Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1

S


eit der Gründung der „Annales“
durch Marc Bloch und Lucien Febvre
vor fast einem Jahrhundert bedeutet
für die meisten Historiker die „histoire to-
tale“ ein Ideal. Dieses Ideal zu erreichen ist
allerdings alles andere als selbstverständ-
lich. Denn eine Geschichtsforschung und
Geschichtsschreibung, welche die Vergan-
genheit in all ihren Dimensionen unter-
sucht und dabei den drei grundlegenden
Herausforderungen einer „histoire totale“
gerecht wird, der Historisierung, also der
genauen Rücksicht auf die jeweilige Zeit,
der Kontextualisierung, also der präzisen
Analyse der Rahmenbedingungen, und
schließlich der Rücksicht auf die Komplexi-
tät der Realität, ist ziemlich selten. Die „Jü-
dische Geschichte in Bayern“ von Rolf
Kießling stellt eine solche Ausnahme dar.
Das sieht man zuerst daran, dass sie tat-
sächlich die jüdische Geschichte in Bayern
von ihren Anfängen – also de facto ab dem
Ende des 11. Jahrhundert – bis hin zur heu-
tigen Zeit darstellt und in ihrer Binnenglie-
derung den drei großen Epochen dieser Ge-
schichte (dem Mittelalter, der Frühen Neu-
zeit und der Zeit vom Beginn des 19. Jahr-
hunderts bis heute) ähnliche Umfänge ein-
räumt. Schon darin zeigt sich das Grundan-
liegen des Buches. Es handelt sich hier um
eine offene jüdische Geschichte, die davon
ausgeht, dass die Schoah, auch wenn sie
„das Judentum und seine Kultur (in Bay-
ern) ausgelöscht hat“, dennoch nicht den
Schlüssel für die jüdische Geschichte in
Bayern darstellt, und dass diese Geschich-
te seitdem einen neuen Beginn kennt. In
den 1950er-Jahren zählten die jüdischen
Gemeinden in Bayern weniger als 3 000
Mitglieder, heute sind es wieder etwas
mehr als 18 000 Mitglieder.


Ebenso bedeutsam ist dann die räumli-
che Ausdehnung der in diesem Buch darge-
stellten Geschichte. Es geht hier in der Tat
nicht um eine „bayerisch-jüdische Ge-
schichte“, sondern um eine Geschichte der
Juden, die sich seit dem Mittelalter in den
Herrschaften und Regionen, Städten und
Dörfern niedergelassen haben und sich
auf dem heutigen Territorium des dank Na-
poleon im Jahre 1806 gewaltig vergrößer-
ten Staates Bayern befinden.
Diese Präzisierung ist umso wichtiger,
als seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis
zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Her-
zogtum und dann im Kurfürstentum Bay-
ern keine Juden mehr leben durften – mit
Ausnahme der wenigen Hofjuden in Mün-
chen und einiger Niederlassungen in der
Oberpfalz. Während um 1800 im Kurfürs-
tentum Bayern maximal tausend Juden ge-
duldet waren, zählte man 1822 bei der ers-
ten zuverlässigen Volkszählung 53 402 Ju-
den im Königreich Bayern, was deutlich
macht, dass sich in der langen Dauer die Jü-
dische Geschichte in Bayern hauptsächlich
in Franken und Schwaben abgespielt hat.
Rolf Kießling ist ein außergewöhnlich
erfahrener und belesener Historiker. Seit
mehr als zwanzig Jahren erforscht er die jü-
dische Geschichte in Bayern, die Liste der
von ihm benutzen Quellen und Schriften
zählt mehr als fünfzig Seiten. Gleichwohl
weiß er, dass es unmöglich ist, die absolute
und „totale“ Wahrheit über diese Vergan-
genheit zu sagen. Er hat sich die größte Mü-
he gegeben, die jüdische Geschichte „wie
(sie) eigentlich gewesen“ zu rekonstruie-
ren, zugleich aber ist ihm klar, das er von
den Quellen und Forschungen, die er ausge-
wertet hat, wie auch von den Fragestellun-
gen und Methoden, die er angewendet hat,
abhängig ist, und dass die Ergebnisse sei-
ner Geschichte deswegen relativ bleiben.
Darüber hinaus hat er eine Geschichte
geschrieben, die so gerecht als möglich ist,


