Berliner Zeitung - 02.11.2019

(nextflipdebug5) #1

2 2./3. NOVEMBER 2019


LiebeYael,


ich habe gerade noch einmal alle unsere
Briefe gelesen.VomMoment, als ich zwi-
schen Kofferninu nserer Berliner Küche
saß, bis zurEinschulungsfeier deinesSoh-
nes.AnderthalbJahreliegendazwischen.So
lange bin ich jetzt hier,ind einer Heimat.
Damals,aml etztenAbendinmeinerKüche,
hätte ich vieles darum gegeben, in dieZu-
kunftzuschauen,umzusehen,obmichdas
Land,derKonflikt,dasLebenamMeerver-
ändert, ob ich es hier überhaupt aushalte,
ob man an einem fremden Orteine neue
Heimatfindenkann.
Ichweißnicht,obeszufrühist,eineAnt-
wortzug eben.Vielleicht, denn um ehrlich
zusein,habeichzweiAntworten.Einelau-
tet: Es war schwer.Die andere:Ichwar
glücklichhier.KlingtwieeinGegensatz,ist
aberdie GeschichtemeinesLebens.
Ichkomme ausOst-Berlin, aufgewach-
sen bin ich am Nöldnerplatz: zweieinhalb
Zimmer,Wohnküche,Bad,Balkon,vordem
Fenster eineKastanie.Die Straßen waren
mit Kopfsteinen gepflastert. Es gab kleine
Geschäfte,eine Drogerie ,einen Bäcker,ei-
nenTierladen,eineBibliothek.Mitunseren
Nachbarn,Kirchenmusikern, feierten wir
Geburtstage undveranstaltetenHauskon-
zerte.IchspielteBlockflöte.
Meine Schule befand sich in einem so-
zialistischen Vorzeigeneubauviertel. Ich
fuhr mit demBushin. Aufdem Rückweg
standhinterderHaltestelleeinSpanneram
Fenster.Fast jedenTagstand er da.Meine
Mutter zeigte ihn an.DiePolizei sagte,der
Mannseinichtgefährlich.
IchfuhrnichtgernealleineBus.Ichfuhr
überhauptnichtgernealleineweg.Mitsie-
benverliefichmichaufeinerSchulfahrtim
Wald,wurdevoneinemEhepaarbeiderPo-
lizei abgegeben undvonder Lehrerin mit
Stubenarrest bestraft.Mitneun sollte ich
dasersteMalinsFerienlagerfahren.Alsich
mich vonmeinen Elternverabschiedete,
schossen mirTränen in dieAugen, ich
wolltezurücknachHause,schaffteesdann
aberdoch,indenBuszus teigen.Hinterder
Scheibe glitten die winkendenElternvor-
bei,derBäcker,derSchreibwarenladen,die
Eisdiele.IchhattedasGefühl,dasallesdas
letzte MalimL eben zu sehen.Aber dann
passierteetwasSeltsames.Jew eiterderBus
rollte,destobessergingesmir.MeineAugen
trockneten,derKloßimHalslöstesichauf.
Am Ende des Ferienlagers wollte ich gar
nichtmehrnachHause.
Sowares vonnunanjedesMal,wennich
mein Zuhause verließ. Abschied tatweh,
hieß aber auchAufbruch, war einVerspre-
chen auf etwasNeues,Aufregendes.Bevor
dieMauerfiel,warichinKiew,Moskau,Kra-
kau,Prag,Budapest,Sofia.IchschliefinZü-
gen, übernachtete aufParkbänken und in

