Neue Zürcher Zeitung - 02.11.2019

(Grace) #1

22 FEUILLETON Samsta g, 2. November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


Musik kannein Miteinander sein. Oder ein Durcheinander


Charles Lloyd und John McLaughlin sorgen amJazznojazz 2019 für ein Kontrastprogramm


FLORIAN BISSIG


Ein Sound wie ein Brett traf die Hörer
zu fortgeschrittener Stunde. EineBand
wie eine Klangmaschine aus eng ver-
zahnten elektronischen Instrumenten:
Nebst einem übermannshohenBassver-
stärker bestimmten gleich zweiSchlag-
zeuge das Bühnenbild. In die knüppel-
har ten Rockbeats und die vibrierenden
Basstöne mischte sich sodann einKey-
board. Und eine sägende E-Gitarre –
diejenigeJohn McLaughlins.
Wer am Eröffnungsabend des Zür-
cherFestivalsJazznojazz 2019 zuvor
das akustische Instrumentarium und
den sanften Sound der Charles Lloyd
Group erlebt hatte, für denkonnte der
Kontrast nun nicht grösser sein. Dabei
gibt es zwischenJohn McLaughlinund


dem Saxofonisten Charles Lloyd durch-
aus Gemeinsamkeiten. Beide Musiker
sindumdie80Jahrealt;undbeidehaben
vor rund 50Jahren epochale Live-Alben
veröffentlicht.BeideMusikerwurdenso-
wohl vom modalenJazz John Coltranes
sowie auch von Blues undRock beein-
flusst,und beide suchten in der östlichen
SpiritualitätnachseelischerErneuerung.

Ähnliche Rahmenbedingungen


Undschliesslich,sokonntemanamJazz-
nojazz feststellen,arbeiten heute beide
mit Musikern jüngerer Generationen
zusammen und öffnen ihreKunst für
deren Impulse.Doch die Musik, welche
sie in vergleichbarenRahmenbedingun-
gen schaffen,atmet je einen besonderen
Geist, trägt je eine eigene Handschrift.

Charles Lloyd zehrt noch immer von
seiner unnachahmlichenVerbindung
von beherzter Improvisation und riskan-
ter Interaktion in der Manier des moda-
len und freienJazz und von sommerlich-
leicht tänzelndenRockrhythmen. Hier
hauchte und pfiff er lustig auf seiner
Flöte, dort schlug er auf demTenorsa-
xofon ernste, feierlich bebendeTöne an.
Lloyd ist noch Herr über sein ge-
samtes klangliches Spektrum, doch für
die wilden und weitgespannten Soli von
ehedem scheinen ihm die Kräfte nicht
mehr zureichen.So hielter seine Bei-
träge kürzer und überliess das Spekta-
kel der Dynamik seinen hervorragenden
Mitmusikern, etwa Gerald Clayton am
Piano und Eric Harland am Schlagzeug.
Der Gitarrist Marvin Sewell, der wie
Lloyd aus Memphis stammt,gab ein

Blues-Intermezzo im urchig-erdigen
Slide-StileinesRobert Johnson,dasauch
als Vorspiel zum darauffolgenden Blues
aus demRahmen fallen musste. Doch so
wollte es Lloyd schon immer. Er war nie
bestrebt,dasAlte und das Neue so lange
zuvermischenundzuverwässern,bissich
alle stilistischenKonturen auflösen.

