Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

Berlin bewegt sich


20 Berliner Zeitung·Nummer 255·2./3. November 2019 ·························································································································································································································································································


Konzentration vor demTauchgang–70Prozent istKopfsache, jedenfalls bei Anfängern. Heißt auch: Nurweil man atmen will, muss man es noch lange nicht.

N


ach 38 Sekunden ist
Schluss.Meine Lunge
brennt,ichhabedieOri-
entierungverloren und
dieNasevollWasser.MeinKopfstößt
durch die Wasseroberfläche,ich
ziehe dieLuft tief in meineLungen
undmerkeeinmalmehr,dassichei-
gentlich unterWasser nichtsverlo-
renhabe.Gerade haben mich drei
Menschen unterWasser durch das
Wasser gerollt, geschubst, gedreht
und durchgeschüttelt.Meine Auf-
gabe: Unter Wasser in Embryonal-
Haltungverharren,nichtstun,nicht
panischwerden, Luft anhalten, an
etwas Schönes denken. „DasErleb-
nisunterWasserzueinembesonde-
renMoment werden lassen“, so je-
denfalls rät es meineTrainerin Jes-
sicaSchäfer.Garnichtsoeinfach.


AtempausestattLuftanhalten

Jessica ist seit zwölfJahren Geräte-
tauchlehrerin, seit fünfJahren un-
terrichtet sie auch dasApnoetau-
chen, auchFreitauchen genannt.
Apnoe ist griechisch und bedeutet
so viel wieNicht-Atmen. Es ist die
ursprünglichste Form des Tau-
chens.SchoninderSteinzeittauch-
ten die Menschen ohneZusatzge-
räte zumBeispiel nachMuscheln,
Schwämmen oder Perlen. „Ich
nenne es lieberAtempause alsLuft
anhalten“,sagtdie44-jährigeErgo-
therapeutin,dasklingevielpositiver.
Doch ich will keine Schätzevom
Meer sammeln.Mein Hintergrund
isteinanderer.Ichbin Wellenreiterin
unddurchdasSurfenmeinemEmp-
findennachimmervielzulangeun-
ter Wasser,wenn mich eineWelle


vomSurfboar dind en dunklen
Ozean schmeißt und über mir das
brodelnde Weißwasser tobt. Nie
habeichmichdaranganzgewöhnt,
oft stresst es mich.Undweil Jessica
das schon oft gehörthat, bietet sie
seitdiesemJahretwaeinmalimMo-
nat einenApnoetauchkurs extrafür
Surfer an. Dievorige Übung unter
Wassersollteeinen„Waschgang“si-
mulieren, so nennen dieSurfer den
Moment, wenn manvonder Welle
unter Wasser gedrückt wirdund
nichtweiß,woobenunduntenist.
Dabeigehtesnichtdarum,indie-
ser Phase im und unterWasser eine
neue persönliche Atempause-Re-
kordzeit aufzustellen, sondern
darum, sich unterWasser wohl zu
fühlen und zu lernen, wozu wir
LandtiereeigentlichinderLagesind.
Denn was wohl die wenigsten
wissen:Wiealle Säugetierebesitzen
auch wir Menschen einen soge-
nannten Tauchreflex. Dasist ein
SchutzmechanismusbeiallenLebe-
wesen, die mit derLunge atmen.Er
setztein,wennder KopfunterWas-
sergerät.DieRezeptorenimGesicht
erkennen, dass man sich imWasser
befindet.KaltesWasserverstärktden
Reflexsogarnoch.
Undder Körperreagiertsofort:
DerSauerstoffverbrauch wirdauf
überlebenswichtige Organe redu-
ziert, der Herzschlag verlangsamt
sich, dieBlutgefäßewerden enger,
der Körper entspannt. „Dadurch
wirdder Sauerstoff eingespartund
längereTauchzeiten sind möglich“,
erklär tJessica, die selbst bis zu
4:40Minuten ohne Geräte unter
Wasserbleibenkann.

