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ie Nacht, die das Leben von
Shiori Ito für immer verän -
dern wird, beginnt mit einem
Schwindelanfall. Plötzlich dreht
sich der Raum, und ihre Lider werden
schwer.
An jenem Abend sitzt die damals 25-Jäh-
rige mit einem Kollegen in einem Sushi -
restaurant in Tokio. Der Mann arbeitet als
Journalist, genau wie Ito. Noriyuki Yama-
guchi ist in Japan ein bekannter Reporter:
Er hat hochrangige Politiker interviewt und
eine Biografie über Japans Premierminis-
ter Shinzo Abe geschrieben. Ito und Yama-
guchi kennen einander flüchtig. Ito ist auf
Jobsuche, Yamaguchi hat angeboten, beim
Abendessen über Optionen zu sprechen.
Dann wird Ito plötzlich schwindelig.
Sie bittet ihre Verabredung, sie zu ent-
schuldigen. Vorsichtig geht Ito zum Wasch-
raum. Dort verlässt sie die Kraft: Ihre Bei-
ne tragen sie nicht mehr, sie muss sich auf
den Toilettendeckel setzen. »Ich habe mei-
nen Kopf an den Spülkasten gelehnt«, sagt
Ito. »Das ist das Letzte, was ich noch
weiß.« Es ist der 3. April 2015.
Itos Erinnerung, so berichtet sie es, setzt
erst Stunden später wieder ein. Sie spürt
einen Schmerz in ihrem Unterleib. Als sie
die Augen öffnet, sieht sie ihren Kollegen
Yamaguchi: Er liegt auf ihr, nackt. Ito
schaut an sich herunter und merkt, dass
sie es auch ist.
Sie bittet Yamaguchi aufzuhören. Als er
nicht reagiert, täuscht Ito vor, auf die Toi-
lette zu müssen. Im Badezimmer versteht
sie, wo sie sich befindet: im Hotelzimmer
ihres prominenten Kollegen, der sie an-
geblich getroffen hat, um ihr einen Job zu
vermitteln.
Wie ist Shiori Ito dorthin gekommen?
Und warum? Diese Fragen beschäftigen
heute, mehr als vier Jahre später, nicht nur
zahlreiche Juristen. Sie spalten die Gesell-
schaft.
Japan gehört zu den fortschrittlichsten
Nationen der Welt: Es steht für Effizienz
und technische Innovationen. Nur die
USA und China haben eine größere Wirt-
schaftsleistung, mehr als die Hälfte der
Bevölkerung besitzt einen Hochschul -
abschluss, eine der höchsten Raten welt-
weit. Doch in einem Punkt fällt das Land
zurück.
Das Weltwirtschaftsforum analysiert
jedes Jahr, wie gleichberechtigt Frauen
und Männer in unterschiedlichen Ländern
leben. Der Bericht prüft Indikatoren wie
wirtschaftliche Teilhabe, Gesundheitsver-
sorgung und Bildungschancen. In keinem
anderen Industriestaat sind die Unterschie-
de zwischen Männern und Frauen dem-
nach so groß wie in Japan. Im globalen
Ranking liegt das Land auf Platz 110 von
149 – selbst Länder wie Ghana, Armenien
oder Myanmar schneiden besser ab. Doch
keine Statistik illustriert die Situation von
Japanerinnen so deutlich wie die Geschich-
te von Shiori Ito.
Itos Gesichtszüge sind filigran, ihr Äuße -
res wirkt zerbrechlich. Aber ihre Stimme
ist fest. Itos Anwälte raten ihr von Inter-
views ab, trotzdem hat sie einem Gespräch
zugestimmt. Sie trägt eine Kappe, als sie
durch die Tür des Cafés im Westen von
Tokio tritt. Inzwischen kennt fast jeder in
Japan Itos Gesicht, deshalb meidet sie
wenn möglich öffentliche Orte. »Aber ich
sollte mich nicht verstecken müssen«, sagt
Ito. »Ich sollte gewinnen.«
Ito hat den Mann, in dessen Hotelzim-
mer sie aufwachte, verklagt. Sie will errei-
chen, dass Yamaguchi ihr wegen Vergewal-
tigung Schmerzensgeld zahlen muss. In
vielen Ländern wäre das eine juristische
Randnotiz. In Japan ist es ein Skandal.
