Süddeutsche Zeitung - 02.11.2019

(Barré) #1
FOTO: ANGELA WEISS/AFP

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie,
dass ausgerechnet die mächtigste Frau
der Modewelt – einer Branche, die den
ständigen Wandel beschwört – selbst im
Grunde immer gleich auftritt: Anna Win-
tour, die Chefin der amerikanischen
Vogue, trägt meist farbige Kleider mit mar-
kanten Ketten, vor allem aber diese uner-
schütterliche Bob-Frisur und dunkle Son-
nenbrille. Markenzeichen, die nicht zu-
letzt deshalb so ikonisch sind, weil sie be-
reits eine halbe Ewigkeit gepflegt werden:
An diesem Sonntag feiert Wintour ihren


  1. Geburtstag. Die Frisur sitzt seit dem

  2. Lebensjahr, die Sonnenbrille kam et-
    was später hinzu.
    Von Ruhestand ist derweil nicht die Re-
    de, im Gegenteil. Nachdem im Sommer
    vergangenen Jahres immer wieder zu le-
    sen war, nun seien ihre Tage wirklich ge-
    zählt, sah sich der Condé-Nast-Verlag zu
    einer Stellungnahme gezwungen. Anna
    Wintour bleibe „auf unbegrenzte Zeit“
    Chefredakteurin derVogue, twitterte der
    damalige Verlagschef. Sie sei unglaublich
    kreativ und talentiert, ihr Einfluss „unvor-
    stellbar“.
    Vor allem Letzterem dürften so ziem-
    lich alle in der Branche zustimmen. Win-
    tour hat in ihren mittlerweile 31 Jahren an
    der Spitze vonVoguedie Art, wie Mode prä-
    sentiert und vermarktet wird, entschei-
    dend geprägt. Unter ihrer Führung wur-
    den die Seiten der heiligen „Fashion Bi-
    bel“ jünger, ein Stück weit demokrati-
    scher, in jedem Fall kommerzieller. Sie
    mischte Haute Couture mit günstigeren
    Marken und begann in den Neunzigerjah-
    ren, Stars statt Models aufs Cover zu he-
    ben – mit unglaublichem Erfolg. Das Heft
    platzte zwischenzeitlich regelrecht vor Lu-
    xusanzeigen, mit wachsendem Umsatz


stieg auch Wintours Macht. Sie hat die
Karrieren von unzähligen Designern be-
fördert. Sich mit ihr anzulegen, gilt als un-
gefähr so ratsam, wie auf High Heels
durch die sibirische Tundra zu stapfen.
Die Tochter einer Amerikanerin und ei-
nes Briten stammt aus einer berühmten
Journalistenfamilie. Ihr Vater Charles
Wintour war langjähriger Chef desEve-
ning Standard, ihr Bruder arbeitet als di-
plomatischer Korrespondent beimGuar-
dian. Für die Tochter formulierte der Va-
ter nahezu prophetisch das Berufsziel
„Vogue-Chefredakteurin“. Der Weg dort-
hin verlief allerdings keineswegs glatt.

Mit 16 flog das Mädchen von der Schule,
weil sie den Rock der Sportuniform mehr-
fach kürzte, eine Ausbildung im Londo-
ner Kaufhaus Harrod’s brach sie gelang-
weilt ab. In ihrem ersten Job beiHarper’s
Bazaarin New York wurde sie nach nur
neun Monaten gefeuert. Trotzdem ver-
folgte die ehrgeizige junge Frau ihre Be-
stimmung unbeirrbar weiter: 1983 über-
nahm sie zuerst die britischeVogue, fünf
Jahre später die amerikanische.
Außerhalb der Modewelt wurde Win-
tour vor allem durch den von ihr inspirier-
ten Roman „Der Teufel trägt Prada“ be-
rühmt. In der Verfilmung von 2006 mit
Meryl Streep tyrannisiert eine eiskalte
Magazinchefin ihre Mitarbeiter. Wintour
nahm es sportlich und schaute sich den
Film mit ihrer Tochter an, gekleidet von
Kopf bis Fuß in Prada.
In den letzten Jahren wirkt sie dagegen
deutlich zugänglicher. Etwa in der Video-
kolumne „Go ask Anna“: Da beantwortet
sie bereitwillig Fragen von Leuten auf der
Straße und Prominenten oder plaudert
über große Modemomente. Vielleicht hat
es mit Altersmilde zu tun, oder mit Überle-
bensdrang: 2017 machte Condé Nast
mehr als 120 Millionen Dollar Verlust.
Wintour, mittlerweile auch künstlerische
Leiterin des Hauses, muss neue Zielgrup-
pen und Erlösquellen erschließen. Nicht
alle glauben, dass sie dafür noch die beste
Wahl ist.
Neulich fragte die Sängerin Rihanna
„Anna“ nach ihrer Frisur. Sie habe tatsäch-
lich einmal den Look gewechselt, verriet
Wintour. Das sei allerdings ein fürchterli-
ches Desaster gewesen, seitdem sei sie zu
ängstlich und zu faul für Experimente.
Auch der Bob wird auf unbegrenzte Zeit
im Amt bleiben. silke wichert