mithin eine Geschichte, die sich zum Ziel
setzt, was Marc Bloch lange schon empfoh-
len hatte: die Vergangenheit besser zu ver-
stehen und zu erklären, anstatt sie norma-
tiv zu beurteilen bzw. zu verurteilen. Des-
wegen untersucht Kießling als Spezialist
der Regionalgeschichte die Konkretheit
der jüdischen Niederlassungen wie auch
die Rahmenbedingungen ihres alltägli-
chen Lebens mit einer besonderen Gründ-
lichkeit. Daher die vielen Karten und Tabel-
len des Buchs (es sind insgesamt 26), daher
auch die Differenzierung zwischen den
städtischen und den ländlichen Gemein-
den (etwa im Kapitel 19 über „Stadtjuden“
und „Dorfjuden“ im 18. Jahrhundert), da-
her schließlich die minutiöse Analyse „von
unten“ der Lebensformen in den jüdischen
Gemeinden vom Mittelalter bis heute.
Sie reicht von ihrer Demografie über ih-
re wirtschaftliche Tätigkeit und soziale
Struktur (etwa im Kapitel über die Hofju-
den, die Landjuden und die Betteljuden,
die Teilhabe an der Wirtschaft und die Dif-
ferenzierung der jüdischen Gesellschaft
im 18. Jahrhundert) bis hin zur ihrer Kultur
und Religiosität (etwa im besonders inter-
essanten Kapitel über das Spannungsfeld

von volkstümlicher Orthodoxie und „Has-
kala“, jüdischer Aufklärung im 18. Jahrhun-
dert).
Der Geschichte der Juden in Bayern hat
es nicht an Pogromen und Verfolgungen ge-
fehlt, zuerst im Mittelalter mit den Pogro-
men der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert ge-
gen die Juden von Regensburg und Würz-
burg, dann mit den Pestpogromen von

1348 bis 1350 und schließlich mit den Aus-
weisungen des 15. und beginnenden 16.
Jahrhunderts. Ihnen folgte nach einer rela-
tiv friedlichen Frühen Neuzeit ab der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts der neue
Antisemitismus im Kaiserreich und vor al-
lem die Ausgrenzung und Verfolgung der
Juden im NS-System.
Über weite Strecken ist allerdings die Ge-
schichte der Juden in Bayern überwiegend
friedlich und oft auch kreativ und erfolg-
reich verlaufen. Zunächst „innerjüdisch“,
unter anderem durch die Verbindungen

zwischen den süddeutschen jüdischen Ge-
meinden untereinander wie auch durch ih-
re Vernetzung mit anderen Gemeinden im
ganzen Reich, in Böhmen, Polen, Italien
und bis hin nach Jerusalem.
Darüber hinaus hingen die Lebensfähig-
keit und die Lebendigkeit dieser Gemein-
den bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts
in entscheidende Weise von der Ausübung
des „Judenschutzes“ ab, den die verschie-
denen Herrschaftsträger vom Kaiser über
geistliche und weltliche Territorialherren
bis zu den Reichsrittern ihnen verliehen
hatten. Eine Schlüsselrolle spielte in die-
sem Zusammenhang der alltägliche Um-
gang der jeweiligen jüdischen Gemein-
schaften mit ihren Schutzherren, mit den
ihnen gewährten Privilegien, wie auch mit
den christlichen Gemeinden, in derer Mit-
te sie lebten. Der jüdische Alltag in Süd-
deutschland war immer auch ein Alltag
des Zusammenlebens zwischen Juden und
Christen. Ebenso wichtig war schließlich
die wechselseitige und sich im Laufe der
Zeit immer wieder wandelnde wechselseiti-
ge Wahrnehmung von Juden und Christen,
also die subjektive und emotionale Dimen-
sion der Geschichte der Juden in Bayern.

Lebendig, klar und konkret geschrie-
ben, durch viele Abbildungen ergänzt, er-
schließt Kießlings „Jüdische Geschichte in
Bayern“ nicht nur eine kaum bekannte Di-
mension der Vergangenheit. Sie ist zu-
dem dazu geeignet, ein breites Publikum
für ihren Gegenstand zu interessieren.
Durch seine Lebendigkeit und Konkret-
heit, seine Vielseitigkeit und Menschlich-
keit hat mich dieses Buch an das schönste
jüdische Museum erinnert, das ich kenne,
an das „POLIN“, das Museum der Geschich-
te der polnischen Juden in Warschau. Ich
wünsche ihm ein breites Echo, nicht nur in
Bayern, sondern in ganz Deutschland und
im Ausland, und würde den Verantwortli-
chen des Jüdischen Museums in Berlin
nachdrücklich empfehlen, sich bei der Neu-
gestaltung seiner Dauerausstellung auf
dieses vorbildliche Buch zu beziehen.

