INTERNATIONALE AUSGABE
34 ZÜRICH UND REGION Samsta g, 2. November 2019
EinBesuchsrechtsstreit
bringt Richter dazu, ein Kinderbuch zu bemühen SEITE 35
Das Ende eines jahrelangen Quartierstreits:
Der Rebberg Fluntern bleibt eine Idee SEITE 36
«Zürich kann die Welt nicht alleine retten»
Der Freisinnige Alexander Brunner warnt vorSymbolpolitik. DieGrüne Katharina Prelicz-Huber plädiert für ein Minimum
an Solidarität. Ein Streitgespräch mit Daniel Fritzsche über die städtische Ein-Prozent-Vorlage
Zürich soll neu bis zu ein Steuerprozent
fix für die Entwicklungshilfe imAus-
land ausgeben.Warum kann sich das die
reiche Stadt nicht leisten, Herr Brunner?
Alexander Brunner: Natürlich kann sie
es sich leisten. Letztlich sprechen wir
auch bei einem Steuerprozent vonre-
lativ geringen Beträgen, gegenwärtig
wären es etwa 18 MillionenFranken
imJahr. Das ist für mich aber gar nicht
die entscheidendeFrage.Wichtiger als
derFrankenbetrag sollte die Diskussion
darüber sein, ob Zürich als Stadt über-
haupt selber Entwicklungsgelder spre-
chen soll. Und falls ja, ob sie die Gel-
der auch effektiv einsetzt.Dahabe ich
meine Zweifel.Wenn es am Ende nur
darum geht,Symbolpolitik zu betreiben
und sich selber ein gutes Gefühl zu ver-
schaffen, nützt es niemandem etwas.
Katharina Prelicz-Huber: Auch mitre-
lativ geringen Beträgen kann man in so-
genannten Entwicklungsländern sehr
viel erreichen. Mit lediglich 60Franken
ermöglichen wir zum Beispiel einerPer-
son einen dauerhaften Zugang zu sau-
beremTr inkwasser.Ein lächerlich klei-
ner Betrag entfaltet so eine enorm
grosseWirkung. Darum ist dieVorlage,
über die wir am17. November abstim-
men, wichtig und ebenkeineSymbol-
politik.Wenn wir mehr Geld für die
Entwicklungszusammenarbeit spre-
chen, hilft das ganzreal vielen Men-
schen. Ein Steuerprozent sollte uns das
wertsein. Das ist das Minimum an Soli-
darität, das wir uns leisten sollten. Be-
denken Sie: Die 300reichsten Schwei-
zer alleinekönntendie globale Armut
beseitigen. Gerade der Finanzplatz
Zürich trägt zudem eine besondereVer-
antwortung: Die SchweizerBanken ver-
walten auch aus Entwicklungsländern
Milliarden anVermögen.
Sie, Frau Prelicz-Huber, wünschen sich
also eigentlich noch viel mehr Zürcher
Geld für dieAuslandhilfe?
Prelicz-Huber: Die ursprüngliche1- Pro-
zent-Initiative sah ja ein Prozent des Bud-
gets – also gegenwärtig rund 90 Millio-
nenFranken – jährlich vor. Das hätte ich
toll gefunden. Der Gegenvorschlag, über
den wir jetzt abstimmen, ist aber immer-
hin einTr opfen auf den heissen Stein.
Enthalten ist aucheine Klausel,wo-
nach die Stadt bei Bilanzfehlbeträgen
die Zahlungen kürzen kann.Woist das
Problem, Herr Brunner?
Brunner: Wie gesagt, kritisiere ich die
Vorlage nicht aus finanzieller Sicht.
Mühe habe ich mit dem Solidaritäts-
gedanken, denFrau Prelicz-Huber an-
spricht.Das ist die alte Sichtauf die
Entwicklungshilfe, die uns nicht wei-
terbringt:Per Giesskannenprinzip wird
Geld verteilt und nicht genau geschaut,
was damit geschieht.Wenn wir die Uno-
Nachhaltigkeitsziele wirklich erreichen
möchten, dann braucht es nicht ein paar
Millionen aus Zürich, sondern Milliar-
den vonFranken.Für diese Mammut-
aufgabe sollte vermehrt der private Sek-
tor – Unternehmen und Privatpersonen
- einbezogen werden. Der Bund arbei-
tet in diese Richtung, weil er merkt, dass
die nötigen Beträge sonst nicht zusam-
menkommen.