S


chon drei Mal ist Robert Habeck
nun zum Wunsch-Kanzlerkandida-
ten der Grünen ausgerufen worden.
Im August teilte Alt-Sponti Daniel Cohn-
Bendit der Welt mit, Habeck könne Kanz-
ler. Parteichefin Annalena Baerbock mö-
ge doch bitte auf eine Kandidatur verzich-
ten, und zwar dalli. Es folgte Baden-Würt-
tembergs Ministerpräsident Winfried
Kretschmann. Na freilich tauge Habeck
zum Kanzler, schwärmte er. Es setzte Kri-
tik von grünen Frauen, die sich von den
Altvorderen nicht einfach einen männli-
chen Kanzlerkandidaten servieren las-
sen. Kretschmann ließ damals wissen,
man habe ihn irgendwie nur halbrichtig
zitiert. Und jetzt? Wollte erneut aus ihm
heraus, was er doch nie gedacht haben
will: dass Habeck Kanzler, Kanzler, Kanz-
lerkandidat werden soll. Gehts eigentlich
noch, die Herren?
Der anhaltende Sprechdurchfall ist
schädlich für die Grünen und ganz beson-
ders für Habeck selbst. Denn es besteht
kein Zweifel, dass er Talent hat und in der
politischen Landschaft zu den interessan-
testen Figuren gehört. Habeck ist gefähr-
lich für die politischen Mitbewerber der
Grünen. Wer ihn aber vor der Zeit und oh-
ne Zustimmung der Partei in eine Kanz-
lerkandidatur hineinloben will, wird das
Gegenteil vom Gewünschten bewirken.
Superstars, zumal männliche wie der-
einst Joschka Fischer, kommen bei den
Grünen nie allein an die Spitze – es sei
denn, grüne Frauen lassen sie. Es ist also
Annalena Baerbock, die den Schlüssel
zur grünen K-Frage besitzt. Sie sollte ihn
bis auf Weiteres nicht aus der Hand ge-
ben. constanze von bullion


D


er Kalif ist tot – es lebe der Kalif!
Nach diesem Motto hat die Ter-
rormiliz Islamischer Staat (IS) ei-
nen Nachfolger für Abu Bakr al-Bagda-
di benannt, der sich der Ergreifung
durch amerikanische Soldaten entzog,
indem er seine Sprengstoffweste zünde-
te und Selbstmord beging. Es ist kaum
etwas bekannt über Abu Ibrahim al-Ha-
schimi al-Kuraischi, nicht mal seine
Identität. Aber die Dschihadisten signa-
lisieren damit Kontinuität und den Fort-
bestand ihres menschenfeindlichen Pro-
jektes. Tatsächlich hat der IS vorge-
sorgt. Seine Führungsstruktur gleicht
einer Matrjoschka, in der verschachtelt
immer schon die nächste Puppe wartet.
Für den IS ist der Tod Bagdadis ein
Schlag, aber einer, der vor allem symbo-
lischer Natur ist. Bagdadi war vielleicht
der Spiritus Rector des Kalifats, nicht
aber dessen Architekt oder Militärkom-
mandeur. Diese Jobs hatten ehemalige
Geheimdienstler aus dem Unterdrü-
ckungsapparat des irakischen Dikta-
tors Saddam Hussein inne. Auch von de-
nen sind etliche tot. Besiegt ist der IS
deswegen trotzdem nicht.
Im Jahr 2007 dezimierten die Ameri-
kaner und sunnitische Stämme im Irak
al-Qaida in der Wüste von Anbar auf we-
niger als 1000 Mann. Es dauerte gerade
kaum mehr als fünf Jahre, bis aus diesen
versprengten Überbleibseln eine Organi-
sation gewachsen war, die ein Drittel des
Irak und die Hälfte Syriens überrannte.
Und die Voraussetzungen heute in Syri-
en und im Irak für eine Wiederkehr des
IS sind sicher nicht schlechter, als sie da-
mals waren. paul-anton krüger

