THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
62 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
N
eulich war mein Fahrrad in der »Bild«-Zeitung zu se-
hen, ein himmelblaues Damenrad. Es lehnte verbogen
an einer Mauer. Meine Geschichte stand darunter. Bei-
des verblüffte mich ein wenig. Mein Fahrrad war interessant.
Ich war interessant. Mein Fahrrad und ich, wir waren eine
Nachricht. Es fühlte sich merkwürdig an.
Ich war auf der Hafenstraße im Hamburger Stadtteil St.
Pauli unterwegs gewesen, radelte von der Arbeit nach Hause,
als die Autofahrer neben mir plötzlich bremsten. Sie hatten
das schwarze Ding offenbar früher als ich gesehen: einen
Zwillingsreifen, 140 Kilogramm schwer, der sich von einem
Touristen-Doppeldeckerbus gelöst hatte und uns auf unserer
Fahrbahn entgegenkam.
Einen Moment lang wunderte ich mich, warum alle stehen
blieben. Sekunden später lag ich auf dem Asphalt.
Darum also. Der Reifen hatte mich seitlich
getroffen, ich war mit dem Rad gegen eine
Mauer geprallt, Bein und Steißbein
schmerzten. Sofort wurde ich umringt:
Autofahrer stiegen aus, Radfahrer
eilten herbei. Ich hatte nicht den
Eindruck, dass etwas Schlimmes
passiert wäre, allerdings machte
mein Kreislauf schlapp – ich
blieb also am Boden liegen
und wartete auf den Kranken-
wagen, den jemand angefor-
dert hatte.
Die Umstehenden warteten
mit mir. Es gab nichts zu hel-
fen – ich lag zwar, war aber
ganz offensichtlich unversehrt
und bei Bewusstsein. Sie blieben
trotzdem, standen um mich herum
und guckten. »Es ist alles in Ord-
nung«, sagte ich, »Sie können gern
weitergehen. Es reicht, wenn eine Person
dableibt.« Sie blieben stehen und guckten.
Angestrengt lauschte ich nach der rettenden
Sirene, ich wollte weg hier. Bis die Sanitäter da waren,
dauerte es nur ein paar Minuten, aber diese Minuten erschie-
nen mir sehr, sehr lang.
Während ich auf der Straße lag, hörte ich einen Streit. Of-
fenbar hatte jemand sein Auto gestoppt und dann mit dem
Handy auf mich draufgehalten, ein anderer lief los und be-
schimpfte ihn. Der Autofahrer fuhr mit quietschenden Reifen
los. Dann waren die anderen Gaffer und ich wieder allein.
Es kann ja immer beides sein, was Menschen an einem Schau-
platz festhält, Sensationslust oder Hilfsbereitschaft, die kein
Ziel findet. Ob ich selbst weitergelaufen wäre als Passantin?
Ich erinnere mich, dass ich darüber nachdachte, während ich
dalag. Ja. Nein. Ich weiß nicht.
Als die ersten Fotografen, Journalisten und Kamerateams
eintrafen, war ich zum Glück schon weg. Zwei Sanitäter scho-
ben mich in die Notaufnahme eines Hamburger Kranken-
hauses. »Die junge Frau sollte Lotto spielen. Da zu gewinnen,
ist ähnlich unwahrscheinlich, wie das, was ihr passiert ist«,
erklärte einer der beiden einer Frau am Empfang, als wir
den Eingang passierten – er schiebend, ich liegend. Er klang
begeistert.
Schon am Unfallort waren die Einsatzkräfte fasziniert ge-
wesen. Einer bot mir im Krankenwagen an, mit meinem
Smartphone aus dem Fenster Bilder zu machen, damit ich
später etwas zum Rumzeigen hätte. Seitdem habe ich auf
meinem Handy ein Foto von einem sehr schweren Zwillings-
reifen. Vielleicht gefiel den Sanitätern die Idee, selbst mal
draufzuhalten, anstatt, wie sonst meistens, von Gaffern ge-
filmt zu werden.
Als ich am selben Abend aus dem Krankenhaus entlassen
wurde und nach Hause humpelte, sprang mir ein Junge aus
der Nachbarschaft entgegen. »Voll krass«, meinte er, nachdem
ich ihm die Geschichte erzählt hatte. Aufgeregt hüpfte er um
mich herum: »Richtig abgefahren!« Dann verabschiedete er
sich – er müsse jetzt nach Hause, am Computer gucken, ob
schon jemand Bilder von meinem Unfall hochgeladen habe.
Kurz darauf widmete die »Bild«-Zeitung dem Ereignis fast
eine ganze Seite. RTL und der NDR sendeten Beiträge, Lo-
kalzeitungen berichteten. Einen Tag lang war ich, die 21-jäh-
rige Radfahrerin, Thema in Hamburg, mein demoliertes
Damenrad war überall zu sehen. Verwandte und Bekannte
meldeten sich, zu denen ich schon lange keinen Kontakt mehr
hatte, mir wurden Grüße ausgerichtet von Menschen,
die ich kaum kenne.
Mit ein paar Prellungen davongekom-
men, saß ich einen Tag später daheim
am Küchentisch und überlegte, wes-
halb sich plötzlich alle für mich in-
teressiert hatten. Aus Mitleid? Aus
Neugierde? Schaulust gibt es,
seitdem es Menschen gibt, in
allen Kulturen. Wer früher zu
einem Gladiatorenkampf ging
oder einer Hexenverbrennung
beiwohnte, empfand wohl
immer auch Erleichterung da-
rüber, dass ein anderer gegen
den Löwen kämpfte oder ge-
gen das Feuer.
Vielleicht geht es darum, eine
Gefahr als Gefahr zu erkennen
und trotzdem sicher zu sein. Das
Verhängnis als Möglichkeitsform.
Dafür spricht, dass es inzwischen einen
Trend namens »Dark Tourism« gibt, bei
dem Menschen in ihrer Freizeit Orte auf -
suchen, an denen sich Schreckliches ereignet hat.
Natürlich war es kein großes Drama, das ich erlebt
hatte, eher eine kuriose Begebenheit. Trotzdem wollte ich,
dass diese Begebenheit zu etwas nütze sei.
Wenn ich jetzt mit Freunden oder Verwandten in Hamburg
unterwegs bin, fahren wir gemeinsam an den Landungsbrü-
cken vorbei. Ich zeige auf die Mauer, auf dieMauer, und
fühle mich wie ein besonders authentischer Dark-Tourism-
Guide. Auf Familientreffen wird ehrfürchtig der »Bild«-Arti-
kel herumgereicht. Ich mache dann darauf aufmerksam, wie
wichtig es ist, einen Helm zu tragen. »Ansonsten säße ich
jetzt vielleicht nicht mehr hier.« Die Leute gucken dann ernst
und nicken; auch die Erinnerung an eine Gefahr löst offenbar
einen Schauder aus.
Wenn Sie, liebe Leser, also das nächste Mal zu Besuch in
Hamburg sind, kann ich Ihnen nur dazu raten, einen kleinen
Spaziergang zu machen, unten an der Elbe. Vorbei an den
Landungsbrücken, ein wenig den Radweg entlang. Da war
es, wo diese 21-Jährige von einem Doppeldecker-Zwillings-
reifen erwischt wurde. Wahnsinn, oder? Anna-Lena Jaensch
Schaulust
HomestoryWie es sich anfühlt, Opfer eines
absurden Unfalls zu werden
Gesellschaft