Rolf Kießling:Jüdische Geschichte in Bayern. Von
den Anfängen bis zur Gegenwart. De Gruyter Ver-
lag, Berlinund Boston 2019. 662 Seiten, 79,95 Euro.
Etienne François ist emeritierter Professor für Ge-
schichte an der Universität Paris-I und an der Frei-
en Universität Berlin.

Der Tegernsee ist, kulinarisch gesehen,
zu einerder spannendsten Regionen
Deutschlands geworden. Von Sternekö-
chen wie Christian Jürgens vom Seeho-
tel Überfahrt und Thomas Kellermann
von den Egerner Höfen bis zu Berggast-
höfen wie der Neureuthhütte und Erzeu-
gern wie den Liedschreibers mit ihren
Edelbränden ist sie extrem vielseitig.
Von der sehr gut vertretenen Haute Cui-
sine über die Schampustreffs der Schi-
ckeria bis zur bodenständigen Wirts-
hausküche findet man in den fünf Ge-
meinden rund um den See alles – man
muss nur wissen, wo. 38 Adressen hat
Franz Kotteder, Gastro-Reporter im Lo-
kalteil der SZ, besucht und ausführlich
beschrieben, der Reportagefotograf En-
no Kapitza hat ihn begleitet. Ergänzt wer-
den die Beschreibungen durch Rezepte
aus den jeweiligen Lokalen. Sie bieten
manche Überraschungen: Die halbe
Schweinshaxe vom Herzoglichen Bräu-
stüberl möchte man sich ja noch erwar-
ten, aber den marinierten Lachs mit Zi-
tronen-Ingwer-Sauce und Avocado-Ap-
fel-Creme? Den gibt’s in der Mizu Sushi-
Bar im Hotel Bachmair Weissach. SZ

Franz Kotteder:Der Tegernsee. Eine kulina-
rische Reise. Callwey Verlag, München 2019.
192 Seiten,39,95 Euro.

Wie trauert man um einen Menschen, der
nicht mehr lebt, aber auch nicht richtig ge-
storben ist? Für Anhänger der Kryonik, der
Lehre von der Konservierung des Lebens
nach dem Tod, dürfte das eine durchaus
konkrete Frage sein. Etwa 250 Personen
sollen bisher weltweit ihre Körper oder Tei-
le davon einfrieren haben lassen, um sie in
einer fernen Zukunft wiederzubeleben.
Hendrik Otremba, dessen zweiter Ro-
man in diesem kryonischen Milieu angesie-
delt ist, hat auf die Frage nach der Trauer ei-
ne bedrückende Antwort. Der Schmerz der
Hinterbliebenen wird in „Kachelbads Er-
be“ genauso konserviert wie die Körper ih-
rer Lieben. Wie will man auch den Verlust
eines Menschen verarbeiten, wenn doch
die Möglichkeit besteht, dass er eines Ta-
ges zurückkehren könnte?
„Kachelbads Erbe“, das zeigt schon die-
ses Detail, interessiert sich weniger für die
Zukunft als für die Gegenwart, aus der her-
aus die Zukunft erdacht wird. Wobei die Ge-
genwart des Romans wiederum die Vergan-
genheit ist, denn die größten Teile von „Ka-
chelbads Erbe“ spielen in den Achtzigerjah-
ren. In einer unscheinbaren Lagerhalle in
einem Industriegebiet von Los Angeles be-
wahrt das Unternehmen „Exit U.S.“ in riesi-
gen Stickstofftanks Menschen auf, die ein-
gefroren auf ein zweites Leben warten. Ne-
ben dem etwas fanatischen Direktor Lee
Won-Hong besteht das Unternehmen, das
in einem Graubereich der Legalität ope-
riert, vornehmlich aus dem titelgebenden
H. G. Kachelbad.
Ein deutscher Emigrant, über den man
nicht viel mehr erfährt, als dass er introver-
tiert, menschenfreundlich und pflichtbe-
wusst ist. Um die letzten fünf von „Exit
U.S.“ konservierten Menschen – denn im
Jahr 1987 kommt das Einfriergeschäft zu
einem plötzlichen Halt – kreist nun „Ka-
chelbads Erbe“.