von michael bauchmüller

A


uch die Justiz ist ein Teil der Gesell-
schaft. So gesehen zeigt der Um-
gang deutscher Richter mit den Fol-
gen des Klimawandels, wie sich der Dis-
kurs hierzulande binnen zwei Jahren ver-
ändert hat. Und es ist erst der Anfang.
Vor dem Verwaltungsgericht Berlin ha-
ben drei Bauernfamilien diese Woche er-
streiten wollen, dass die Bundesregie-
rung das Klimaziel für 2020 einhält. Das
Gericht hat die Klage zwar abgewiesen.
Doch bemerkenswert bleibt,dassund
wiediese Entscheidung gefallen ist. Die
Richter hätten die Klage schon vorher ab-
bügeln können; sie haben aber darüber
verhandelt. In dieser Verhandlung hätten
sie es dabei belassen können, die Unzuläs-
sigkeit der Klage festzustellen. Stattdes-
sen wiesen sie explizit darauf hin, dass
der Staat geeignete „Vorkehrungen zum
Schutz der Grundrechte“ treffen müsse.
Damit bauten sie eine Brücke zwischen
Grundrechten und Klimawandel, deren
Tragfähigkeit Kläger künftig austesten
können – egal, ob es um körperliche Un-
versehrtheit oder den Schutz des Eigen-
tums geht, wie bei den Bauern.
Wer das Klima nicht schützt, schützt
auch den Menschen nicht: Die Beweisauf-
nahme in dieser Sache hat begonnen. So
wie auch im Falle des peruanischen Klein-
bauern, der den RWE-Konzern verklagt
hat. Als größter Kohlendioxid-Emittent
Europas trage RWE auch Mitschuld an
der Zerstörung seiner Heimat in den An-
den. Eine durch die Gletscherschmelze
wachsende Lagune bedroht dort den Hei-
matort des Bauern. Auch hier sind Rich-
ter in das Verfahren eingestiegen, die Be-
weisaufnahme läuft. Ein peruanischer
Bauer, der vor deutschen Gerichten Abhil-
fe erstreiten will; ein Gericht, das diese
Klage zulässt – vor wenigen Jahren noch
wäre das alles kaum denkbar gewesen.

Fälle wie diese nehmen dem Klimawan-
del alles Abstrakte. Schmelzende Andeng-
letscher, oder der schwarzfleckige Apfel,
den einer der klagenden Bauern vor dem
Verwaltungsgericht in Berlin vorzeigte:
Sie machen konkrete Folgen der Erderhit-
zung greifbar, mit denen es auch die Poli-
tik künftig vermehrt zu tun bekommen
wird – jenseits der scheinbaren Sachzwän-
ge und kurzfristigen Interessen, die so oft
wirksame Klimapolitik vereiteln.

