Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1

Meinung


Die Regierungmuss sich endlich


vom Verbrennungsmotor


verabschieden 4


Politik


Berlinfürchtet, nach dem Brexit


deutlich mehr an die EU


zahlen zu müssen 7


Panorama


430 Euro für zwei Teller Pasta:


Wie in Rom immer wieder


Touristen geschröpft werden 8


Feuilleton


Blockbuster-Regisseur


Roland Emmerich über seine


Wut auf Superhelden 9


Sport


Zehn Jahre nach dem Suizid


Robert Enkes diskutiert dessen


Witwe mit Uli Hoeneß 23


Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 14
Traueranzeigen 10


Berlin/Leipzig– Die CDU-Spitze in Berlin
hat sich allen Gedankenspielen über eine
Zusammenarbeit mit der AfD am Dienstag
entschieden entgegengestellt. Als „irre“ be-
zeichnete ihr Generalsekretär Paul Ziemi-
ak Überlegungen einer Gruppe von Christ-
demokraten in Thüringen. Dort haben
17 CDU-Mitglieder in einem Schreiben die
Bereitschaft zu Gesprächen auch mit AfD
und der Linken gefordert, Koalitionen mit
beiden Parteien jedoch als „unmöglich“ be-
zeichnet. Ziemiak verwies auf den Unver-
einbarkeitsbeschluss der Partei. Die CDU
hat in diesem Parteitagsbeschluss Koalitio-
nen und ähnliche Formen der Zusammen-
arbeit mit der Linkspartei und der AfD aus-
geschlossen. Die Meinung der CDU habe
sich nicht geändert, so Ziemiak: „Punkt,
aus. Ende der Durchsage.“

Ziemiak reagierte damit auf die Unruhe,
die durch den Appell von Thüringer CDU-
Mitgliedern ausgelöst worden war, zu de-
nen auch Mandatsträger zählen. Neben Ge-
sprächen mit der AfD fordern die Unter-
zeichner von ihrem Landesvorstand, „die
Angriffe aus den eigenen Reihen“ auf den
CDU-Landtagsfraktionsvize Michael
Heym einzustellen. Heym hatte zuvor be-
reits zum wiederholtem Mal gefordert, die
CDU müsse sich der AfD öffnen. Den neu-
en Aufruf hat neben Kommunalpolitikern
auch der CDU-Landtagsabgeordnete Jörg
Kellner unterschrieben. DemSpiegelsagte
Kellner, er habe das Papier zwar „in dieser
Form noch nicht autorisiert“, dem Grund-
anliegen stimme er allerdings zu.
Nach dem engen Wahlausgang am


  1. Oktober ist in Thüringen weiterhin völ-


lig unklar, in welcher Weise sich neue
Mehrheiten im Parlament bilden werden.
Die amtierende rot-rot-grüne Regierung
unter Ministerpräsident Bodo Ramelow
von der Linkspartei hat keine Mehrheit
mehr, kann aber weiter im Amt bleiben.
Der CDU-Landesvorsitzende Mike Moh-
ring erklärte, er strebe eine Minderheitsre-
gierung mit SPD, Grünen und FDP an. Der
SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee und
die Grünen-Spitzenkandidatin Anja Sie-
gesmund lehnten ein solches Bündnis je-
doch ab. Eine Zusammenarbeit mit der
AfD hatte Mohring ausgeschlossen. „Der
Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU gilt“,
sagte am Dienstag Raymond Walk, Gene-
ralsekretär der Partei in Thüringen.
In der CDU gibt es Sorgen, dass die
Landespartei vor einer Zerreißprobe

stehen könnte. Klar gegen eine Öffnung
für Gespräche mit der AfD wendeten sich
eine ehemalige CDU-Staatssekretärin und
frühere Bürgerrechtler in einem offenen
Brief. Zudem wird CDU-intern darum
gerungen, ob der Landesvorsitzende
Mohring trotz fehlender Mehrheit jenseits
der AfD bei der Ministerpräsidentenwahl
im Landtag antreten soll. Ein Lager der
Thüringer CDU befürwortet das, ein
anderes ist dagegen. Deutlich kritisiert
Werner Henning, CDU-Landrat im kon-
servativen Eichsfeld, das Lavieren und
Taktieren des Thüringer Vorsitzenden in
derWelt: „Ich kann ein klares Profil von
Mike Mohring und eine klare Haltung von
ihm immer weniger erkennen“, sagte Hen-
ning. cornelius pollmer, jens
schneider  Seite 4

