DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,6.NOVEMBER2019 FORUM 15
D
iese Nachricht hat viele in
der Republik aufgeschreckt:
Erstmals in der Geschichte
der Bundesrepublik ist die
ältere Generation stärker von Armut
bedroht als die jüngere. So melden es
die Experten des Statistischen Bundes-
amtes. Bedroht heißt noch längst nicht
arm. Im Wesentlichen macht die Ziffer
die Verteilung der Einkommen im Land
offenbar, und da fallen die Senioren
relativ gegenüber den Menschen zurück,
die im Berufsleben stehen. Die Daten
scheinen die Notwendigkeit einer
Grundrente zu unterstreichen, auf die
sich die große Koalition im Koalitions-
vertrag vereinbart hat. Doch man muss
sich hüten, aus der leicht steigenden
Armutsgefährdung der Älteren die fal-
schen Schlüsse zu ziehen. Ein Irrweg
wäre eine wahnsinnig teure „Respek-
trente“ nach dem Gießkannenprinzip.
Sie liefe auf jenes Gutgemeint hinaus,
das das Gegenteil von gut ist.
Im Umschwung zu mehr Altersarmut
schlagen sich die demografischen Reali-
täten Deutschlands wieder. Ein immer
größerer Teil der Bevölkerung befindet
sich im Rentenalter. Schon jetzt genie-
ßen gut ein Fünftel aller Bundesbürger
den Ruhestand, in manchen Bundes-
ländern, vor allem im Osten, aber nicht
nur dort, nähert sich der Anteil der
Senioren einem Drittel der Einwohner.
Die Politik hat beschlossen, das Ren-
teneintrittsalter gleich zu lassen oder
sogar im Falle der „Rente mit 63“ für
bestimmte Gruppen abzusenken. Bei
steigender Lebenserwartung folgt da-
raus unweigerlich, dass die aktuell Er-
werbstätigen für mehr Ruheständler
aufkommen müssen. Sollen die Renten-
beiträge für Arbeitnehmer und Arbeit-
geber nicht explodieren – und das will
die Regierung erklärtermaßen verhin-
dern, auch, aber nicht nur aus Gründen
der internationalen Wettbewerbsfähig-
keit –, darf das Niveau der Renten, ge-
messen an Löhnen und Gehältern, nicht
überproportional steigen. Sonst würde
uns das System sehr schnell um die
Ohren fliegen.
Wohlgemerkt: In absoluten Zahlen
klettern die Bezüge aus der gesetzlichen
Rentenversicherung. Mancher Berufs-
tätige würde sich über die 3,2 Prozent
mehr im Westen und die 3,9 mehr im
Osten, die es 2019 für Ruheständler gab,
gefreut haben. Dennoch trifft es zu,
dass die Renten manchmal nicht mit
den Kosten mithalten können, mit de-
nen Senioren in den Städten konfron-
tiert sind. Nicht jeder ältere Mensch hat
Anspruch auf die vollen Bezüge des
sogenannten „Eckrentners“. Längere
Phasen der Arbeitslosigkeit, der Krank-
heit oder der Teilzeit vermindern die
Anwartschaften, sodass die gesetzliche
Rente gerade im Fall vieler Frauen (die
sich um die Familie gekümmert haben)
in der Nähe oder unter der Grund-
sicherung liegt. Das bedeutet manchmal
„nur“ statistische Armutsgefahr, manch-
mal aber auch richtige Armut mit mate-
rieller Entbehrung.
Wie aber sollen Politik und Gesell-
schaft auf das zunehmende Risiko von
Altersarmut reagieren? Statt mit einer
wohlklingenden „Respektrente“ zig
Milliarden über dem Land auszugießen,
sollte sich die große Koalition auf das
besinnen, was sie ursprünglich be-
schlossen hatte: Aufstockung der Ren-
ten bei echter Bedürftigkeit. Die ei-
gentliche Wurzel des Übels aber liegt
tiefer: Zwar wird es immer Menschen
geben, die auf staatliche Hilfe angewie-
sen sind, im Erwerbsalter ebenso wie im
Rentenalter. Deutschlands Besonderheit
aber ist die mangelnde Vermögens-
bildung bis weit in die Mittelschicht
hinein. Hier muss die Politik ansetzen,
und zwar dringend.