Reine Fusion


WährendLloydsSynthesenlustvollanar-
chis ch und gleichsam organischgewirkt
sind, betreibtJohnMcLaughlinmitseiner
Band 4th Dimension dieFusion der Ele-
mente mit systematischer Gründlichkeit.
Obwohl er auch einmal ein Miles-Davis-
Zitat oder ein Riffvon Deep Purple ein-
streute, schoss ein mehrheitlich homoge-
nerJazzrockdurchdiesesHochleistungs-

triebwerk. Daran änderten auch die Ele-
menteklassischerindischerMusiknichts,
die der indische Schlagzeuger Ran-
jit Barot in dieBand bringt.Barot ver-
webt seine zungenbrecherische Silben-
sprache mit seinem Solospiel auf einem
westlichenSchlagzeug–undMcLaughlin
integriert das rhythmische Geflecht in
seineKompositionen. So war die indi-
sche Klassik präsent, aber gänzlich auf-
gehoben in derRockjazz-Ästhetik. In
ähnlicherWeise verfuhr McLaughlin mit
einem Flamenco-Stück, dessen phrygi-
sche Wendung im virtuosenVollbetrieb
ihr elegischesMoment nicht sorecht ent-
faltete .Dochsowollteeresschonimmer:
nichtEklektik, sondern echteFusion.

Das FestivalJazznojazz endetheute Samstag,
2.November.

Die Bibel wird nur zu Gottes Wort,

wennseinGeist imLeser wirkt

Reformation, das hiess für Zwingli: Das Wort Gottes muss neu entdeckt werden – als Kraft, die die Menschen berührt


MARTINRÜSCH


Heute scheint die Bibel ein zwiespälti-
ges Buch zu sein. Bei den einen stehtsie
im Verruf,ein missionarischesTraktat
zu sein, das fundamentalistischeWelt-
anschauungen fördere. Für andere ist
sie die Stammzelle derReformation.
Am Anfang der Reformationsbewe-
gung stand ja das Lesen der Bibel, die
persönliche und intensive Beschäftigung
mit dem Buch der Bücher.Allerdings
ist nicht zu leugnen, dass dieserWeg in
eine neue Orthodoxie führte. Die Bibel
wurde – und wird noch heute immer
wieder – als Steinbruch für unterschied-
lichste moralische und ideologische An-
sprüche genutzt.
Beide Sichtweisen tragen dazu bei,
dass der Schatz kulturprägender Ge-
schichten, Bilder und Vorstellungs-
welten der Bibel zu verschwinden droht.
Selbst in denFeierlichkeiten zu«500
Jahre Reformation» war die Bibel kaum
ein Thema. Dochdie Bibel ist schon
als religiös-kultureller Schlüsseltext der
zentrale Orientierungspunkt derRefor-
mation. Sie legte den Grundstein für
ein neuesVerständnis von Kirche, aber
auchvon Politik,Kultur und Gesell-
schaft. Die Bibel – und nicht ein kirch-
liches Lehramt – wurde inreformatori-
schemVerständnis massgebend für das
Handeln und Lehren der Kirche, glei-
chermassen wie für ein christliches Le-
ben im Alltag.
Für dieVehemenz derreformatori-
schen Erneuerung sorgten gewiss auch
zahlreiche Missstände in Kirche und
Gesellschaft.Vielleicht entsprach eine
geistige Neuorientierung dem gesamt-
gesellschaftlichen Bedarf oder einer
Notwendigkeit, denn der fast zeitglei-
che Wissenszuwachs, befördert durch
Renaissance und Humanismus, mani-
festierte sich in bahnbrechenden Erfin-
dungen, zum Beispiel dem Buchdruck,
und einerWelterschliessung in neuen
Dim ensionen – der Naturerforschung
und den Entdeckungsreisen.


Nicht Sache derKirche


All dies schuf neueRahmenbedingun-
gen, innerhalb deren die Kirche ihre
Aufgabe in der Gesellschaft neu definie-
ren musste. Für dieReformatoren der
ersten Stunde lässt sich festhalten: Die
Worte «Gott»oder «Glaube» erfuhren
eine fundamental neue (oder vonGrund
auf wiederentdeckte) Lesart. Sie wurden
als Kraft erkannt, die sich jeder Institu-
tionalisierung oderFunktionalisierung
entzieht.Nicht die Kirche oder ihr Lehr-
amt sagt,was «Gott» oder «Glaube» be-
deuten: «Gott» oder «Glaube» bringen
eine Kraft zur Sprache, die Menschen
bewegt und berührt, so dass sich eine
«Kirche» erst bildet.