Luxemburg– Die Zwangspensionierung
polnischer Richter an ordentlichen Gerich-
ten verstößt nach einem Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofs gegen EU-Recht. Das
entschieden die Luxemburger Richter am
Dienstag. Damit gaben sie einer Klage der
EU-Kommission statt. Die rechtskonser-
vative Regierungspartei PiS hat die Justiz
des Landes seit 2015 mit etlichen Gesetzen
umgebaut und sich Kritikern zufolge unter-
stellt.dpa  Seiten 4 und 7

Berlin– Die Bundesregierung befürchtet
die Kündigung eines weiteren Rüstungs-
kontrollabkommens durch die USA, des so-
genannten Vertrags über den Offenen Him-
mel. Es räumt Vertragsstaaten das Recht
ein, mit Überwachungsmaschinen Militär-
einrichtungen zu überfliegen. Nach Infor-
mationen von SZ, NDR und WDR warnt
Außenminister Maas in einem Schreiben
seinen US-Kollegen Mike Pompeo davor,
das Abkommen aufzulösen.sz  Seite 6

München– Deutsche Achtklässler sind im
Umgang mit digitaler Technik nur mittel-
mäßig versiert. Das zeigt eine Studie der
Forschungsgemeinschaft IEA, die am
Dienstag vorgestellt wurde. Die durch-
schnittlichen „computer- und informati-
onsbezogenen Kompetenzen“ der Schüler
liegen demnach international im Mittel-
feld. Nur 1,9 Prozent der knapp 3700 teil-
nehmenden Schüler erreichten die höchs-
te Kompetenzstufe.sz  Seiten 4 und 6

Für den langen Abschied von einer kur-
zen Ärahaben die Stadtwerke Neuwied ex-
tra eine Webcam installiert. Tag für Tag
dokumentierte sie, wie ein Spezialbagger
den Kühlturm des einstigen Atomkraft-
werks Mülheim-Kärlich abnagte – bis
zum kontrollierten Kollaps Anfang Au-
gust. Im Zeitraffer sehen die Bilder der
Webcam aus, als würde jemand in Win-
deseile einen Wollpulli aufdröseln. „Er ist
weg“, jubelten die Stadtwerke am Ende.
Knapp zwei Dutzend Atomanlagen im
Land sind davon noch weit entfernt. 22 Re-
aktoren befinden sich derzeit im soge-
nannten „Rückbau“, durch den Atomaus-
stieg kommen in den nächsten Jahren
noch sieben große Kernkraftwerke hinzu.
Es läuft das komplexeste und teuerste Ver-
schrottungsprogramm in der Geschichte
der Bundesrepublik. Und buchstäblich ist
das erst der Anfang vom Ende.
Diesen Dienstag kommen Atomauf-
seher aus aller Welt in Berlin zusammen,

sie wollen darüber beraten, wie sich so ein
Abschied sauber bewerkstelligen lässt.
Nicht nur im Betrieb müsse die Sicherheit
der Kraftwerke gewährleistet sein, sagt
Umweltministerin Svenja Schulze (SPD).
„Das gleiche gilt für die Zeit danach, bis
hin zum Abbau.“ Gerade dafür brauche es
den Austausch unter Experten.
Die Atomaussteiger aus Deutschland
können dabei auf einige Erfahrung ver-
weisen. Mit dem Kernkraftwerk Nieder-
aichbach in Niederbayern wurde in den
Neunzigerjahren europaweit zum ersten
Mal ein Reaktor bis zur grünen Wiese zu-
rückgebaut. Auch am Main, wo mit dem
AKW Kahl einst das erste kommerzielle
Atomkraftwerk stand, war 2010 wieder
ein Acker. Selten aber gestaltet sich das

