Der Spiegel - 02.11.2019

(Brent) #1
Ausland

zimmer verfolgt sie. Ito hat Panikattacken:
Manchmal taucht Yamaguchis Bild vor ihr
auf, es schnürt ihr die Luft ab. Sie zittert,
wenn sie Männer sieht, die ihm ähneln,
weint, wenn sie länger von ihm spricht.
»Man überlebt eine Vergewaltigung nicht
nur einmal«, sagt Ito. »Sondern jeden Tag.«
Im Frühjahr 2017 erfahren Journalisten
von dem Vorfall im Hotel. Yamaguchi un-
terhält gute Verbindungen in die Politik:
Haben einflussreiche Freunde dazu beige-
tragen, dass der Haftbefehl zurückgezogen
wurde? Medien berichten über die Ermitt-
lungen, ohne jedoch Itos Namen zu nen-
nen. Nichts geschieht. Yamaguchi bleibt
auf freiem Fuß, während Ito mit den psy-
chischen Folgen der Nacht kämpft.
Shiori Ito ist in Japan geboren und auf-
gewachsen, doch es zog sie früh in andere
Länder. Als 15-Jährige verbrachte sie ein
Jahr in den USA und lebte in einer Gast-
familie in Kansas. Der Aufenthalt prägte
sie: Ito kam als selbstbewusster, extrover-
tierter Teenager zurück – anders als die
meisten japanischen Mädchen, die zu
Scheu und Zurückhaltung erzogen werden.
Als Reporterin bereiste Ito Peru, Sierra
Leone und Deutschland. Sie lebte in New
York, drehte einen Film über Genitalver-
stümmelung und interviewte kolumbiani-
sche Rebellen. Vielleicht haben diese Er-
fahrungen dazu beigetragen, dass Ito sich
traute, was für viele japanische Frauen un-
denkbar ist: Statt sich der Staatsanwalt-
schaft zu beugen, wehrt sie sich. Sie be-
ginnt einen Kampf, der das Leben vieler
Japanerinnen verändern soll.
Am 29. Mai 2017 reicht Ito vor einem
Gericht in Tokio Zivilklage gegen Yama-
guchi ein. Sie hat Anwälte gefunden, die
bereit sind, auf Kommission zu arbeiten.
Nur so kann sie sich den Prozess leisten.
Nachdem ihre Vertreter den Antrag
überstellt haben, nimmt Ito in einem Ne-
benraum des Gerichts Platz. Vor ihr sitzen
Dutzende Reporter, die auf den Knien ihre
Laptops balancieren. Ito hat sie zu einer
Pressekonferenz eingeladen.
»Vor zwei Jahren wurde ich vergewal-
tigt«, sagt Ito in die Kameras. »Als ich die
nachfolgenden Verfahren durchlief, wurde
mir schmerzlich bewusst, dass die Rechts-
und Sozialsysteme in Japan gegen Opfer
von Sexualverbrechen arbeiten.« Sie, Ito,
habe sich entschlossen, diese Systeme zu
ändern.
In Japan gelten Gehorsam und Anpas-
sung als höchste Tugenden. Harmonie ist
wichtig, Emotionen wie Wut oder Ärger
werden unterdrückt. Wer eine Meinungs-
verschiedenheit mit seinem Chef hat, kün-
digt eher, als den Konflikt anzusprechen.
Noch stärker gilt dieser Konformitäts-
druck für Frauen. Sie sollen vor allem ei-
nes sein: »kawaii«, der japanische Aus-
druck für »niedlich« oder »liebenswert«.
Es gibt Frauen, die unnatürlich hoch spre-