Die humanistisch geschulte Orientie-
rung an den Quellentexten, gepaart mit
einem ausgeprägtemForschungs- und
Deutungsdrang,stehtauch bei Zwingli
amAnfang. Gewiss, für einenTheologen
am Anfang des16.Jahrhunderts war die
besondere Bedeutung der Bibel selbst-
verständlich.Undvorreformatorischwar
diese «Heilige Schrift / sacra scriptura»
nochgewichtigerdarin,dasssiedie«Hei-
lige Lehre / sacra doctrina» stützte – um
nicht zu sagen zementierte.
Im Vorfeld derReformation wurden
beide Begriffe – «sacra scriptura» bezie-
hungsweise «sacra doctrina» – geradezu
gleichgesetzt verwendet.Das heisst, der
Bibel war die eigene Stimme, die Eigen-
ständigkeit abhandengekommen. Diese
wieder wahrzunehmen,das ist die grosse
reformatorische Entdeckung. Denn der
Bibel wohnt eine Eigenständigkeit inne,
eine Qualität, die sie zum Gegenüber
dessen macht, der sie liest.
Sie vermag, das «Wort Gottes» zur
Sprache zu bringen. Die Bibelals Buch
ist nicht selbst schon«Wort Gottes».
Aber in ihr findet sich ein Nieder-
schlag einesWortges chehens, das sich
Gott verdankt oder – theologisch for-
muliert–seinem Geist. Insofern eignet
ihr eine eigene, innere Dynamik. Des-
halb ist die Bibelkein Kodex, der die
Lehre und die Institution der Kirche
sicherstellt, sondern umgekehrt: Er be-

leuchtet diese – oder stellt sie gegebe-
nenfallsinfrage.
Es mag sein, dass es das ist, was
Zwingliumtrieb.DieoffensichtlicheDis-
krepanz zwischen dem Geist des Glau-
bens, der aus der Bibelspricht, und der
faktischen Glaubenslehre beziehungs-
weise der Glaubensgestalt muss für ihn
himmelschreiend gewesen sein. Bereits
in Einsiedeln, dann ab 1519 im Gross-
münsterbeginnter das Matthäusevan-
gelium fortlaufend auszulegen. Es soll
das biblischeWort Grund und Anfang
allerVerkündigung sein. Und die Bibel
sollte die Entscheidungsgrundlage sein,
woesumFragendeschristlichenLebens
geht. «Sola scriptura» – allein die Schrift
sei die Mitte des Glaubens.

Die befreiende Kraft der Schrift


Beeindruckend ist die Zuversicht, mit
der dieseRückbesinnung auf die Quel-
len des Glaubens insAuge gefasst wurde.
Humanistisch geschult, richtet Zwingli
die «Prophezey» ein: Die biblischen
Quellentexte – hebräisch und griechisch


  • wollten von Grund auf erfasst, erhört
    und übersetzt sein.Das ist eine philo-
    logischeAufgabe, aberzug leich eine
    geistige Neuorientierung. Jedem Chris-
    tenmenschen soll die ganze Schrift zu-
    gänglich gemacht werden, womit zu-
    gleich alle als urteilsfähige Mitglieder


der Kirche gestärkt würden.Denn wenn
in d er Schrift der Geist Gottes im Spiel
ist, so gilt dies allen Einzelnen – und da-
durch einer vitalen Gemeinschaft.
So istaus der frühen Phaseder Refor-
mation eine Predigt Zwinglis überliefert,
die denTitel trägt «DieKlarheit und Ge-
wissheit und Untrüglichkeit desWortes
Gottes».Sie datiert vom 6. September
1522.Kurz zuvor, am 21.Juli 1522,wurde