Sie finden:Weil die Stadt Zürichalleine
sowieso nichts erreichen kann, sollte sie
es gleich ganz bleiben lassen?
Brunner: Nein, aber sie dürfte einmal
originellereWege gehen. «Impact In-
vesting» zum Beispiel ist ein interessan-
ter Ansatz. Es geht darum, mit priva-
ten oder öffentlichen Geldern messbare
soziale und ökologischeVeränderungen
zu fördern – und gleichzeitigRenditen
zu erzielen. Also, investieren statt spen-
den. Ich habe dazu einmal einenVor-
stoss im Zürcher Stadtparlament ein-
gereicht. Die Linke – einschliesslich
Katharina Prelicz-Huber – hat leider da-
gegen gestimmt.
Prelicz-Huber: DieFrage ist, wohin die
Rendite fliesst.Wenn Grossunterneh-
men wie Nestlé von staatlichen Geldern
profitieren und am EndeTr inkwasser in
Afrika privatisieren, muss man dagegen
ankämpfen.Wirmüssen den Service
public in jenenLändern stärken.Dazu
gehört ganz zentral Tr inkwasser, ein
gutes Bildungs- und Gesundheitswesen.
Gegen wirtschaftliche Zusammenarbeit
ist selbstverständlich nichts einzuwen-
den.Aberesmuss in die Mikrowirtschaft
und in KMU vor Ort investiert werden,
so dass möglichst vielWertschöpfung vor
Ortgeschaffen werden kann.
Brunner: Verteufeln Sie doch die Pri-
vatwirtschaft nicht so! Die diesjährigen
Ökonomie-Nobelpreisträger – Abhi-
jitBanerjee, EstherDuflo und Michael
Kremer – haben mit Experimenten auf-
gezeigt, dass solche Mikrokredite, wie
Sie sie vorschlagen, nicht das Gelbe vom
Ei sind. DerenWirkung ist beschränkt.
Um effektiv etwas zu verändern, müssen
die grossen Unternehmen mit an Bord
sein.Das sehen auch immer mehr Nicht-
regierungsorganisationen so. WWF
arbeitet zum Beispiel mit Grossfirmen
zusammen,weil diese die Logistikketten
viel besser und effizienter organisieren
als kleine Unternehmen vor Ort.
Kommt denn das Geld aus Zürich heute
an der richtigen Stelle an?Wirdes effek-
tiv eingesetzt?
Prelicz-Huber: Natürlich müssen Gross-
unternehmen mitziehen, aber nicht mit
staatlichen Entwicklungsgeldern. Und
sicher ist es wichtig, dass wir ganz ge-
nau hinschauen, wohin das Geld fliesst.
Deshalb ist im neuen Gesetz festgehal-
ten, dass bei derVergabe der Gelder auf
Wirksamkeit,Wirtschaftlichkeit,Tr ans-
parenz, aber auch auf Ökologie geachtet
werden muss. Das ist wichtig. Früher war
die Entwicklungshilfe stark paternalis-
tisch geprägt, à la«Wir Europäer grei-
fen euch Dritte-Welt-Ländern unter die
Arme,weilihr es selber nicht schafft».In
der Schweizkommt dieses Denken nicht
zuletzt aus dem christlich geprägten
Freisinn.Das war die Zeit der «Neger-
li-Kasse» in der Kirche, zu der ich nicht
zurückmöchte.Entwicklungszusammen-
arbeit muss aufAugenhöhe geschehen.
Brunner: Mit eurerPolitik macht ihr
aber genau das Gegenteil. Ihr verhaltet
euch heute noch paternalistisch, wenn
ihr dauernd davon sprecht, dass derrei-
che Norden den armen Süden ausbeutet
und deswegen zu Solidarität verpflich-
tet ist. Sokommen wir nicht weiter. Die
Menschen in den Entwicklungsländern
brauchenJobs, um für ihren Lebens-
unterhalt sorgen zukönnen. Dakön-
nen auch Schweizer Grossunternehmen
helfen.Barry Callebauthat zum Beispiel
ProjekteinCôte d’Ivoire, mit denen sie
den Kakaoanbau ohne Kinderarbeit för-
dert.Das sind wichtige Schritte.