Der juristische Druck auf die Politik
wird wachsen. Nicht nur, weil die Argu-
mente der Geschädigten greifbarer wer-
den, sondern auch durch das Handeln
der Regierung selbst, die mit neuen Geset-
zen endlich aus der Klimaschutz-Defensi-
ve gelangen will. Dafür dürfte schon das
Klimaschutzgesetz sorgen, das die Koali-
tion auf den Weg gebracht hat. Noch die-
sen Monat soll es den Bundestag passie-
ren. Wird es dort nicht abgeschwächt,
dann liefert es viele neue Vorgaben, de-
ren Einhaltung sich vor Gericht überprü-
fen lässt – von der Festschreibung natio-
naler Klimaziele bis hin zu der Pflicht,
diese auch in jedem einzelnen Bereich ein-
zuhalten. Regierungen, die an diesen Vor-
gaben scheitern (und allein im Verkehr ist
das schon jetzt absehbar), finden sich
künftig auf der Anklagebank wieder.
Ihre Verteidigung wird schwer. Die Klä-
ger nämlich verlangen vom Staat nicht
viel: Er soll tun, was er verspricht. Er soll
Umwelt-Grenzwerte und Klimaziele
nicht nur aufstellen, sondern auch auf
deren Erfüllung hinarbeiten. Selbstver-
ständlichkeiten, eigentlich. Aber die Be-
weisaufnahme dürfte, Stand jetzt, nur be-
scheidene Belege zutage fördern.

von silke bigalke

O


ffenbar ist die Technik installiert,
die Testphase beginnt. Russland
probiert sein „souveränes Inter-
net“. Der Kreml möchte das russische Ru-
net notfalls vom Rest der Welt abkoppeln
können. Ob das gelingt, ist offen. Sicher
aber erreichen die Behörden ein anderes
Ziel: Sie gewinnen größere Kontrolle über
die Online-Inhalte im Land und schrän-
ken damit die Meinungsfreiheit weiter
ein. Schlimmer noch, denn zusätzlich dro-
hen unerwünschte Nebeneffekte. Das Ge-
setz könnte Russland unsicherer und letzt-
lich wohl auch rückständiger machen.
Das Gesetz ist im April beschlossen wor-
den. Seither mussten russische Internet-
anbieter und Online-Dienstleister eine
spezielle Ausrüstung an ihren Servern in-
stallieren. Durch sie kann die Medien-Auf-
sichtsbehörde Roskomnadsor Inhalte bes-
ser überwachen. Die Behörde führt längst
eine schwarze Liste mit unerwünschten
Internetseiten. In Zukunft kann sie zen-
tral entscheiden, welche Inhalte sie blo-
ckiert, wo sie den Datenfluss verlangsamt
oder ganze Regionen vom Netz abkoppelt.
Diese Isolierungspolitik soll Russland
vor Cyberattacken schützen. Außerdem,
so die offizielle Begründung, könnte der
Rest der Welt auf die Idee kommen, das
Land vom globalen Netz abzuschneiden.
Deswegen entwickelt die Behörde nun ein
eigenes Domain Name System, ein Adress-
buch für das Internet. Damit könnte sie
den Datenverkehr komplett auf russische
Server umleiten. Wer ihre Regeln nicht ein-
hält, wird vielleicht bald ausgesperrt.
Was als Schutz gegen äußere Bedrohun-
gen beworben wird, richtete sich aller-
dings auch gegen Kritik von innen. Das In-
ternet ist der Ort, an dem sich die Oppositi-
on bisher noch beinahe ungehindert tref-
fen kann. Zu Protesten verabredet man
sich über Twitter, Facebook oder Tele-

gram. Während die Staatsmedien De-
monstrationen höchstens als Randnotiz
erwähnen, kann man sie im Internet live
verfolgen. Dort berichten Aktivisten auch
über unfaire Gerichtsverfahren gegen De-
monstranten. Online kursieren Videos,
die deren Unschuld beweisen und Polizei-
gewalt bezeugen. Informationen, die der
Kreml gerne kontrollieren würde.
Durch die neue Technik werden sich
die Menschen noch stärker überwacht füh-
len. Welche Meinung erlaubt ist und wel-
che nicht, formulieren einschlägige russi-
sche Gesetze bewusst vage. Wer sicherge-
hen will, der sagt am besten gar nichts.