Ende so symbolhaft wie beim Kühlturm
in Mülheim-Kärlich. „Die Hauptarbeit
beim Rückbau vollzieht sich im Inneren
der Anlagen“, heißt es beim Essener RWE-
Konzern, der einst Kahl zur kahlen Wiese
machte und nun in Gundremmingen und
Biblis auf das Verschwinden einstiger Er-
tragsperlen hinarbeitet. Um die 15 Jahre
dauert es, die Atomanlagen von der Strah-
lung zu befreien, erst danach können sie
abgerissen werden. „Unser Ziel ist es, Mit-
te der 30er-Jahre mit dem Thema durch
zu sein“, sagt ein RWE-Sprecher.
Betraut sind damit die gleichen Leute,
die einst mit dem Betrieb der Anlagen
Geld verdienten. Und die größten Skepti-
ker sind heute diejenigen, die einst gegen
die Atomkraft kämpften. „Gegen den Ab-

riss haben wir ja nichts“, sagt Werner Neu-
mann vom Umweltverband BUND, der in
Hessen die Genehmigung für den Biblis-
Rückbau beklagt. Nur gelange zu leicht
Müll aus den Atomanlagen auf normale
Deponien. Der ist zwar kaum noch konta-
miniert. „Aber du kriegst irgendwann
nicht mehr raus, woher dein Krebs
kommt“, sagt Neumann. Die Ängste der
deutschen Atomära, sie leben fort.
Absehbar wird der Müll zum Problem
des Atomausstiegs. Für die Brennelemen-
te ist die Suche nach einem Endlager gera-
de erst angelaufen, die Zeitpläne gelten
schon jetzt als unrealistisch. Und der ra-
dioaktive Schutt, der fein säuberlich in
Tonnen verpackt und bei den Kraftwer-
ken gelagert wird, soll ins Endlager
Schacht Konrad bei Salzgitter. Eigentlich
soll es seit Jahren schon fertig sein. Doch
ein ums andere Mal wurde der Termin ver-
schoben, zuletzt auf 2027. Allerfrühes-
tens. michael bauchmüller

von wolfgang janisch

Karlsruhe– DrastischeKürzungen von
Hartz-IV-Leistungen verstoßen gegen die
Menschenwürde und sind ab sofort nicht
mehr zulässig. Das hat das Bundesverfas-
sungsgericht entschieden und damit das
im Jahr 2006 verschärfte Sanktionen-
system im Arbeitslosengeld II teilweise für
verfassungswidrig erklärt. Kürzungen um
60 oder gar 100 Prozent, wie sie bisher et-
wa bei der wiederholten Ablehnung von
Jobangeboten erlaubt waren, sind fortan
überhaupt nicht mehr möglich.
Zwar bleibt den Jobcentern die Möglich-
keit erhalten, bei mangelnder Mitwirkung
den Erwerbssuchenden 30 Prozent ihrer
Leistungen zu streichen. Allerdings darf
der Zahlungsstopp – anders als bisher –
nicht mehr für eine feste Zeit von drei Mo-
naten gelten, sondern muss beendet wer-

den, sobald der Betroffene wieder koope-
riert. Außerdem müssen bessere Möglich-
keiten geschaffen werden, in Härtefällen
auf Kürzungen zu verzichten – etwa bei
Krankheit oder familiären Problemen.
Nach den Worten von Stephan Har-
barth, Vizepräsident des Gerichts, stellt ei-
ne solche Kürzung eine außerordentliche
Belastung für die betroffenen Menschen
dar, weil ihnen ein Teil ihres Existenzmini-
mums fehle. Deshalb sei der Spielraum des
Gesetzgebers hier beschränkt. Das Gericht
moniert, dass der Gesetzgeber sich trotz
der langen Geltung des Gesetzes immer
noch auf Vermutungen von angeblich
positiven Wirkungen der Sanktionen be-
ruft, anstatt erforschen zu lassen, ob sich
damit wirklich Arbeitslosigkeit überwin-
den lässt. Eine umfassende wissenschaftli-
che Untersuchung liege nicht vor, sagte
Harbarth bei der Urteilsverkündung. „Je

