Die Welt Kompakt - 06.11.2019

(Brent) #1

18 PORTRÄT DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,6.NOVEMBER


E


r sagt Sätze wie: „Ich
versuche, Floskeln
und Anglizismen zu
vermeiden“ oder: „Ich
will weg von Punchlines und
Statements.“ Max Herre ist der
Universalgelehrte der deut-
schen Hip-Hop- und Pop-Bran-
che. Der Rapper, Songschreiber
und Produzent feilt lange an
seinen Projekten. Seine Platten
sind Zeugnisse einer inneren
Emanzipationsbewegung. Be-
reits auf seinem jüngsten Werk,
„Hallo Welt!“ von 2012, suchte
er mit Gleichgesinnten wie der
Schweizer Songschreiberin So-
phie Hunger und dem amerika-
nischen Neo-Soul-Sänger Aloe
Blacc nach neuen Wegen der
VVVölkerverständigung im Auftragölkerverständigung im Auftrag
der Kunst. Herre ist ein Träu-
mer, der sich den Blick auf die
Wirklichkeit nicht vernebeln
lässt.


VON MAX GÖSCHE

Seit „Hallo Welt!“ veröffent-
lichte er eine „Unplugged“-
Platte, tourte eine Zeit lang da-
mit durchs Land und half seiner
Frau, Sängerin Joy Denalane, im
Studio. Zwischendurch war er
viel unterwegs und sammelte
Ideen für ein neues Soloalbum.
2 015 sah zunächst alles so
aus, als würde die musikalische
Reise in Richtung Spiritual- und
Ethno-Jazz gehen. „Irgendwas
zwischen Last Poets, Gil Scott-
Heron und Mulatu Astatke“,
meint Herre und spricht selbst
von einem „hehren Vorhaben,
dem ich nicht gerecht geworden
bin. Ich dachte, ich werde zum
Feldreporter.“
Er stellte fest, dass er mehr
bei sich suchen musste. In Tel


AAAviv schloss er sich eine Wocheviv schloss er sich eine Woche
lang ein, um Texte zu schreiben
und den richtigen Ton zu fin-
den. Irgendwann machte es
klick, und das Konzept, das dem
neuen Album seinen Titel gab,
war geboren: „Athen“.
AAAthen ist für Herre ein Sehn-then ist für Herre ein Sehn-
suchtsort, ein Fluchtpunkt.
Sein Vater lebte dort in den
Achtzigerjahren. So verbrachte
Herre einige Zeit seiner Kind-
heit und Jugend in der grie-
chischen Hauptstadt.
Der Titelsong ist vieles: eine
Hommage an diese Phase seines
Lebens, ein Roadtrip mit einer
alten Liebe. Aber im Vorbeifah-
ren schlägt diese zwischen Mar-
vin Gaye und Pink Floyd oszil-
lierende Elegie auch Schneisen
in die jüngere Vergangenheit,
ffflimmern Bilder von Schulden-limmern Bilder von Schulden-
und Flüchtlingskrise.
„Ich mag es, dass da etwas
Brüchiges und Prekäres mit-
schwingt“, erklärt Herre. Es
vergleicht die aktuelle Situation
in Athen mit der im Berlin der
Nachwendeära. Es gebe Nöte
und Armut, aber auch Solidari-
tät und Aufbruchsstimmung.
Vielleicht entspringt Herres
Wissensdurst dem Umstand,
dass er aus einer vermeintlich
homogenen Gegend stammt.
Herre wird 1973 in Stuttgart ge-
boren. Die Hauptstadt Baden-
WWWürttembergs steht für ge-ürttembergs steht für ge-
pflegten Wohlstand und wirt-
schaftliche Stärke, Demons-
tranten gegen einen protzigen
Hauptbahnhof und grün-kon-
servative Bürgerlichkeit. Sind
das nur Klischees, geboren aus
Sozialneid, verbreitet von Men-
schen, die nichts gesehen haben
außer einer Fassade? „Das
stimmt schon alles“, sagt Max