chen, um diesem kindlichen Ideal zu ge-
nügen. Andere tragen kurze Röcke oder
kichern kokett. Und eines tun fast alle
Frauen: Sie schweigen.
Einer Umfrage zufolge sind 70 Prozent
der Japanerinnen mindestens einmal in
ihrem Leben sexuell belästigt worden. Ob-
wohl Respekt in der japanischen Gesell-
schaft eine zentrale Bedeutung hat, kann
fast jede Frau von einem Übergriff erzählen.
Von Kollegen, die das Gespräch plötzlich
auf sexuelle Praktiken gelenkt haben. Von
Männern, die sie an Po oder Brust berührt
haben. In Tokios Metro bleibt zu Stoßzei-
ten ein Waggon nur für Frauen reserviert,
um sie vor Grapschern zu schützen.
Trotzdem gab es in Japan in der jüngs-
ten Vergangenheit keine breite Frauen -
bewegung. Der Hashtag #MeToo, der in
vielen Ländern eine Debatte ausgelöst hat,

verhallte. Protest und Widerspruch sind
in Japan traditionell nicht vorgesehen. Ein
bekanntes japanisches Sprichwort lautet:
»Nägel, die herausstehen, müssen einge-
schlagen werden.«
»Aber wir müssen über diese Dinge re-
den«, sagt Ito. »Es geht ja nicht nur um
mich. Es geht um grundlegende Menschen-
rechte.«
Ito fordert 11 Millionen Yen Schmerzens-
geld von Yamaguchi, etwa 93 000 Euro.
Aber vor allem will sie, dass das japanische
Recht reformiert wird: Missbrauch soll
auch dann anerkannt werden, wenn der
Täter das Opfer nicht körperlich verletzt.
»Das japanische Gesetz schützt uns nicht«,
sagt Ito bei ihrer Pressekonferenz. »Wollen
wir wirklich zulassen, dass das weiter ge-
schieht?«
Es ist das erste Mal, dass eine Japanerin
ihren mutmaßlichen Vergewaltiger derart

öffentlich anklagt. Statt wie Tausende
Frauen vor ihr klein beizugeben, beharrt
Ito auf ihrem Recht. Sie ist der Nagel, der
heraussteht. Es dauert nicht lange, bis man
versucht, sie einzuschlagen.
Kaum hat Shiori Ito ihre Rede beendet,
tauchen Nachrichten auf ihrem Handy
auf. Erst eine, dann zehn, dann Hunderte,
sagt sie. Die meisten sind Beschimp -
fungen.
Männer nennen Ito eine Hure und eine
Lügnerin. Aber auch viele Frauen stellen
sich auf Yamaguchis Seite. »Eine schrieb
mir, ich solle mich schämen«, sagt Ito.
Schämen, weil sie öffentlich über etwas
gesprochen hatte, das nach Meinung vieler
Japaner privat bleiben sollte.
»Ich habe mit Widerstand gerechnet«,
sagt Ito. »Dass es so schlimm kommen
würde, hätte ich nicht gedacht.«

Auf der Straße drehen sich nun Men-
schen nach ihr um und tuscheln. Sie erhält
Morddrohungen. Eine Politikerin macht
sich im Fernsehen über Ito lustig. Sie habe
es nicht geschafft, sich einen Job zu er-
schlafen, und räche sie nun dafür. Diese
Version erzählt auch Yamaguchi öffentlich.
Ito habe ihn in jener Nacht an sich gezo-
gen, ganz freiwillig. Er bestreitet bis heute,
sie vergewaltigt zu haben. Inzwischen hat
er Gegenklage eingereicht: Er wirft Ito Ruf-
schädigung und Falschaussage vor.
Yamaguchi arbeitet noch immer als
Journalist. Ito dagegen wird diffamiert und
bedroht. Sie fürchtet um ihre Sicherheit.
Im Oktober 2017 beschließt sie deshalb,
Japan zu verlassen. Sie zieht nach London,
wo sie eine Produktionsfirma gründet und
oft in ihrem Büro schläft.
Ito bezahlt für ihren Kampf einen ho-
hen Preis. Ihre Schwester vermeidet es bis

98 DER SPIEGEL Nr. 45 / 2. 11. 2019

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