Hendrik Otremba, geboren 1984 in Reck-
linghausen, der auch als bildender Künst-
ler und Sänger der Band „Messer“ tätig ist,
hat seinen Roman als eine Sammlung hete-
rogener Perspektiven, Formen und Zeit-
ebenen angelegt. Da wären etwa die Erinne-
rungen der ehemaligen „U.S.-Exit“-Mitar-
beiterin Rosary, die von Kachelbad proto-
kollierten Lebensgeschichten der einiger-
maßen wundersamen „kalten Mieter“ aus
Tank C87, Erzählpassagen aus der Sicht Ka-
chelbads oder das Tagebuch von Kachel-
bads Geliebtem.

Die Achtziger- gehen in die Fünfziger-
jahre über, springen in eine postapokalyp-
tische Zukunft und wieder zurück. Auch
das Medium Text sprengt Otremba, der Ro-
man ist durchzogen von unscharfen
Schwarz-Weiß-Fotografien. Diese brüchi-
ge Form will sich ihres Autors augenschein-
lich entledigen. Immer wieder wird über
die Parallelen zwischen der Kryonik und
dem Schreiben reflektiert. Auch der Schrei-
bende, so der Gedanke, konserviert durch
seinen Text schließlich etwas und macht
sich selbst damit überflüssig. Auf Roland
Barthes und seinen „Tod des Autors“ gibt
es einige Anspielungen.
Gleichzeitig entsteht durch die fragmen-
tarische Form der Eindruck des Dokumen-

tarischen, obwohl es in „Kachelbads Erbe“
von fantastischen Elementen nur so wim-
melt. Es gibt Menschen, die nach Belieben
verschwinden können und andere, die un-
gewollt als Unsichtbare leben müssen. Es
gibt Gesteinsmassen mit wundersamen
Zauberkräften und rätselhafte Wesen aus
anderen Sphären.
Doch Otremba flicht das Übernatürliche
so beiläufig in die Wirklichkeit ein, dass es
kaum auffällt. Die Fähigkeit zu verschwin-
den etwa beruht bei seinen Figuren auf ei-
ner Art Mimikry-Methode, die man sich, ei-
ne gewisse Begabung vorausgesetzt, ziem-
lich einfach antrainieren kann. Ganz ähn-
lich scheint auch die Sprache dieses Ro-
mans vorzugehen, die um eine lakonische
Sachlichkeit bemüht ist. Der Effekt, der so
entsteht, erinnert an den Ansatz der Sci-
ence-Fiction-Serie „Black Mirror“. Das
Fantastische ist dort immer nur einen win-
zigen Schritt von der alltäglichen Realität
entfernt und gerade diese Nähe macht es
so beunruhigend.
Die formalen Ambitionen haben freilich
auch ihre Nebenwirkungen. So kunstvoll
Otremba die Versatzstücke seines Romans
auch arrangiert, so virtuos er die Perspekti-
ven wechselt, so spröde liest sich „Kachel-
bads Erbe“ doch streckenweise. Es dauert
lange, bis die Figuren so fassbar sind, dass
man sich wirklich für sie interessiert,
schließlich werden ihre Innenleben größ-
tenteils ausgespart. Und die Informations-
bruchstücke der verschiedenen Hand-
lungsstränge sind dermaßen minutiös
über den Text verteilt, dass sich das Lesen
manchmal anfühlt, als versuche man ein
Puzzle zu legen, das aus zigtausend Teilen
mit exakt derselben Farbschattierung be-
steht. Es mag aber wiederum unfair sein,
einem Roman über den Tod einen Mangel
an Lebendigkeit vorzuwerfen.
luise checchin

Eine Frau aus Buenos Aires, namenlos und
jenseits desStudentenalters, setzt sich ab
von zu Hause und landet in Heidelberg, wo
ihr Vater als Philosophieprofessor die Zeit
der argentinischen Diktatur überstand, in
der Andersdenkende verfolgt, eingesperrt
und oft von Staats wegen per Flugzeug ins
Meer geworfen wurden. Die Empfindlich-
keit von Angehörigen, wenn jemand ohne
Nachricht verschwindet, dürfte entspre-
chend hoch sein.
Maliandis Erzählerin hat keine Notiz
hinterlassen, besitzt offenbar kein Mobil-
telefon und ruft nach einiger Zeit von
einem Münzfernsprecher ihren bisherigen
Lebensgefährten an, der aber – Wunder
der Diskretion unserer modernen Technik