Herre lakonisch. „Andererseits
ist die Region viel heterogener,
als man das von Berlin aus ver-
muten würde. Es gab dort im-
mer viel Industrie und damit
viele Einwanderer.“
Deshalb steht Stuttgart auch
fffür eine Undergroundszene, dieür eine Undergroundszene, die
der deutschen Popmusik regel-
mäßig kreative Impulse gibt.
Vielleicht weil es sich an glatten
Oberflächen besonders gut rei-
ben lässt. Herre sinniert über
„kleine Städte“, über ihr Poten-
zial in Sachen Subkultur. „Wenn
man da Gegenkultur will, muss
man es selbst in die Hand neh-
men. Das hat viele progressive
Kräfte gefördert, die das, was
sie machen, ernst nehmen. In
Berlin schwimmt man ja schnell
einfach so mit.“
Herre wird Ende der Neunzi-
ger mit dem Trio Freundeskreis
bekannt. Mit dem Debütalbum
„Quadratur des Kreises“ von
1 997, mehr noch mit dem Nach-
fffolger „Esperanto“ von 1999olger „Esperanto“ von 1999
entwickelt Freundeskreis eine
multilinguale, von Soul, Jazz,
Funk, Reggae und Afro-Beat be-
fffeuerte Rap-Musik, in der ein-euerte Rap-Musik, in der ein-
gängige Ästhetik und komplexe
Inhalte kein Widerspruch sind.
„„„Wir bringen euch Hip-Hop-Wir bringen euch Hip-Hop-
Sound, in dem sich die Welt
spiegelt“, verkündet die Band
selbstbewusst im Titelstück ih-
res zweiten Albums. In der Tra-
dition von Gruppen wie Advan-
ced Chemistry nimmt sie politi-
sche Lethargie und mediale
Selbstgefälligkeit, Rassismus
und Konsumismus ins Visier.
Freundeskreis fordert den
Mainstream heraus und wird
dabei selbst zu Mainstream-
KKKünstlern. Auf den eleganten,ünstlern. Auf den eleganten,
von sanften Melodien getrage-

nen Flow können sich viele eini-
gen, die mit Hip-Hop sonst eher
wenig am Hut haben.
Bei der Suche nach einer Sän-
gerin für die Freundeskreis-Sin-
gle „Mit Dir“ lernt Herre seine
spätere Frau kennen. Max Her-
re und Joy Denalane verlieben
sich und ziehen 2002 gemein-
sam nach Berlin. Auf seinem So-
lodebüt wagt Herre 2004 etwas,
das in seinem Beruf gern als un-
cool abgetan wird: Er rappt
über Vaterfreuden und Famili-
englück.
Herre bricht aus der infanti-
len Spirale aus, in der Pop seine
Runden dreht, und macht Mu-
sik für Erwachsene. Seine Songs
werden zunehmend experimen-
tierfreudiger, jonglieren mit
Samples und Stilen. Dabei
pflegt er das alte Hip-Hop-Ritu-
al der Gemeinschaftsarbeit mit
prominenten Duettpartnern.
„Ich bin ein Teamplayer“, so
Herre, „obwohl ich auf meinen
eigenen Platten schon das letzte
WWWort habe, weil ich mich da alsort habe, weil ich mich da als
KKKünstler definieren muss.“ Einünstler definieren muss.“ Ein
VVVentil, um ein bisschen Kontrol-entil, um ein bisschen Kontrol-
le abzugeben, findet er in Ne-
benprojekten wie den FK All-
stars, das ihm sogar einen Auf-
tritt im gigantischen Festivalzir-
kus von Rock am Ring beschert.
Nach einer Trennungsphase
Ende der Nullerjahre sind Her-
re und Denalane heute wieder
fffest liiert. Sie treten regelmäßigest liiert. Sie treten regelmäßig
zusammen auf. „Gemeinsam
auf der Bühne zu stehen ist in
erster Linie Arbeit. Trotzdem
verhandelt man auch immer die
Beziehung mit“, gesteht Herre.
Beziehung plus kreative Part-
nerschaft wirkt von außen be-
trachtet wie die perfekte Kom-
bination. Welche Spannungen