Dazu kommt die technische Unsicher-
heit von Runet. Was passiert, wenn Ros-
komnadsor den Hebel umlegt und auf das
innere russische Netz umschaltet? Zumin-
dest wird der Datenfluss langsamer wer-
den. Es könnte aber auch Ausfälle geben.
Die Aufsichtsbehörde hat bei bisherigen
Versuchen, einzelne Seiten zu sperren,
häufig Internetseiten lahmgelegt, auf die
sie gar nicht gezielt hatte. Nun riskiert sie
womöglich weitere Kollateralschäden.
Außerdem ist da die unternehmerische
Unsicherheit. Immer neue Auflagen füh-
ren zu immer neuen Kosten für Online-
Dienste und Anbieter. Wer sich dem Wil-
len der Behörden nicht beugt, etwa um
Nutzerdaten zu schützen, wird womög-
lich ganz blockiert. Längst geraten sogar
Internetriesen wie Yandex unter Druck.
Etwa durch die Idee, dass wichtige Inter-
netunternehmen nur noch zu kleinen Tei-
len Ausländern gehören dürfen. Die russi-
sche Isolierungspolitik schadet einer der
wenigen Branchen im Land, die internatio-
nal wettbewerbsfähig und innovativ sind.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten
sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
die Presse vom 3. Oktober 1949.
ANSCHRIFT DER REDAKTION:
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (089) 21 83-0,
Nachtruf: 21 83-77 08, Nachrichtenaufnahme: 21 83-481,
Fax 21 83-97 77, E-Mail: [email protected]
BERLIN:Nico Fried; Robert Roßmann,
Cerstin Gammelin (Wirtschaft), Französische Str. 48,
10117 Berlin, Tel. (0 30) 26 36 66-
LEIPZIG:Ulrike Nimz, Hohe Straße 39,
04107 Leipzig, Tel. (0 341) 99 39 03 79
DÜSSELDORF:Christian Wernicke, Bäckerstr. 2,
40213 Düsseldorf, Tel. (02 11) 54 05 55-
FRANKFURT:Susanne Höll, Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
KARLSRUHE: Dr.Wolfgang Janisch, Sophienstr. 99,
76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
STUTTGART:Stefan Mayr, Rotebühlplatz 33,
70178 Stuttgart, Tel. (07 11) 24 75 93/
HERAUSGEBERRAT:
Dr. Johannes Friedmann (Vorsitz);
Dr. Richard Rebmann, Dr. Thomas Schaub
GESCHÄFTSFÜHRER:
Stefan Hilscher, Dr. Karl Ulrich
ANZEIGEN:Jürgen Maukner (verantwortlich),
Anzeigenaufnahme: Tel. (0 89) 21 83-10 10
ANSCHRIFT DES VERLAGES:Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München

E

s war eine deutliche Warnung:
„In einer Demokratie kommt es
auf die Gesellschaft im Ganzen
an, auf ihren Willen, ihre Moral,
ihre Einsicht, ihren Geist, dage-
gen nicht allein auf Parteien.“ Als Bundes-
präsident Richard von Weizsäcker 1992
seinem Unmut Luft machte, meinte er vor
allem die alles dominierenden Riesen, die
beiden Volksparteien Union und SPD. Sie
sägten, was ein vornehmer Geist wie Weiz-
säcker nicht so ausdrückte, den Ast ab,
auf dem sie hockten.
Eine Generation später ist der Sturz
tief. Die Parteien, die den Anspruch hat-
ten, breite Schichten des Volkes zu inte-
grieren, schrumpfen immer rascher, die
SPD dramatisch, die Union noch ge-
bremst, aber das muss nicht so bleiben.
Die Landtagswahl in Thüringen geriet für
die CDU zum Desaster und hat in der tradi-
tionsstolzen Partei eine Grundsatzdebat-
te ausgelöst: Wofür steht die Volkspartei
CDU/CSU eigentlich noch? Der neuen Par-
teivorsitzenden Annegret Kramp-Karren-
bauer trauen immer mehr Christdemokra-
ten nicht zu, eine Antwort zu finden.
Schon vor zehn Jahren schrieb der Par-
teienkundler Peter Lö-
sche: „Das Zeitalter der
Volksparteien kommt zu
seinem Ende, diese sind
gesellschaftlich, politisch
und historisch überholt.“
Vieles spricht dafür, dass
er recht behalten wird.
Steht also auch den Deut-
schen eine Art Umsturz ih-
res Parteiensystems be-
vor, das als Inbegriff de-
mokratischer Stabilität
galt? Union und SPD ver-
traten gemeinsam die
überwältigende Mehrheit
der Wähler. Nun aber müs-
sen sie fürchten, das
Schicksal ihrer französi-
schen oder italienischen
Schwesterparteien zu tei-
len und aufWichtelgröße
geschrumpftüber die neu-
en Zeiten zu lamentieren.
Für ihre Krise der erfolgs-
verwöhnten Volkspartei-
en gibt es vor allem drei
Gründe. Am ersten können sie wenig än-
dern, an den beiden anderen sehr viel.
Der erste Grund ist natürlich die Auflö-
sung der klassischen Milieus – bei der
SPD-Wählerschaft so sehr, dass sie mehr
Akademiker- als Arbeiterpartei geworden
ist. Der zweite Grund jedoch: Die Volkspar-
teien blieben in der neuen Welt der Viel-
falt trotzdem die alten. Ihr Selbstverständ-
nis ist von der Vergangenheit noch tief ge-
prägt und erst recht ihr Personal. Die Mit-
glieder von SPD und Union sind im
Schnitt 60 Jahre alt und männlich. Nie
zeigten sich die bösen Folgen deutlicher
als im vollkommenen Befremden, mit
dem die CDU auf das kritisch-naive Video
des blauhaarigen Youtubers Rezo reagier-
te – und damit eben auch auf das Lebens-
gefühl vieler junger Menschen.
Drittens aber sind die beiden alten
Volksparteien auch noch in einem Dauer-
bündnis aneinandergefesselt, das ihre
Stärken und ihre jeweilige Identität bis
zur Unkenntlichkeit verwischt. Kein Wun-
der, dass die große Koalition eine ernsthaf-
te Krise erlebt, die vielleicht bald zum
Bruch führt. Es ist die wiederholte Auflage
von Schwarz-Rot und das Bündnis hat pa-
radoxerweise das Gegenteil von dem er-
reicht, was es eigentlich erreichen wollte:


die Bewahrung der Stabilität. Diese Stabili-
tät bestand aber jahrzehntelang darin,
dass die Volksparteien klare Alternativen
anboten. Union oder Sozialdemokraten re-
gierten (mithilfe der wetterwendigen
FDP) und setzten in oft leidenschaftli-
chem Streit Grundsatzentscheidungen
durch: Adenauer die Westbindung,
Brandt die Versöhnung nach Osten, Kohl
die deutsche Einheit. Genau dieses Gefühl
jedoch, nicht nur wählen zu dürfen, son-
dern auch wirklich eine Wahl zu haben, ist
unter Merkels großer Koalition immer
mehr erodiert. Der bislang und vielleicht
für immer letzte SPD-Bundeskanzler, Ger-
hard Schröder, hatte das rot-grüne Lager
noch erfolgreich gegen „die Konservati-
ven“ positioniert. Das war nicht frei von ei-
nem kräftigen Hauch Populismus, aber
auch nicht falsch: In vielen großen Fragen


  • der Verweigerung devoter Gefolgschaft
    im Irakkrieg der USA, dem Atomausstieg,
    der Gleichberechtigung von Minderhei-
    ten – bot Rot-Grün eine klare Alternative
    zur Opposition, und umgekehrt.
    Seit zehn Jahren nun ist das anders. Pro-
    grammatisch, ideell, personell sind die Be-
    teiligten ausgelaugt. Selbst der Wechsel
    des Führungspersonals,
    noch vor einer Generation
    meist ein epochaler Ein-
    schnitt, ist zum nutzlosen
    Ritual geworden. Der Man-
    gel an Alternativen, das ver-
    legene Abmoderieren strit-
    tiger Themen, der schiere
    Zwang zum Konsens – das
    alles ist der Stoff, aus dem
    sich die AfD ihre Legenden
    vom volksfremden System
    bastelt. Profitiert haben
    von der Sehnsucht nach po-
    litischen Alternativen ne-
    ben den Rechtspopulisten
    die Grünen. Womöglich
    sind sie die wahren Gewin-
    ner und steigen zur neuen
    Volkspartei auf.
    Die alten Volksparteien
    aber haben ihr Schicksal
    selbst in der Hand. Wenn
    sie sich selbst nicht mehr
    ganz so wichtig nehmen,
    können sie wichtig bleiben.
    Wenn der Wähler wieder
    versteht, wofür sie stehen, werden sie an
    Attraktivität gewinnen. In der Sozial- und
    Verteidigungspolitik etwa gäbe es zwi-
    schen Union und SPD Unterschiede ge-
    nug. Es war ein Anfang für die alten Volks-
    parteien, zuletzt auf innerparteiliche Mit-
    bestimmung der Basis zu setzen. Außer-
    dem müssen sie sich weit mehr öffnen, at-
    traktiver werden für neue Themen, für
    mehr Frauen und mehr junge Menschen.
    Und vor allem benötigen sie wieder klare
    und zündende Botschaften, wenn sie gro-
    ßen Vereinfachern gewachsen sein wol-
    len.
    In der CDU bemängeln viele, Angela
    Merkel habe, als sie die Partei weit in die