Prelicz-Huber: Entschuldigung, es muss
doch eine Selbstverständlichkeit sein,
dassKonzerne sich nicht an Kinder-
arbeit beteiligen!Das als grosse Leistung
herauszustreichen,ist schwach.Was es
braucht, sind einerseits verantwortungs-
volle Unternehmen, wie es dieKonzern-
verantwortungs-Initiative verlangt, und
andererseits Hilfe zur Selbsthilfe – auf
Augenhöhe, mitPartnern vor Ort.
AngusDeaton, Ökonomie-Nobelpreis-
träger von 2015, hat eine kritische Hal-
tung zur heutigenForm von Entwick-
lungshilfe. Sie behindere die Entstehung
eines funktionierenden Staates und
schade langfristig.Was sagen Sie dazu?
Prelicz-Huber: Ich halte das für eine
ziemlich arroganteAussage. Was ist in-
zwischen mit den Menschen in Not?
Lassen wir sie darben, bis vielleicht
irgendwann ein funktionierender Staat
entsteht? Den globalen, freienMarkt
haben wir schon lange – mit den ent-
sprechenden negativenKonsequenzen.
Deshalb braucht es auch globale Hilfe.
Die beiden Sphären lassen sich nicht
trennen. Angus Deaton hat das meines
Erachtens nicht fertig gedacht.
Brunner: MitVerlaub, ich vertraue den
Forschungsergebnissen eines Nobel-
preisträgers mehr als denAusführun-
gen meiner Gesprächspartnerin. Dea-
tons Erkenntnisse fussenauf harten sta-
tistischenFakten.Wenn zum Beispiel
das Bildungssystem in afrikanischen
Staaten von ausländischenHilfswerken
finanziert wird, dann fliessen dafür mehr
staatliche Mittel in das Militär. So wer-
den Strukturen und Abhängigkeiten ge-
schaffen, die schaden.Viele Projekte zur
Selbsthilfe haben sich leider nie, wie ur-
sprünglich geplant, verselbständigt.
Prelicz-Huber: Wersagt, dass der Staat
ohne Entwicklungsgelder in die Bil-
dung für die Ärmsten investiert hätte?
Es gibt leider zu wenige Demokratien
auf derWelt,wo Menschen die Möglich-
keit haben, ihren Staat mitzugestalten.
So macht es viel Sinn, den Service public
in anderenLändern zusammen mit den
Leuten vor Ort aufzubauen.
Brunner: Viel effektiver – und das ist eine
weitere Erkenntnis von Angus Deaton
- geschieht Armutsbekämpfung durch
Wirtschaftsentwicklung. Über eine Mil-
liarde Menschen sind so in China und
Indien der extremen Armut entkom-
men.Wirtschaftsentwicklung ist zudem
oft eine neutralereVariante als Demo-
kratienachhilfe, was in gewissen Staaten
gar nicht gut ankommt.Das istkein Plä-
doyer gegen jeglicheForm von Entwick-
lungshilfe.Aber sie muss neu und ohne
Scheuklappen gedacht werden. Bevor
dieseFragen in Zürich nicht geklärt sind,
machteineErhöhung der jährlichen Gel-
derkeinen Sinn.Wir müssten zum Bei-
spiel viel besser messen, ob die verwen-
deten Mittel effektiv eingesetzt werden.
Und wie soll das die Stadt Zürich be-
werkstelligen?
Prelicz-Huber: Die Stadt Zürich unter-
stützt anerkannte Organisationen. Diese
sollen partizipativ mit den Leuten vor
Ort dieWirkung eines Projektes evalu-
ieren. Als «wirksam» soll nicht nur gel-
ten, was Gewinn abwirft,sondern was
die Menschen in ihrer Lebensgestaltung
und Existenzsicherung odereineGesell-
schaft als Ganzes weiterbringt.Jemand
in der Stadtverwaltung muss sich inten-
siv um dieseFrage kümmern und die
Koordination übernehmen, wenn mit
dem neuen Gesetz mehr Geld ausge-
geben wird als heute.