Japans Justizsystem ist außergewöhn-
lich: Mehr als 99 Prozent der Strafprozes-
se enden mit einer Verurteilung. Während
andernorts ein begründeter Verdacht ge-
nügt, um einen Prozess zu eröffnen, neh-
men japanische Gerichte nur Fälle an, in
denen ein Schuldspruch sehr wahrschein-
lich ist.
Doch eine Vergewaltigung lässt sich sel-
ten eindeutig belegen. Meist gibt es weder
Zeugen noch Beweise, es steht Aussage ge-
gen Aussage. In Japan landet deshalb nur
ungefähr die Hälfte aller angezeigten Ver-
gewaltigungen vor Gericht. Und selbst
wenn es zur Verhandlung kommt, ist ein
Schuldspruch unwahrscheinlich. Das liegt
an Japans Gesetzen.
Demnach zählen Übergriffe nur als Ver-
gewaltigung, wenn sie von nachweisbarer
körperlicher Gewalt begleitet sind. Das
Opfer muss belegen können, dass es sich
mit aller Kraft gewehrt hat. Sonst gilt der
Akt nicht als erzwungen, und der Täter
bleibt straffrei.
Das alles weiß Shiori Ito nicht, als sie
im April 2015 in Yamaguchis Hotelzimmer
zu sich kommt. Sie packt ihre Kleidung
und flieht aus dem Hotel. Mehrere Tage
versteckt Ito sich bei einer Freundin, wo
sie kaum schläft, kaum isst, nur vor sich
hinstarrt.
Am 9. April erstattet Ito Anzeige gegen
Yamaguchi. »Ich habe an unser System ge-
glaubt«, sagt sie. »Ich war so naiv.«
Polizeibeamte nehmen Spuren von Itos
Kleidung, werten Zeugenaussagen und
Videobilder der Hotelkamera aus. Im Juni
2015 wird ein Haftbefehl gegen Yamaguchi
erlassen. Doch dann zieht die Polizei die
Entscheidung zurück. Der Fall wird an ein
anderes Dezernat überstellt, die Ermitt-
lungen beginnen von Neuem.
Im Juli 2016, mehr als ein Jahr nach Itos
Anzeige, stellt die Staatsanwaltschaft das
Verfahren ein. Die Beweislage sei zu dünn,
um Yamaguchi vor Gericht zu bringen.
Denn Ito wurde bei dem Vorfall im Ho-
tel nicht schwer verletzt. Sie ist sicher, dass
Yamaguchi ihr etwas ins Getränk gekippt
hat, um sie benommen zu machen. Doch
dafür gibt es keinen Beweis. Yamaguchi
bestreitet, Ito unter Drogen gesetzt zu
haben. Vielmehr sei sie in der Nacht so
betrunken gewesen, dass er sie nicht allein
habe nach Hause fahren lassen wollen.
Der Taxifahrer, der die beiden ins Hotel
brachte, gab zu Protokoll, die junge Frau
habe darum gebeten, an einem Bahnhof
abgesetzt zu werden. Sie habe unzurech-
nungsfähig gewirkt und sich auf dem Rück-
sitz des Wagens übergeben.
Yamaguchi bestätigt Letzteres. Doch er
sagt, Ito habe sich im Laufe der Nacht er-
holt. Als sie aufgewacht sei, habe sie sich
so für ihr Verhalten geschämt, dass sie ihm
Sex angeboten habe.
In Deutschland können sexuelle Hand-
lungen an einem stark benommenen Men-
schen mit Gefängnis bestraft werden. In
Japan genügt es in diesem Fall nicht ein-
mal, um einen Prozess zu eröffnen. Yama-
guchi bleibt unbescholten, während sich
über Itos Leben ein Schatten legt.
Ito versucht, wieder als Journalistin zu
arbeiten. Sie dreht Filme, reist nach Latein-
amerika. Doch die Nacht in dem Hotel -
96 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019
Ausland
Aufschrei
JapanDie Journalistin Shiori Ito erwacht in einem Hotelzimmer, nackt und ohne Erinnerung. Sie
verklagt den Mann, der sie dorthin gebracht hat. Ihr Fall verändert Japan.Von Alexandra Rojkov
»Das japanische Gesetz
schützt uns nicht. Wollen
wir wirklich zulassen, dass
das weiter geschieht?«