DieTauchdauer einesMenschen
wirddabeihauptsächlichdurchden
Sauerstoff-Gehalt imBlut begrenzt.
Je länger man dieLuft anhält, desto
mehrsteigtdafürderCO 2 -Gehaltim
Blut.UnddieserlöstdanndenAtem-
reiz aus .Die Folge: Manfühlt einen

Druck in derBrust oder imBereich
des Kehlkopfs,man möchte schlu-
cken oder atmen. „Das heißt aber
nicht,dassihrdannzuwenigSauer-
stoff habt“, machtJessica klar.Bei
derAtempauseseibesondersbeiAn-
fängern70P roze nt„Kopfsache“,sagt

sie.Und je entspannter man unter
Wassersei,destowenigerSauerstoff
verbraucheman.Guttrainiertkönne
mandieCO 2 -Toleranzimmerweiter
ausdehnen.
BerühmteBigWaveSurfer ,wie
zum Beispiel Sebastian Steudtner,
derdengrößtenWellender Erdeauf
Hawaii oder im portugiesischen
Nazarénachjagt,schaffenmitgeziel-
tem Training bis zu fünf oder gar
sechsMinutenohneLuftholen.Auch
Steudtner,dereinzigeBigWaveSur-
fer Deutschlands,trainiertdas Ap-
noetauchen für dasSurfen, um den
Körper kennenzulernen und um zu
wissen, wie weit er gehen kann.
SeineBestzeitliegtbei5:50Minuten.
Der34-Jährige muss so etwas kön-
nen. Denn wenn ihn eine 21-Meter
hohe Nazaré-WellevomBrett wirft,
kannernichtdamitrechnen,dasssie
ihnsoschnellwiederausspuckt.Der
Weltrekor dder Frauen liegt bei
9:02Minuten, der besteMann kann
11:35MinutendieLuftanhalten.
Ichwill an diesemTagnicht bis
zum Äußersten gehen. „Das sollte
manohnehinnicht“,betontJessica.
Denn wenn man es übertreibt, be-
stehedieGefahrder Ohnmacht.Da-
hersolltemansolcheÜbungenauch
nie alleine machen.Nach einigen
Atem-, Dehn- und Entspannungs-
übungen an Land geht es in den
Pool. Mitden Händen amBecken-
rand atme ichruhig ein und aus,
konzentrieremich, versuche,Ruhe
zu finden.Dann nehme ich einen
tiefen Atemzug, schließe meineAu-
gen und denke an weiße Sand-
strände,während Jessicadaraufach-
tet, dass ich imPool nicht abtreibe.

Ichsoll heute in meiner „Komfort-
zone“bleibenundwiederhochkom-
men, wenn ich Lust auf Atmen be-
komme,mich einfach wohl fühlen.
WirsindzuviertimK urs–einigesur-
fen schon, anderewollen es lernen
undsichfürdieZeitunterderWelle
vorbereiten.

KopfüberunterWasser
Nächste Übung: Kopfüber unter
Wasser,die Beine hängen über dem
Beckenrand.DasGefühl ist gleich
einanderes,meinemOrientierungs-
sinn gefällt diesesDurcheinander
gar nicht.Ichfinde keineRuhe,ob-
wohl ich mich kaum bewege.Ich
mussschonnachetwa40Sekunden
hochkommen,obwohlichimRuhe-
modusanderWasseroberflächetrei-
bendfasteineMinutemehrschaffe.
ZumVergleich: MitBlei be-
schwer tschaffe ich es auf demBe-
ckenbodenfastgenausolang–dort
laufe ich allerdings umher.Aber
ebennichtkopfüber.Dabeiist voral-
lem interessant, dass man unter
Wasser komplett dasZeitgefühl ver-
liert.WährendichmitBleigurtenim
Armunter Wasser meineRunden
ziehe,habe ich dasGefühl, kaum
mehralszehnSekundenunterWas-
ser gewesen zu sein.Dabei war es
deutlichlänger.
BeimsimuliertenWaschgang,bei
dem ich unter Wasser geschubst
werde, gehtesmirgenauso.Dassind
wichtigeErkenntnisse:Dennobwohl
ich keineMonsterwellen surfe,län-
ger als 45Sekunden drücken mich
meine Wellen nicht unterWasser.
Undwenn doch:Tief einatmen und
anetwasSchönesdenken.

WORKSHOP

Kurs:Vier Stunden dauert
der Kurs in derTauchzentrale
Berlin in der Ohlauer Str.
5-11. Individuelle Gruppen-
termine mit flexiblem Kurs-
termin gibt es ab zweiPerso-
nen auf Anfrageunter
[email protected].