  • nicht erkennt, von wo sie anruft. Sie rufe
    an von Mar del Plata, sagt sie ihm, einem
    beliebten Badeort am Atlantik. Dass sie ihr
    irgendwie verfahrenes Leben hinter sich
    lassen könnte, ist Illusion. Der Tod des ge-
    liebten Hundes trifft sie, und ihr Ex nutzt
    das nicht einmal, um bei ihr etwas zu er-
    reichen, sondern einfach so, um mit dem
    Erzeugen eines diffusen Schuldgefühls
    seinerseits Druck zu erzeugen.
    Sie hat sich in einem Studentenwohn-
    heim einquartiert, wo sie einer etwas kli-
    scheehaften Auswahl zwischenmenschli-
    cher Begegnungsmöglichkeiten gegen-
    übersteht: Ein Student vom Balkan, der
    mit jeder Frau Sex haben will, eine ma-
    nisch depressive Japanerin, ein argentini-
    scher Student, der hart geschuftet hat für
    sein Stipendium und sich verantwortlich
    fühlt für Maliandis Erzählerin und ihr auf
    den Kopf zusagt, sie sei schwanger. Was
    sich als zutreffend herausstellt.
    Bevor die Situation zu kritisch wird –
    unerwartet schwanger, ohne Geld und
    wärmere Kleidung im kühler werdenden
    Deutschland und im Begriff, aus ihrer
    Studentenunterkunft als unberechtigte


Nichtstudentin hinauszufliegen – ge-
schieht das nächste unwahrscheinliche
Wunder. Per Zufall gerät sie in die Philo-
sophievorlesung eines Studenten ihres Va-
ters, ebenfalls Argentinier, dessen Lebens-
gefährte seinerzeit spurlos verschwand
und der mit Maliandis Erzählerin über die
Jahre Kontakt gehalten hatte. Dabei hatte
sie ihn offenkundig bisher nicht auf dem
Schirm und schon gar nicht nach ihm su-
chen wollen. Aber nun beginnt sie ein Lie-
besverhältnis mit dem Lebensgefährten
ihres neu entdeckten alten Freundes.

Die Frage, ob Depressive einen An-
spruch darauf haben, rücksichtslos sein zu
dürfen, hätte Maliandi aufschlussreich in-
szenieren können. Stattdessen schickt sie
den alten argentinischen Freund mit
Krebsverdacht in ein Krankenhaus nach
Frankfurt und lässt die Japanerin Suizid
begehen. Das bringt zwei neue Akteure ins
Spiel: Die Schwester des anderen
Argentiniers, Marta Paula, bekommt die
blauen Schuhe der Japanerin nach Argenti-
nien geschickt, wo aber eine Seherin, mit
der sie Umgang pflegt, sofort das Böse an
den Schuhen und dahinter die böse Mutter
der Japanerin entdeckt.
Die kommt als zweiter und ungleich in-
teressanterer Akteur ins Spiel: Sie schert

sich herzlich wenig um den Tod ihrer
Tochter. Vielmehr beginnt sie, Maliandis
Erzählerin zu usurpieren, wie sie vorher
offenbar schon ihre Tochter besetzt hatte.
Die Mutter als parasitische Ausbeuterin
ihrer Tochter wäre wohl ein spannenderes
Sujet für einen Roman als eine Depression
in Heidelberg. Die Mutter der Toten geht
schon bald elegant dinieren und shoppen,
genießt das Leben und die Kraft ihrer
Kreditkarte und drängt sich mit Beharr-
lichkeit der Erzählerin auf, während Marta
Paula weitere Warnungen vor der japani-
schen Mutter übermittelt.
Nachdem Krebs und Suizid schon ver-
geben sind, lässt Maliandi es an einem
frühen Winterabend ganz märchenhaft
werden, aber leider nicht magisch. Ihre
Erzählerin folgt der japanischen Mutter
heimlich, aber die strebt wie ein boshafter
Kobold in die Tiefe des verschneiten Wal-
des, die Verfolgerin bleibt zurück, hat
Kontakt mit irgendwie undefinierten ku-
scheligen Tieren, die aus dem Dunkel des
Waldes zu ihr kommen, während sie end-
gültig, mit dem Blick ins nunmehr funkeln-
de Firmament, verstummt.
Wenn die Geschichte dieses Buches –
vielleicht ohne das Ende, doch wer weiß –
wahr ist, war es sicherlich interessant, sie
sich erzählen zu lassen. Zu lesen wirkt es
wie bundesdeutsche Selbstfindungslitera-
tur der Siebziger- oder Achtzigerjahre. Der
Verlag hat seit seiner Gründung mit einem
erlesenen Programm geglänzt, mit zu Un-
recht vergessenen und unbekannten Stim-
men, die sich als groß erwiesen haben.
Hier aber hat man sich etwas aufschwat-
zen lassen. Das gehört zum Geschäft. Aber
womöglich verkauft sich so eine Geschich-
te mit Kuscheltieren am verschneiten
Waldrand wie warme Semmeln? Dann
sollte man dem Verlag gratulieren.
rudolf von bitter