durchnässtenZelten.KaumwardieMauer
gefallen, brach ich in denWesten auf:Bo-
chum, Dortmund,Stuttgart, Bodensee.Im
Sommer 1990verschob ich dieTrennung
vonmeinemFreund,weilermichfragte,ob
ichmitihmnachFrankreichfahrenwill.Als
Alex mich ein paarJahrespäter mit der
Nachricht überraschte,erh abe ein Stipen-
dium inNorthCarolina bekommen, stand
fest,ichkommemit.
Alex war noch mehrvomFernweh ge-
plagt als ich,vorallem Amerika faszinierte
ihn. Er sammelte amerikanischeBundes-
staaten.DieKinderundichsammeltenmit.
An jedem neuen Ort, an den wir kamen,
stelltenwirunsvor, hierzuleben.Wirstan-
den vorMaklerbüros,sahen uns Woh-
nungsanzeigen an und überschlugen die
Kosten.Inunserer Fantasiezogenwirnach
Portugal, Italien, Frankreich, Russland,
kauftenHäuserinFlorida, Maine,Philadel-
phia, SanFrancisco.Wir kosteten unsere
neuen Freiheiten aus,aber unsereReisen
umdie WeltwarenauchAusdruckeinerge-
wissenHeimatlosigkeit.
Ichhatte mir das Leben in dem neuen
Deutschland sovorg estellt wie die ersten
Monate nach demMauerfall inOst-Berlin,
wild,anarchisch,mitneuenChancenfürje-
den und der Möglichkeit, alles infrage zu
stellen.AbereswargarkeinneuesDeutsch-
land,eswardiealteBundesrepublikmitih-
renaltenRegelnundNetzwerken.MeinVa-
ter,ein Chemieprofessor,verlor seine Ar-
beit, meineFreundin Simone verlor den
Halt und nahm sich das Leben.Durchdas
Viertel meinerKindheit am Nöldnerplatz
zogen Neonazis,die kleinen Geschäfte
schlossen.Meine Mutter und ihreNach-
barnzogen weg. Mein Großvater musste
seinenGartenaufgeben,indemichalsKind
dieSommerverbrachthatte.
Alexundich,junggenugfüreinenNeu-
anfang,beschriebendieVeränderungenin
der Gesellschaft. Über Anzeigen fanden
wir Frauen in den Fünfzigern, die gerade
ihreArbeit verloren hatten und sich nun
als Kindermädchen oderHaushaltshilfen
was dazuverdienen wollten. Manche
brachten ihrearbeitslosen Männer mit,
damitdiezuHausenichtsoalleinerumsit-
zenmussten.Mit25b ekamichmeineerste
RedakteursanstellungundgingsechsMo-
natenachderGeburtunseres Sohneswie-
der arbeiten, 40Stunden proWoche,viele
Überstunden.Beimeiner westdeutschen
ZeitungwarichdieeinzigeMuttermitklei-
nem Kind. Ichlebte zwei Leben in einem:
das der Ostdeutschen mitJob, Mann und
Kind und das derWestfrau, dieKarriere
machte und um dieWelt reiste.Von den
tollen NeunzigerninB erlin, vondenen
heute alle schwärmen, bekam ich nicht
vielmit.
1999 zogen wir nachNewYork. Es war
Alex’Traumgewesen,undalsereinAnge-

bot als Korrespondent bekam, gaben wir
dieWohnungaufundstiegenmitKindern
undKaterins Flugzeug. MitjederMeile,die
wiruns vonBerlinentfernten,hatteichdas
Gefühl, michvoneiner Last zu befreien.
NewYork, dieEinwandererstadt, machte
esunsleicht.Hierwaresnormal,neuan-
zufangen.Hier gingen jüdische,muslimi-
sche,christliche Kinder zusammen zur
Schule.Meine Freundin Debbie kam aus
einer ungarischenFamilie,meine Freun-
din Tinna aus Schweden, in meinerEng-
lisch-KlasseaufdemBaruch-Collegelern-
ten Frauen und Männer ausRussland, Ja-
pan, Polen, Frankreich.Ichwar eine von
ihnen.
InderFerneschrumpftendieProbleme,
die mich in Berlin beschäftigt hatten.
Wenn ich zurückflog, kam mir dieStadt
leerundlangsamvor. Dasändertesichbei
jedem Besuch. DasLeben wurde quirliger
und internationaler,ein bisschen wie in
NewYork. DieWäldervonPennsylvaniaer-
innertenmichandenThüringerWald,die
SeenvonCapeCodanB randenburg.
Nach siebenJahren rissen wir unsvon
NewYorklos und zogen nachPrenzlauer
Berg .Das Bötz owviertel mit seinen Läden
und Cafés,dem Kino und demPark erin-
nerteunsanunserViertelin Brooklyn.Als
Alex’Elternbald darauf ihrenGarten in
Brandenburgaufgeben wollten, zögerte
ichkeinenMoment.DieserBungalowzwi-
schenzweiSeenwarderOrt,nachdemich
gesuchthatte.EinPlatzim Niemandsland
mit denGerüchen meinerKindheit und
denVögeln und Pflanzen aus demGarten
meiner Großeltern. Wenn ich hier an-
komme,ausdem Autosteige ,denweichen
WaldbodenbetreteundzumSeehinunter
laufe,wirdmir leicht umsHerz,und ich
willniewiederweg.Geradealswirmitdem
Umbau fertig waren, erhielt Alexvonsei-
nerRedaktiondasAngebot,nachIsraelzu
ziehen. Icherzählte meinem Chefredak-
teur davon, in der Annahme,erw erde so-
wiesoNeinsagen.Stattdessensagteer,die
Korrespondentenstelle derBerliner Zei-
tungwerdeauchgeradefrei.
Israel! Daserste Malwaren wir mit
FreundenausBerlinundNewYorkhierge-
wesen, hatten das ganzeLand bereist, die
Negev-Wüste,dieGolanhöhen,TelAvivund
Jerusalem. Eine atemberaubende Rund-
fahrt,beiderwirvondenProblemeninder
Region nur amRande etwas mitbekamen.
DaswarbeimeinemzweitenBesuch,einer
Fahrtmitder Bundeszentralefürpolitische
Bildung,anders.ZehnTagezwischenIsrael
unddenbesetztenGebieten,zehnTagehin-
undhergerissenseinzwischenzweischein-
bar unversöhnlichen Völkern,zehn Tage
Konfrontation mit der deutschen Ge-
schichte,dieauchmeineeigenewar.
Wirkonnten gar nicht ablehnen.Wir
mussten das machen.Wieder Kisten pa-