Kosten:79 Eurokostet der
Apnoe-Surf-Workshop pro
Person. Kenntnisse braucht
man keine. Kinder ab zwölf
Jahren können an dem Kurs
in Kreuzberg teilnehmen.
Das erforderliche Equipment
wird gestellt.

Mindestteilnehmerzahl:
Ab zweiPersonen findet der
Workshop statt. Kursleiterin
Jessica Schäfer ist Freedi-
ving Instructor.Buchen kann
man denWorkshop
unter der Homepage
http://www.tauchzentrale.de

Jessica Schäfer leitet unsere Reporterin imPool an. BLZ/GERD ENGELSMANN (2)

Länger,tiefer,weiter


Disziplinen


B


eimApnoetauchengibtesunter-
schiedlichste Disziplinen. So
wirdbeimZeittauchendiemaximale
Zeit gemessen, die einTaucher mit
einem Atemzug unterWasser blei-
benkann.Erbewegtsichdabeimög-
lichst nicht und bleibt dabei an der
Wasseroberfläche.
Beim Streckentauchen mitFlos-
senversuchtderTauchermiteinem
Atmenzug möglichst weit zu
schwimmen. DerWeltrekor dliegt
hierbeidenFrauenbei243Metern,
bei den Männernbei 316 Metern.
OhneFlossengehtesauch:191Me-
ter/Frauenund226Meter/Männer.
BeiFreeImmersion zieht man
sichunterEinsatzderArmmuskula-
turaneinemSeilentlangindieTiefe
und wieder hoch.Hier führ teine
Frau mit 97Meternund ein Mann
mit125 Metern.
Verliertder Taucher übrigens
nach demTauchgang dasBewusst-
sein,wir derd isqualifiziert.

A


uchwennmanbeimApnoetau-
chen keineDruckluftflasche be-
nötigt, gibt es spezielleAusrüstun-
genundKleidungfürdasAbtauchen
unterWasser.Man kann zwar einen
beliebigenNeoprenanzugtragen,es
gibt aber auch spezielle Anzüge für
Apnoetaucher,die mehr Bewe-
gungsfreiheit ermöglichen,weil das
Materialdünnerist.Daskostetweni-
ger Kraft–und die ist beimApnoe-
tauchenwertvoll.
WernuranderWasseroberfläche
bleibt,fürdenreichtaucheinenor-
male Tauchermaske.Geht es tiefer
hinab,sollte man sich eineMaske
zulegen, die für solcheDisziplinen
ausgelegt ist.DasMaterial istwei-
cher –vor allemwenn der Wasser-
drucksteigt,istdasTragendaheran-
genehmer.Zudem gibt esverschie-
deneFlossen–zumBeispieldieMo-
noflosse zum Abtauchen. Ein
weiteres Freitauchutensil ist der
elastischeBleigürtel.

Ausrüstung


D


as größte Risiko beimApnoe-
tauchenistnatürlichderSauer-
stoffmangel, der sich beimTauchen
einstellt.Beieiner Unterversorgung
mitSauerstoffkanneszueinerplötz-
lichen Ohnmacht (Blackout) kom-
men.WasanL and ungefährlich ist,
kannim Wassergefährlichwerden.
DaskannsowohlimPoolalsauch
im Flachwasser passieren, selbst
dann noch,wenn der Taucher wie-
deraufgetaucht ist,weil es bis zu
30Sekunden dauernkann, bis der
neu eingeatmeteSauerstoff dasGe-
hirnerreicht hat.Daher dar funab-
hängigvonderDisziplinniemalsal-
leine getauchtwerden. Heißt: Einer
taucht, der anderesichert. Dasgilt
im Pool genauso wie imFreiwasser.
MansolltedaherseineGrenzenken-
nen. EinApnoetauchgang beginnt
schonvordemEintaucheninsWas-
ser.SchonvordemAbtauchensollte
mansichmitAtem-undKonzentra-
tionsübungenberuhigen.

Sicherheit


IMAGO IMAGES IMAGO IMAGES IMAGO IMAGES

VonMelanie Reinsch

Unter


derWelle


ApnoetauchenistTauchenmitnureinem


Atemzug.SurferkönnendieTechnikfür


sichnutzen,umunterWassernichtin


Stresszugeraten.EinSelbstversuch

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