ter ständiger Beobachtung. Wenn Sie Un-
garns Regierungschef Viktor Orbán als
»Diktator« begrüßen, bricht ein Shitstorm
gegen Sie los. Wie gehen Sie mit der stän-
digen Bewertung um?
Juncker:Also erst einmal zu Orbán, ich
habe ihn immer schon Diktator genannt,
nur das eine Mal waren eben Mikrofone
über uns. Und nun zum Internet: Es ist
insofern eine Verbesserung, als dass sich
die Leute dadurch gut informieren können.
Aber wir sehen, dass es nicht immer
zu gesellschaftlichem Frieden führt. Ich
selbst schaue nicht in die sozia-
len Netzwerke. Die Frage ist
doch: Wofür muss ich mir Zeit
nehmen? In Europa ist es wich-
tig, über alle Länder genau Be-
scheid zu wissen. Es reicht
nicht zuzuhören, wenn ein Pre-
mierminister im Europäischen
Rat etwas sagt. Ich muss wis-
sen, warum er das sagt. Er wür-
de dort nie seine innenpoli -
tischen Schwierigkeiten be-
schreiben. Es ist das Problem
Europas, dass wir übereinan-
der nicht genug wissen.
SPIEGEL:Verletzt es Sie, wenn
Ihnen, auch vom SPIEGEL, im-
mer wieder nachgesagt wird,
Sie tränken zu viel?
Juncker:Ich beantworte diese
Frage nicht. Solche falschen
Behauptungen tun meiner Fa-
milie mehr weh als mir. Und
die ständigen Beobachtungen?
Das ist eine Erfindung unserer
Zeit. Manchmal machen Bür-
ger 200 Selfies mit mir am Tag.
Wenn da Menschen mit freund-
licher Absicht auf mich zu -
kommen, könnte ich natürlich
sagen: Nein, das geht jetzt
nicht. Das klänge aber arro-
gant und abgehoben, und ein
solches Bild von Europa möch-
te ich nicht abgeben. Wissen
Sie, man muss Menschen lie-
ben, wenn man Politik macht.
SPIEGEL:Sie sind ein körperlicher Mensch,
Sie knuffen und küssen. Auch dies wird
Ihnen in den Medien immer wieder vor-
gehalten. Würden Sie im Nachhinein sa-
gen, dass es richtig ist, sich in der Politik
seine Eigenheiten zu bewahren?
Juncker:Mir ist das egal. Ich bin so, wie
ich bin. Ich denke manchmal, das Schlimms-
te am Gefängnis ist, dass man keine körper-
liche Nähe erlebt. Ich kann mir überhaupt
nicht vorstellen, andere Menschen nicht an-
zufassen oder nicht von anderen Menschen
angefasst zu werden. Meine Mitarbeiter
weisen mich manchmal darauf hin: Den
darfst du nicht umarmen. Aber ich bin von
Erdoğan geküsst worden – also küsse ich
ihn auch. Ich habe Putin geküsst und bin
von Putin geküsst worden. Beides war für
Europa sicher nicht von Nachteil.
SPIEGEL:Im November unterziehen Sie
sich noch einer Aneurysma-Operation, für
die wir Ihnen alles Gute wünschen, danach
geht es zurück in die Kommission, und im
Dezember beginnt voraussichtlich der
Ruhestand. Haben Sie sich auf das Leben
nach der Politik gründlich vorbereitet?
Juncker:Ich habe keine Angst vor dem
schwarzen Loch. Ich habe 40 000 Bücher
zu Hause, in diesem und anderen Büros
stehen noch einmal 16 000 Bücher. Ich bin
jetzt zum ersten Mal damit beschäftigt, Bü-
cher wegzugeben. Und das ist schmerzhaft.
Oder schauen Sie, diese Fotos ...
Eine Mitarbeiterin öffnet eine Schranktür
und zeigt zwei Fotos im Format DIN A3.
SPIEGEL:Ah – Kussfotos, einmal mit
Ober-Brexiteer Nigel Farage, einmal mit
dem ehemaligen Parlamentspräsidenten
Martin Schulz ...
Juncker:Muss man solche Fotos aussor-
tieren?
SPIEGEL:Keinesfalls.
Juncker:Aber irgendetwas muss ja weg.
Na ja, nach dem Aussortieren möchte ich
jedenfalls schreiben.
SPIEGEL:Ihre Memoiren. Und auf welcher
Sprache werden Sie die schreiben?
Juncker:Auf Deutsch. Mein Vater hat mir
die Liebe zur deutschen Sprache beige-
bracht. Er deckte mich mit allen Karl-May-
Bänden ein. Ich verdanke mein Deutsch
Karl May, nicht nur – aber immerhin. Aber
ich habe Angst davor, dass ich dauernd
»Ich« schreibe. Denn woran erinnert man
sich? An sich selbst. Und das ergibt dann:
Ich, ich, ich.
SPIEGEL:Die Weltgeschichte war fast im-
mer Sache der Männer – nun aber wird
Europa erstmalig in der Hand von Frauen
liegen: Ursula von der Leyen wird Ihre
Nachfolgerin, und Christine
Lagarde übernimmt den Chef-
posten in der Europäischen
Zentralbank. Auf welche Wei-
se verändert das die Politik?
Juncker:Ich habe mich immer
bemüht, möglichst viele Frau-
en in Führungspositionen zu
holen, ich habe den Frauen -
anteil in den gehobenen Posi-
tionen der Kommission von 30
auf 41 Prozent erhöht. Insofern
bin ich froh darüber, dass im-
mer mehr Frauen Zugang zur
Politik bekommen, das verän-
dert die Politik. Aber besser
wird die Welt dadurch nicht
unbedingt.
SPIEGEL:Frau von der Leyen
ist ja etwas schräg ins Amt ge-
kommen, also ohne die vom
EU-Parlament geforderte Spit-
zenkandidatur, nun kriegt sie
ihre Kommission nicht rechtzei-
tig zusammen. Wie sind Ihre Pro -
gnosen für Ihre Nachfolgerin
nach diesem schwierigen Start?
Juncker:Ich denke schon, dass
sie alle Voraussetzungen hat,
um das Amt ausfüllen zu kön-
nen. Aber ich hatte einen leich-
teren Start, das stimmt schon.
Das lag an meiner Freund-
schaft zu den Genossen, letzt-
lich habe ich den Sozialdemo-
kraten und Martin Schulz mein
Amt mitzuverdanken. Aus mei-
nem eigenen Lager, der EVP, haben viele
gegen mich gestimmt, die Ungarn zum Bei-
spiel. Die Rechtsnationalen haben gesagt:
Wir werden nie für Sie stimmen. Und ich
habe gesagt: Ich möchte auch nie jemand
werden, für den Sie stimmen.
SPIEGEL:Herr Juncker, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Juncker verabschiedet sich – mit Küssen
auf die Wangen.
DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019 93
Ausland
JEROME BONNET / DER SPIEGEL
Kommissionschef Juncker in Brüsseler Büroräumen
»Ich habe keine Angst vor dem schwarzen Loch«
Video
Junckers Karriere
im Zeitraffer
spiegel.de/sp452019juncker
oder in der App DER SPIEGEL