Der Alltag und die Katastrophen


Lebendig erzähltvom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis in die Moderne:


Rolf Kießlings „Jüdische Geschichte in Bayern“ ist ein großer Wurf.Von Etienne François


Franz Kotteder über


die Tegernsee-Küche


Hendrik Otremba:
KachelbadsErbe. Roman.
Verlag Hoffmann und
Campe, Hamburg 2019.
432 Seiten, 22 Euro.

Im Stickstofftank der Ewigkeit


Nachdem Tod des Autors: Hendrik Otrembas Roman „Kachelbads Erbe“


Die Akademie für den von der Stiftung
Buchkultur und Leseförderung des
Börsenvereins des Deutschen Buchhan-
dels neu ausgelobten Sachbuchpreis
hat die Jury bestimmt, die am 16. Juni
2020 den Preis zum ersten Mal verge-
ben wird. Sie besteht aus dem Gießener
Mathematiker Albrecht Beutelspacher,
Susanne Bayer (Der Spiegel), Klaus Ko-
walke von der Chemnitzer Buchhand-
lung „Lessing und Kompanie“, Tania
Martini (taz), Helmut Mayer (FAZ), Emi-
lia Roig, Gründerin des Berliner Center
for Intersectional Justice sowie Kia
Vahland (SZ). sz

Die Wundertüte von Heidelberg


Unheil en gros: Carla Maliandis Roman „Das deutsche Zimmer“


Der von der Salzburger Wirtschaftskam-
mer alle zwei Jahre vergebene Literatur-
preis geht 2019 an Arno Klaibel, den
Verleger des Otto Müller Verlags. Frühe-
re Preisträgerinnen waren die Schrift-
stellerinnen Teresa Präauer und Ka-
thrin Röggla. sz

Carla Maliandi:
Das deutscheZimmer. Ro-
man. Aus dem Spanischen
von Peter Kultzen. Beren-
berg Verlag, Berlin 2019.
168 Seiten, 24 Euro.

Mit dem Österreichischen Buchpreis
2019 ist der Schriftsteller Norbert
Gstrein für seinen Roman „Als ich jung
war“ (Hanser) ausgezeichnet worden. Er
sei ein Meister des „zwielichtigen“ Er-
zählens, schrieb die Jury zur Begrün-
dung: „Am Ende hält der Leser viele
Fäden in der Hand. Ob einer davon der
rote ist – wer weiß?“ Der Hauptpreis ist
mit 20 000 Euro dotiert. Den dazugehö-
renden, mit 10 000 Euro dotierten De-
bütpreis bekam Angela Lehner für „Va-
ter unser“ (Hanser Berlin). Der Roman
sei, so die Jury, „unsentimental, frech
und direkt erzählt“ und unter anderem
„ein kritischer Befund eines katholisch
geprägten Österreich“. sz

An Pogromen und Verfolgungen


hat es nicht gefehlt – aber auch


nicht an friedlichen Phasen


Eine Schlüsselrolle spielte der
„Judenschutz“ der Herrscher vom
Kaiser bis zu den Reichsrittern

12 HF3 (^) LITERATUR Mittwoch,6. November 2019, Nr. 256 DEFGH
Sachbuch-Jury steht fest
Arno Klaibelgeehrt
Inmitten der Stadtlandschaft: Die 1874 errichtete Synagoge der Reformgemeinde in Nürnberg. Abgetragen wurde sie im August 1938. FOTO: GETTY IMAGES
VON SZ-AUTOREN
Gstrein und Lehner
KURZ GEMELDET

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