    Mitte führte, die konservative Identität
    der CDU ruiniert. Da ist etwas dran. Frei-
    lich müssten die Kritiker, auch der laute
    Herr Merz, erst einmal erklären, was ei-
    nen zeitgemäßen Konservativen aus-
    macht, der eben nicht den Rechtspopulis-
    ten hinterherläuft.
    Statt zweier Volksparteien also wird es
    künftig fünf, sechs oder mehr kleinere bis
    mittelgroße Parteien geben. Das macht
    Entscheidungen mühsamer, muss aber
    kein Schaden für die Demokratie sein. Es
    kommt eben, wie Weizsäcker sagte, auf
    die Gesellschaft als Ganzes an.


Wenn Konzerne heiraten,
läuft es nicht völlig anders
als bei Menschen. Die einen
lernen sich über Dating-
Apps kennen, die anderen
am Markt. Dann kommt in beiden Fällen
das erste Rendezvous, das zweite, das
dritte, man schaut sich in die Augen oder
in die Bücher. Am Ende steht manchmal
eine Hochzeit – oder man bricht die Ge-
spräche ab. Die Autokonzerne PSA (Peu-
geot, Citroën, Opel) und FCA (Fiat, Chrys-
ler, Jeep) befinden sich derzeit in einer
fortgeschrittenen Kennenlernphase: Die
beiden Unternehmen planen eine Fusion
auf Augenhöhe, die neue Firma soll zu je
50 Prozent den bisherigen Aktionären ge-
hören. Konzerne fusionieren, um profi-
tabler zu werden. Wer größer ist, kann
Fixkosten leichter auf mehr Autos umle-
gen: Betriebswirte sprechen vom Skalen-
effekt. PSA/FCA wären zusammen der
viertgrößte Autohersteller der Welt, ge-
messen am Absatz. Durch den Zusam-
menschluss soll das Gemeinschaftsunter-
nehmen jährlich 3,7Milliarden Euro spa-
ren, was rund zwei Prozent des Umsatzes
entspricht. Ohne Unternehmensberater
und Investmentbanker klappt kaum eine
Fusion, denn die beiden Konzerne sind
Aktiengesellschaften und unterliegen da-
her den Regeln der strengen amerikani-
schen Börsenaufsicht. In diesem Falle
sollen die Berater 90 Millionen Dollar be-
kommen haben. bbr

4 MEINUNG HMG Samstag/Sonntag,2./3. November 2019, Nr. 253 DEFGH


GRÜNE

Vor der Zeit


IS

Reines Symbol


KLIMASCHUTZ

Die Beweisaufnahme beginnt


Die Klägerfordern
nicht viel: Der Staat soll tun,
was er verspricht

RUSSLAND

Gefährliche Isolation


Österreich schleift Raucherbastionen sz-zeichnung: luismurschetz

VOLKSPARTEIEN


Verwischte Identität


von joachim käppner


AKTUELLES LEXIKON


Fusion


PROFIL


Anna


Wintour


Die ewige
„Vogue“-Chefin
wird 70

Das „souveräne Internet“
bedroht die Meinungsfreiheit in
Russland noch weiter

Union und SPD
unterscheiden sich
zu wenig.
Das führt sie
immer tiefer in
die Krise.
Die Sehnsucht
nach politischen
Alternativen nutzt
Rechtspopulisten
und Grünen
Free download pdf