cken, wiederWohnung aufgeben, wieder
Abschiednehmen,diesmalauchvonunse-
renKindern, die inBerlin studierten.Nur
unserenKater nahmen wir mit und den
Vorsatz,nichtlängeralszweiJahrezub lei-
ben.
DenRest kennst du ja.Israel ist das
wahrscheinlich schönste Land, das ich
kenne,das aufstrebendste,stolzeste und
verletzlichste.Selten habe ich mich so si-
cherundunsicherzugleichgefühlt,sozer-
rissen und überfordert, noch nie habe ich
esso verflucht,aufDolmetscherangewie-
senzuseinundnichtdieZwischentönezu
verstehen,aufdieesankommt,wennman
dieWirklichkeitbeschreibenwill.
Dreimal in derWoche lerne ichHebrä-
isch,alswürdeichfürimmerbleibenwol-
len.DerUnterrichtgibtmirdasGefühl,an
einemOrtzus ein,woichDingelerne,die
klaren RegelnfolgenundwoichdasChaos
ummichherumfüreinpaarStundenver-
gessenkann.MüssteicheinenOrtinI srael
nennen,andemichmicheinbisschenwie
zu Hause fühle,dann gehörte dieser Klas-
senraum dazu. Genau wie die Carroll
Streetin Brooklyn,woichmitAlexundden
Kinderndie sieben wohl glücklichsten
Jahremeines Lebensverbracht habe,wie
dasHausamNöldnerplatz,indemichauf-
gewachsen bin, wie derWald in Branden-
burg,indemichzurRuhekommeunddie
Straßeim PrenzlauerBerg ,woi chvonmei-
nemFensterausindeinessehenkann.
WennichinBerlinlandeundindieIn-
nenstadtfahre,fälltmiraufeinmalwieder
ein,dassihrjaauchhierseid,duundAha-
ronund die Kinder.Dass ich,wenn ich
wieder hier wohne,einfach nur über die
Straße gehen muss,umd ich zu sehen.
Dashätte ich natürlich auch früher ma-
chenkönnen,aberjetztistdanochetwas
andereszwischenuns,soe inVerständnis,
das entsteht,wenn man sich bestimmte
Dinge nicht mehr erklären muss.Ich
kenne deineEltern, dein Haus,deine
Sprache,ichwaramStrand,andemduso
gerne schwimmst und wo dein erstes
Plattencoverentstand.Ichahne,wovordu
weggelaufen bist und was du in deinem
neuen Leben aus deinem altenvermisst,
und ich beneide dich nicht um dieEnt-
scheidung, die du irgendwann treffen
wirst:gehenoderbleiben.
Ichwünsche mir natürlich, dass du
bleibst. Dass wir beide inBerlin bleiben.
Während ich um dieWelt gereist bin, um
eineHeimatzufinden,istBerlinzur Welt-
stadtgeworden.EinOrt,and emessichgut
aushaltenlässt.UndfallsdudocheinesTa-
geszurückgehensolltest,indeineHeimat,
schreibenwirunsebenwiederBriefe.Nur
andersherum.Du schreibst mir ausTel
AvivundichschreibedirausBerlin.

DeineAnja

Anja Reich ...


...geboren in Berlin,studierteJournalistik in
Leipzig,arbeitete als Redakteurin bei derWelt
und berichtete als Reporterin für die Berliner
Zeitung aus NewYork, Berlin undTelAviv.
Sie wurde mit dem Theodor-Wolff- und dem
Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.
„Getauschte Heimat“ ist ihr drittes Buch.

Kein


EineinhalbJahrelangschriebensieeinander:Anja


Reich,dievonBerlinnachIsraelgezogenwar,undYael


Nachshon,dieausIsraelkommtundjetztinBerlinlebt.


EswurdeeinDialogüberdasAufbrechen,das


AnkommenunddieFrage,wasHeimatist.Nun


erscheinendieBriefealsBuch.EinAuszug

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