Es zeichnet sich ein absurder Zustand
ab: Der wie eine blank polierte, hoch-
tourige Maschine arbeitende Sozial-
staat, der schon jetzt jährlich eine Billi-
on Euro umverteilt, droht durch schiere
Umverteilung ein Loch in den privaten
Wohlstand des Bürgertums zu reißen.
Auf der einen Seite die hohe Steuern-
und Abgabenlast, auf der anderen Seite
die Steuerfuchs- und Fördermittel-
Mentalität, die Bürger mental zu ge-
hobenen Sozialhilfeempfängern macht:
Diese Kombination hält weite Teile der
deutschen Mittelschicht davon ab, sel-
ber Vermögen aufzubauen. Von dieser
Lähmung ergriffen, verlassen sich selbst
gut Verdienende auf „die Rente“ und
begnügen sich darüber hinaus damit,
ihre mehr oder minder üppigen Erspar-
nisse auf dem Bankkonto zu lassen.
Dieses Übersparen hat auf lange Sicht
fatale Folgen. Dass Sparer den Wettlauf
gegen die Geldentwertung verlieren,
gibt es nicht erst seit Erfindung der
Nullzinspolitik. Doch heute ist diese
Sorge besonders akut.
Mehr Sozialstaat,
mehr Armut
Wer glaubt, die geplante „Respektrente“
der GroKo bringe mehr Gerechtigkeit, irrt.
Stattdessen droht ein absurder Zustand:
Der Sozialstaat, der schon jetzt jährlich eine
Billion Euro umverteilt, droht ein Loch in den
privaten Wohlstand des Bürgertums zu reißen
DANIEL ECKERT
LEITARTIKEL
Schon seit drei Jahren bringen Spar-
buch oder Tagesgeld unter dem Strich
keine positive Rendite mehr, die Aus-
sichten, dass sich das unter der neuen
EZB-Chefin Christine Lagardeändert,
sind minimal. Hier wird Wohlstand ver-
nichtet, ohne dass irgendwer davon pro-
fffitiert. Andere Industrienationen habenitiert. Andere Industrienationen haben
andere Schlüsse gezogen als die Deut-
schen, die sich sehr auf ihren Sozialstaat
verlassen. Sie ermutigen ihre Bürger
dazu, selber Vermögen aufzubauen, sei es
als Immobilieneigentum oder Wert-
papierbesitz. Hierzulande sind alle Ver-
suche im Halbherzigen stecken geblie-
ben, sei es die Förderung der Betriebs-
rente oder Riester, die beide an ihrer
Kompliziertheit und teilweise schwachen
QQQualität der Angebote kranken.ualität der Angebote kranken.
Das Schlimmste aber: Unter Finanz-
minister Olaf Scholz (SPD) werden
gutes Einkommen und der selbstständi-
ge Aufbau von Vermögen unter General-
verdacht gestellt und mit immer neuen
Erschwernissen belegt. Geht es nach
dem Sozialdemokraten, der nun auch
den Parteivorsitz anstrebt, sollen
Selbstentscheider und Anleger zum
Beispiel weiter Solidaritätszuschlag
zahlen. Die von Scholz geplante Aktien-
steuer tut – mit verheerender Signal-
wirkung – ein Übriges, um die Wohl-
standsentwicklung in der Mittelschicht
zu stören. Diese Maßnahmen weisen in
die komplett falsche Richtung, denn sie
erschweren und behindern nicht nur die
Vermögensbildung, indem sie die Ka-
pitalaufnahme der Unternehmen er-
schweren, sie schwächen auch die deut-
sche Wirtschaft. Ganz im Sinne der
Dichotomie von Arbeit und Kapital soll
es der arbeitenden Bevölkerung offen-
bar verleidet werden, sich an produkti-
vem Kapital zu beteiligen und damit
selber Kapital zu bilden. Ein wahrhaft
kurioser Ansatz für eine sozialdemokra-
tische Partei, der es um verbesserte
Mitarbeiterbeteiligung gehen müsste,
zumal damit auch einige Aspekte der
Altersarmut abgedeckt werden könnten.
