktober kehrte Jürgen zurück nach
Ost-Berlin; ich war bereits wieder im Wes-
ten. In Dresden, auf der Durchfahrt, erlebte
mein Mann gespenstische Szenen: Polizis-
ten prügelten auf Menschen ein, die auf die
durchfahrenden Züge Richtung Westen auf-
springen wollten.
Die Revolution war voll im Gange.
Freunde kamen in Haft, weil sie bei der
Feier zum 40. Jahrestag der DDR am 7.
Oktober protestiert hatten. Andrea, die
mit mir in der Badewanne gesessen hatte,
musste stundenlang mit gespreizten Bei-
nen an der Wand stehen. Sie fror, wurde
geschlagen und beschimpft.
Dass Jürgen nicht gleich in den Westen
umzog, lag an einem ehrgeizigen Projekt:
Er versuchte, die doppelte Staatsbürger-
schaft zu bekommen, die der DDR und
die der Bundesrepublik. Juristisch war das
neues Terrain, doch damals schien vieles
möglich. Jürgen schleppte mich zu Debat-
ten mit Kommi litonen und Bürgerrecht-
lern. Am 18. Oktober hält mein Tagebuch
fest: »Ich bin eine Grenzgängerin. Diese
halbe Heimat DDR ist symptomatisch –
ich fühle mich sehr wohl in Ost-Berlin, in-
zwischen.«
Damals tauschte ich meine bisherige
Lehramtsperspektive gegen die einer Jour-
nalistin ein. Auch dabei wechselte ich lo-
cker die Seiten: Ich unterstützte die Dissi-
denten und berichtete zugleich über sie,
eine journalistische Todsünde. So schmug-
gelte ich Flugblätter des »Neuen Forums«
nach West-Berlin, vervielfältigte sie dort
und brachte die dicken Stapel zurück zum
Verteilen. Die Bürgerrechtler hatten keine
Kopierer. Und ich interviewte die Köpfe
der Revolte, den Kirchenhistoriker Wolf-
gang Ullmann etwa, Jürgens Professor und
Mitgründer von »Demokratie Jetzt«. Vor
dem Passieren der Grenze schminkte ich
mich neuerdings. Blondinen mit rotem
Mund kontrollierte keiner.
Am 4. November, einem Samstag, holte
mich Jürgen an der Grenze ab. Bald waren
wir mit Zehntausenden anderen unter-
wegs, über unseren Köpfen Plakate mit
Slogans wie »Das Volk sagt Nee zur SED«.
Es war die größte nicht staatlich gelenkte
Demonstration der DDR. Auf dem Ale-
xanderplatz entdeckte Jürgen einen Nach-
barn, mit dem er schon Hauswände gestri-
chen hatte. Jetzt stand er auf der Redner-
tribüne: der Schauspieler Jan Josef Liefers,
heute Forensiker im »Tatort«.
Um 11.36 Uhr trat Liefers ans Mikrofon.
Er warnte die Menge davor, sich von der
Staatsführung einwickeln zu lassen. Beifall
brandete auf. Es war auch eine Anspielung
auf Egon Krenz, der über Nacht vom Hard-
liner zum Reformer mutiert schien.
Am 9. November transportierten meine
Schwester und ich Möbel durch West-Ber-
lin. Im Radio hörten wir Jazz, gegen Mit-
ternacht fielen wir erschöpft ins Bett. Kurz
darauf klingelte es. »Wer ist da?«, fragte
ich schlaftrunken. »Jürgen. Dein Mann.«
Ich öffnete und fauchte ihn an. »Bist du
nun doch über Ungarn gekommen? Und
kannst jetzt keine Nacht im Lager war-
ten?« Jürgen wehrte ab. »Ich bin durch die
Mauer gekommen.«
60 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
Gesellschaft