Brunner: Bis jetzt ist es ja so geregelt,
dasseineFachkommission die zu unter-
stützenden Hilfswerke jährlich aus-
sucht.Das kann manchmal etwas be-
liebig wirken. Ich wünsche mir da in
Zukunft eine stärkere,auch demokra-
tischere Mitsprache, wohin die Gel-
der fliessen.Wichtig ist auch die Ab-
sprache mit dem Bund und der Direk-
tion für Entwicklung und Zusammen-
arbeit(Deza) im Speziellen. Die Stadt
Zürich kann dieWelt nicht alleineret-
ten. Allenfalls muss sie genauer definie-
ren, wo sie denn in der Entwicklungs-
hilfeeinen Mehrwert gegenüber all den
anderen Akteuren indiesemFeld bieten
will. Sie kannauch einmal etwas auspro-
bieren, das anderebis jetztnoch nicht
auf dem Schirm haben, zum Beispiel
eben «Impact Investing».
Prelicz-Huber: Dass man neue Ansätze
ausprobiert, unterstütze ich.Was das ge-
nausein kann, darüber muss man aber
diskutieren. Die Zusammenarbeit mit
dem Bund ist im neuen Gesetz explizit
erwähnt.Das macht Sinn.Wenn Zürich
in dieserFrage nur alleine agiert, wäre
tatsächlich eine Chance vertan.
Zum Schluss:Öffentliches Geld auszu-
geben,ist ja leicht. Spenden Sieauchals
Privatpersonen? Und falls ja,wofür?
Brunner: Regelmässig. Die Familie
meinerFrau stammt aus Malaysiaund
Indien. Dort gibt es immer etwas, was
sich zu unterstützen lohnt. Ich gebe
gerne zu, dass ich bei privaten Spenden
mehr mit demBauch als mit demKopf
entscheide. Bei staatlichenAusgaben
wünsche ich mir das trotzdem anders.
Prelicz-Huber: Ich spende sehrregel-
mässig an verschiedene gemeinnützige
Organisationen. Die Gewerkschaft
VPOD, die ich präsidiere, ist internatio-
nal vernetzt und arbeitet aktiv mit den
Gewerkschaften des Service public vie-
lerLänder zusammen.Wir unterstützen
sie individuell undkollektiv beim Kampf
für mehr Demokratie, Menschen- und
damit auch Gewerkschaftsrechte, für an-
ständige Arbeitsbedingungen und Löhne
weltweit. Dort bin ich zu 40 Prozent ent-
schädigt, arbeite aber sicher das Dop-
pelte. Insofern trage ich meinen kleinen
Teil dazu bei, dassesMenschen auf der
Welt besser geht. Aber natürlichkönnte
man immer noch mehr tun.
Welche Art der Entwicklungshilfe ist sinnvoll – und einer Stadt wie Zürichangemessen? Alexander Brunner (fdp.) und Katharina
Prelicz-Huber (gp.) sind unterschiedlicher Meinung. SIMONTANNER / NZZ
FDP gegenGrüne
dfr.·Katharina Prelicz-Huber (gp.) ist
Präsidentin der Sozialkommission des
Zürcher Gemeinderats. Bei den zurück-
liegendenWahlen wurde die Präsidentin
der Gewerkschaft VPOD in den Natio-
nalrat gewählt.Alexander Brunner (fdp.)
ist Gemeinderat und ebenfalls Mitglied
der Sozialkommission. Der Unterneh-
mer war mehrereJahre im Bereich
«Impact Investing» tätig und hat für ein
Hilfswerk in Kambodscha gearbeitet.
«Zur<Negerli-Kasse>
in der Kirche möchte
ich nicht zurück.
Es braucht Entwick-
lungszusammenarbeit
auf Augenhöhe.»
Katharina Prelicz-Huber
GrüneZürcher Sozialpolitikerin
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Stadtzürcher Abstimmung
vom 17. No vember 20 19