länger die entsprechenden Regelungen in
Kraft sind und es also möglich ist, zu ihren
Wirkungen fundierte Einschätzungen zu
erlangen, umso weniger genügt es, sich
allein auf plausible Annahmen zu stützen,
ob die Sanktionen ihre Ziele auch tatsäch-
lich erreichen.“
Das Prinzip „Fördern und Fordern“, un-
ter dem Hartz IV einst angepriesen worden
war, lässt Karlsruhe gleichwohl unangetas-
tet. Das Grundgesetz baue Hilfsbedürfti-
gen eine Brücke in eine bessere Zukunft.
„Der Gesetzgeber darf verlangen, dass
Menschen, die staatliche Mittel in
Anspruch nehmen, auch aktiv daran mit-

wirken, diese Brücken zu beschreiten“,
sagte Harbarth.
Geklagt hatte ein Arbeitsloser, der zu-
erst ein Jobangebot als Lagerarbeiter und
dann eine Erprobungsstelle als Verkäufer
ausgeschlagen hatte – weshalb seine Bezü-
ge zuerst um 30, dann um 60 Prozent ge-
mindert wurden. Das Sozialgericht Gotha
hatte das Verfahren dem Verfassungsge-
richt vorgelegt, weil es bezweifelte, dass
eine Unterschreitung des Existenzmini-
mums zulässig sein könne. Derzeit beträgt
der Regelsatz 424 Euro monatlich.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
sagte, das Urteil gebe den klaren Auftrag,
den Sozialstaat weiterzuentwickeln. Er
gehe davon aus, dass sich aus dem Urteil
auch Konsequenzen für die – besonders
scharfen – Sanktionen für unter 25-Jähri-
ge ergäben, die nicht Gegenstand des
Verfahrens waren.  Seiten 2 und 4

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Berlin fürchtet


um „Offenen Himmel“


München– In Deutschland ist kein Ende
des Abschwungs in Sicht. Die sogenannten
Wirtschaftsweisen glauben nicht, dass
sich die Konjunktur 2020 erholt. Die deut-
sche Wirtschaft wachse nur um 0,9 Pro-
zent, so der Sachverständigenrat im Gut-
achten, das er an diesem Mittwoch Kanzle-
rin Angela Merkel (CDU) übergibt und das
derSüddeutschen Zeitungvorab vorliegt.
Bereinigt um die vielen Arbeitstage im
nächsten Jahr würden es sogar nur 0,5 Pro-
zent. Die Ökonomen warnen vor erhebli-
chen internationalen Risiken, insbesonde-
re einer weiteren Eskalation der Handels-
konflikte.
Völlig neu ist, dass die fünf Sachverstän-
digen offen streiten, wie die Politik reagie-
ren soll. In den vergangenen 15 Jahren gab
es stets nur einen Abweichler gegen die
eher marktliberale Mehrheit. Diesmal wei-
chen mit Isabel Schnabel und Achim
Truger gleich zwei Ökonomen mehrfach
ab. Unter anderem fordern sie die Bundes-
regierung auf, ein Konjunkturpaket vor-
zubereiten, was die Mehrheit der Weisen
ablehnt. Schnabel und Truger üben auch
Kritik an der in der Verfassung ver-
ankerten Schuldenbremse. Diese verletze
die goldene Regel für Investitionen. Kriti-
ker warnen seit Langem, dass Deutschland
zu wenig investiert und die Infrastruktur
der Schulen, Verkehrswege und Netze
verfällt.aha,gam  Wirtschaft

Im Norden und Nordwesten geht der Re-
gen zurück. Inden Mittelgebirgen und im
Süden hingegen nimmt die Zahl der Schau-
er zu. Am Erzgebirge und in Alpennähe
scheint zwischendurch die Sonne. Fünf bis
zwölf Grad.  Seite 13 und Bayern

Nach dem Ende ist vor dem Ende


Atomkraftwerke verschwinden, doch neue Probleme kommen


Hören Sie zu diesem Thema
auch denPodcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Die Menschenwürde


ist unkürzbar


Jobcenter dürfen Hartz-IV-Empfängern die Leistungen um höchstens 30 Prozent


beschneiden, urteilt das Verfassungsgericht. Härtere Sanktionen sind nicht zumutbar