  • auf dem Hintergrund erheblicher Un-


ruhen – vom ZürcherRat die erste Dis-
putation einberufen, in der Zwingli die
Autorität kirchlicher Lehrämter und
der kirchlichenTradition in Bezug auf
das kirchlicheLeben, dieTheologie und
die kirchlicheRechtspraxis scharf kriti-
sierte. Er konnte seineForderung nach
einer schriftgemässen Predigt durch-
bringen. Das Buch der Bücher bekam

in diesemSinne oberste Priorität, damit
seine befreiende Kraft in der Schriftaus-
legung zum Zugekommen würde.
Daszeigt auch, worum es Zwingli
nicht ging:Weder plante er eine soziale
oderpolitischeRevolutionnocheinezür-
cherischeTheokratie im Hinblick auf ein
biblizistisches Sittenregime. Im Gegen-
teil: Der ZürcherRat war nun ja für be-
stimmte Ziele zuständig, zum Beispiel
für die Armenfürsorge. Die befreiende
Kraft der Schriftauslegung sollte zum
Zugekommen. Es ging nicht darum,eine
moralische Orthodoxie auf den Plan zu
rufen.Auch wenn es später anders kam.
Zwingli unterscheidet zwischen der
Bibel und dem«Wort Gottes». Die Bibel
ist für ihnkeinesfalls dieVergegenständ-
lichung des«Wortes Gottes».Vielmehr
bezeichnet dasWort Gottes dessen sou-
veränesWirken. Mit dieser Unterschei-
dung lässt sich festhalten, was später
vergessen geht: Nur wo der Geist Got-
tes wirkt,vermag ein biblischesWort für
einen Leser oder Hörer zum«Wort Got-
tes» zu werden.

Das Wort lässt sich nicht binden


In der Predigt für denKonvent des
Frauenklosters Oetenbach formuliert es
Zwingli so: «Die Schrift,über die wirre-
den, stammt vonGott (...) Paulus nen-
net sie ‹theopneuston›, das heisst von
Gott eingehaucht (...) Und er erlaubt
auch, dass (auch) die Geringsten über
di e Schriftreden, wenn Gott es ihnen
eingibt, falls die vorsitzenden (...) Leh-
rer dieWahrheit nicht getroffen haben.
(. ..)Als Wort Gottes sollst du nur aner-
kennen, was aus seinem Geistkommt.
Keinem andernWort soll geglaubt wer-
den. Denn es ist gewiss (...) und klar,
lässt niemanden imDunkeln tappen, es
legt sich selbst aus und öffnet selbst das
Verständnis.»
Bereits imVorwort zurFroschauer-
Bibel von1531 ist vom «himmelbrot
der göttlichen geschrifft» dieRede. Die
Metapher spielt an auf das in derWüste
gefundene Manna im zweiten Buch
Mose, das zur unerwarteten Nahrungs-
quelle für das vor Hunger und Lebens-
durst murrendeVolk wird. DiesesWüs-
tenbrot lässt sich weder herstellen noch
sammeln oder lagern – es verdankt sich
alleinder Zuwendung des Himmels.
DiesereformatorischerneuerteEinsicht
bezogen die ZürcherReformatoren auf
die Bibel.Das in ihr oderdurchsie zu
vernehmende«Wort Gottes» lässt sich
weder festschreiben nochvorschreiben.
IndiesemSinnbehältesstetsseineüber-
raschendeund kritischeDistanzzujeder
Institutionalisierung.EinWort,dasseine
Aktualitätkeineswegs eingebüsst hat.

Martin RüschistPfarrer amGrossmünster
Zürichund Präsidentdes Zwinglivereins.

Für dieReformation wurde die Bibelzum zentralen Orientierungspunkt der Erneuerung von Glaube und Kirche. GORAN BASIC / NZZ

Die Bibel ist kein
Kodex, der die Lehre
und die Institution
der Kirche sicherstellt,
sondern umgekehrt.
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