Keine Frage, ältere Menschen, deren
Rente nicht zu einem würdevollen Le-
ben reicht, brauchen staatliche Hilfe
und sollen sie bei echter Bedürftigkeit
auch bekommen. Doch eine Politik, die
die Kapitalbildung in der Mittelschicht
vereitelt, dient nicht der Verhinderung
von Altersarmut, sondern verschärft die
Situation bis weit ins bürgerliche Herz
der Gesellschaft hinein. Das führt zu
einer grundsätzlichen Betrachtung: Am
meisten würde weitsichtige Politik den
kommenden Generationenvon Rent-
nern dienen, indem sie die deutsche
Wirtschaftskraft stärkt. Denn unabhän-
gig davon, wie man die Altersvorsorge
organisiert, staatlich oder privat, die
Menge des Geldes, das zum Verteilen
zur Verfügung steht, wird stets be-
stimmt durch den Erfolg unserer Unter-
nehmen zu Hause und auf den Welt-
märkten.
Es gehört zu den schlimmsten Ver-
säumnissen der großen Koalition, nicht
mehr getan zu haben für die Schaffung
künftigen Wohlstands. Vor allem die
SPD hat sehr viel Mühe darauf ver-
wendet, Reichtümer „gerechter“ zu
verteilen, statt die Chancen auf Reich-
tum in der Breite der Gesellschaftzu
mehren. Wer aber Reichtum ins Visier
nimmt, wird auf lange Sicht nicht Ge-
rechtigkeit ernten, sondern Armut.
[email protected]
KOMMENTAR
DAGMAR ROSENFELD
Eine neue
Regierung
T
otalausfall.Keine Kompetenz
mehr. Keine Energie. Migrati-
on, Euro, Zinspolitik, große
Fragen, die immer noch nicht ge-
klärt sind. Diese Zustandsbeschrei-
bung Deutschlands kommt nicht aus
den Oppositionsreihen und auch
nicht von Kevin Kühnert, der mit
Dauerkritik an der großen Koalition
versucht, aus den Ruinen der Sozial-
demokratie sozialistische Luft-
schlösser zu bauen. Nein, es sind
prägende CDU-Politiker, die in er-
nüchternder Trostlosigkeit über
unser Land und seine Regierung
sprechen.
Nach der SPD, die mit dem Her-
zen nie und dem Verstand nur halb
in der großen Koalition angekom-
men ist, hat nun auch die CDU auf-
gegeben. Sozialdemokratengleich ist
sie in zorniges Wehleid verfallen,
referiert über das, was sein könnte
und zu tun wäre, aber alles nicht ist,
weil es der Koalitionspartner ver-
hindert. Und wie in der SPD ist die
Kampfzone auf die eigenen Reihen
ausgeweitet worden, auf die Partei-
vorsitzende mit Gebrüll.
Hat Angela Merkel die CDU in-
haltlich sozialdemokratisiert, so tut
Annegret Kramp-Karrenbauer es
nun habituell: Es ist, als inszeniere
sie vor christdemokratischem Publi-
kum die schlimmsten Fehler der
SPD-Führung neu. Nach der Martin-
Schulz-Imitation, ein Amt erst aus-
zuschließen, um es dann anzuneh-
men, folgt der Andrea-Nahles-Take:
die Kritiker herausfordern, die Füh-
rungsfrage austragen. Wohin das
Nahles geführt hat, ist bekannt.
Über Personalien zu diskutieren,
Parteiprogrammatik pur zu pro-
pagieren, Koalitionsentscheidungen
infrage zu stellen, also all das, was
beide Regierungsparteien praktizie-
ren, sind Privilegien von Oppositi-
onsparteien. Die Aufgabe von CDU
und SPD ist, sich mit dem Land zu
beschäftigen, nicht mit sich selbst.
Tatsächlich hat diese große Ko-
alition die Verantwortung für das
Land längst abgegeben. Sie stellt
zwar noch das Personal, die Inhalte
aber kommen von anderen. Die
Migrationspolitik ist durch die
Wahlerfolge der AfD geprägt wor-
den, das Klimapaket nur durch den
Druck des Umfragehochs der Grü-
nen und ihrer Prätorianergarde von
Fridays for Future entstanden.
Auch wenn Angela Merkel noch
Kanzlerin ist, regiert wird die Re-
gierung von der Opposition. Das darf
nicht so bleiben. Deshalb ist es an
der Zeit, die Wähler entscheiden zu
lassen. Wenn sie endlich nicht mehr
aus Protest, manche sagen auch aus
Notwehr, gegen eine große Koalition
abstimmen, sondern über eine neue
Regierung, dann wird wieder sicht-
bar werden, was derzeit von den
Extremen verdeckt ist: die verant-
wortungsbereite bürgerliche Mitte.