und Probleme es birgt, wenn
zwei nicht nur die Liebe zuei-
nander, sondern auch die Liebe
zur Kunst teilen – darüber hat
Herre „Das Wenigste“, einen
der schönsten Tracks auf
„Athen“, geschrieben.
Und hat dafür einen unge-
wöhnlichen Ansatz gewählt.
„Der Impuls bei Liebesliedern
ist ja meistens, in Superlativen
zu schwelgen“, erklärt er. „Mir
ging es darum zu sagen: Der
kleinste gemeinsame Kern ist
das, was es zu beschützen gilt.“
Zu intim wird es bei Herre je-
doch nie. Von den Befindlich-
keiten, mit denen die Generati-
on Max Giesinger zur kollekti-
ven Nabelschau einlädt, ist Her-
re weit entfernt. Hier zieht sich
einer mal nicht ins Private zu-
rück, sondern behauptet noch
die Möglichkeit des kleinen
Glücks, ohne das große Chaos
stumm zu schalten.
Die Beschäftigung mit unter-
schiedlichsten Einflüssen und
KKKulturen ist ihm eine verdammtulturen ist ihm eine verdammt
ernste Angelegenheit, keine lee-
re Pose. Es steckt keine Ironie
darin, wenn Herre im neuen
Stück „Nachts“ den gleichnami-
gen Titel der Band Panta Rhei
sampelt, eine vergessene Perle
ostdeutscher Songschreiber-
kunst.
Als er 2002 nach Berlin kam,
entdeckte er auf Flohmärkten
alte Amiga-Platten. Und stieß
auf das Paralleluniversum der
DDR-Popkultur. Herre begeis-
tert sich für die Ostbeat-Szene
und den Jazz der DDR. Namen
wie Veronika Fischer, Hansi
Biebl, Stern-Combo Meißen ge-
hen ihm mit der gleichen
Selbstverständlichkeit über die
Lippen wie Nas, James Taylor
oder Udo Lindenberg.
Viele Aufnahmen aus der
DDR hätten ihn in Erstaunen
versetzt. „Das hat mir gezeigt,
dass die Musik, die in den Sieb-
zigern im Osten entstanden ist,
im Vergleich zum Westen auf
einem viel höheren Level war.“
Durch Sätze wie diese könnte
eines Tages tatsächlich zusam-
menwachsen, was zusammen-
gehört.
Herres Herz für die gesell-
schaftlich richtige Sache schlägt
auf „Athen“ ohne viel Pathos.
„Dunkles Kapitel“ thematisiert
den wieder erstarkten Nationa-
lismus und Rechtsextremismus.
Für den Song holte er sich Un-
terstützung von Dirk von
Lowtzow. Den Beitrag des To-
cotronic-Sängers bezeichnet er
in Anspielung auf die größte
US-Folk-Ikone als „Pete-See-
ger-Part“.
Herre betont: „Mir war es
wichtig, dass in ‚Dunkles Kapi-
tel‘ viele Stimmen sprechen.“
Dem dunklen Kapitel schließt
sich „Sans Papiers“ an, ein
Stück über „Leute, die sich un-
sichtbar machen müssen, weil
ihnen sonst die Abschiebung
droht“. Genau das ist Herres
wichtigstes Talent: Er gibt Leu-
ten eine Stimme, denen sonst
kaum jemand Gehör schenkt,
und sammelt diese Stimmen zu
einem Chor.

UUUniversalgelehrter der deutschen Hip-Hop- und Pop-Branche: Max Herreniversalgelehrter der deutschen Hip-Hop- und Pop-Branche: Max Herre

ROBBIE LAWRENCE/ UNIVERSAL MUSIC

Die endgültige


Quadratur


des Kreises


Die endgültige


Quadratur


des Kreises


Auf seinem neuen


Album „Athen“


bringt der Sänger


Max Herre Hip-Hop,


DDR-Popkultur,


Weltmusik,


Beziehungskrisen


und die Weltlage


zusammen. Eine


Begegnung

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