Xetra Schluss
13149 Punkte

N.Y. Schluss
27493 Punkte

22 Uhr
1,1072 US-$

CDU streitet über Umgang mit der AfD


Funktionäre in Thüringen fordern Gespräche mit allen Parteien. Die Unionsführung in Berlin nennt den Vorschlag „irre“


Polens Justizreform


verstößt gegen EU-Recht


Schüler haben Defizite


bei Computerkenntnissen


Konjunktur bleibt


auch 2020 schwach


Die Wirtschaftsweisen erwarten
nur ein Wachstum von 0,9 Prozent

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Milliardenloch: Eine Ukrainerin legt sich mit Oligarchen an Wirtschaft


(SZ) Die deutsche Wildtier-Stiftung wählt
um die Herbstzeit herum regelmäßig das
Tier des kommenden Jahres und emp-
fiehlt sich damit als ungleich sympathi-
schere Jurorin als zum Beispiel der Verein
Deutsche Sprache, der jedes Jahr den
Sprachpanscher des Jahres wählt. Sprach-
panscher ist in der Wahrnehmung der deut-
schen Vereinsbrüder und -schwestern zu-
meist jemand, der Anglizismen in seinen
Sprachgebrauch aufnimmt und damit ir-
gendwie zur Unreinheit der deutschen
Sprache beitragen soll. Das ist nichts wei-
ter als ödes Genörgel von beleidigten Ober-
lehrern und damit ungeeignet für Rück-
schlüsse auf die Befindlichkeit unseres
Landes oder gar unserer Welt. Das Tier des
Jahres dagegen könnte uns alljährlich als
Wappentier taugen, im laufenden Jahr
2019 stehen wir noch im Zeichen des Rehs,
dessen scheue Gegenwart und dunkeläugi-
ge Wachsamkeit immerhin noch auf freier
Wildbahn bewundert werden können. Dun-
kelheit und Regsamkeit sind die Säulen,
auf denen die Existenz des frisch gekürten
Tiers des Jahres 2020 ruht, wir sprechen
vom Maulwurf.
Wie gesagt: Glück und Freude über die
Wahl, auch wenn jetzt vermutlich wieder
die Bedenkenträger auf die Erdoberfläche
treten werden und dem Maulwurf Eskapis-
mus oder geschichtliche Blindheit vorwer-
fen. Lieb und gut gemeint ist sicher auch
die Begründung, welche der Geschäftsfüh-
rer der Wildtiere, Hilmar Freiherr von
Münchhausen, vorträgt. „Wir sollten den
Maulwurf“, sagt Münchhausen, „als uner-
müdlichen Schädlingsvertilger und Mäuse-
vertreiber viel mehr wertschätzen.“ Das
mag ja alles richtig sein, aber die Herzens-
freunde des Maulwurfes neigen eher dazu,
die eifrige Nutzwertbeschwörung abzumo-
derieren und eher die friedliche Seite des
Maulwurfs zu feiern.
Der Maulwurf hat sich nämlich von den
unerfreulichen Ereignissen der Welt abge-
wendet und verbringt einen Gutteil seiner
Zeit dort, wo die meisten Menschen erst
nach ihrem Ableben hinkommen, unter
der Erde nämlich. Er sieht schlecht und
macht aus dieser Not insofern eine Tu-
gend, als er seiner eigenen Sehschwäche
Monumente der Sichtbarkeit entgegen-
stellt, die Maulwurfshügel, deren kühne
Aufwerfungen bei Landwirten und Gärt-
nern viel Sympathie erfahren. Unter der Er-
de ist er damit beschäftigt, Notausgänge
zu entwerfen und, wo nötig, anzulegen;
der Maulwurf ist der Architekt eines groß-
zügigen Warn- und Fluchtsystems, und er
reüssiert zugleich als ein unbestechlicher
Sammler von Dingen, die unter den Tep-
pich respektive die Erde gekehrt werden
sollen. Im richtigen Moment wirft er den
Plastikbecher, die Sprite-Dose wieder
nach oben, wo sie als stiller Vorwurf an un-
ser ökologisches Gewissen liegen bleibt.
„Unsere Sünden sind Maulwürfe“, schrieb
Günter Eich. In diesem Sinne: Herzlichen
Glückwunsch, Maulwurf, zur Wahl!


DAS WETTER



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