Süddeutsche Zeitung - 06.11.2019

(Tina Sui) #1

Kiew– Seit die Privat Bank verstaatlicht
wurde, schreibt sie steigende Gewinne. Al-
lein bis Ende August verdiente sie dieses
Jahr umgerechnet eine Milliarde Dollar, so
Bankchef Petr Krumphanzl. Das Geld
fließt in den Staatshaushalt der Ukraine.
Krumphanzl verweist stolz auf gestiegene
Kundenzahlen, modernes Online-Banking
und darauf, dass Kunden in einigen Ge-
schäften schon per Gesichtserkennung be-
zahlen können. Doch ein gewaltiges Pro-
blem bleibt: Milliarden sollen verschwun-
den sein, als die Privat Bank noch den Olig-
archen Ihor Kolomoiskij und Gennadij Bo-
goljubow gehörte. Seit drei Jahren versu-
chen die Zentralbank NBU und die Privat
Bank, das Geld zurückzubekommen. „Al-
lein in der Ukraine laufen mehr als 400 Ge-
richtsverfahren, vor allem gegen die frühe-
ren Eigentümer und mit ihnen verbunde-
ne Firmen“, sagt Krumphanzl. Die Erfolge
sind gering. Viele Firmen seien Tarnfir-
men ohne echtes Geschäft. Und: „Die Ge-
richte der Ukraine sind unreformiert und
korrupt“, sagt Ex-Finanzminister Olexan-
der Daniljuk. „Für Kolomoiskij reicht es,
sich hier mit jemandem zu einigen.“ Privat
Bank und NBU führen ihren juristischen
Feldzug auch im Ausland. Denn am mut-
maßlichen Betrug waren Dutzende im Aus-
land registrierte Firmen des Oligarchen
und seiner Geschäftspartner beteiligt. In
Genf, bis 2018 Kolomoiskijs Wohnsitz, hat


die NBU ihn auf umgerechnet 238Millio-
nen Euro verklagt. Der Oligarch bestreitet
die Schweizer Zuständigkeit, doch laut SZ-
Informationen will ein Genfer Richter die
Klage verhandeln. Die Privat Bank hat Ko-
lomoiskij, seinen Geschäftspartner Bogol-
jubow und US-Partner auch im US-Bundes-
staat Delaware verklagt. Die Klageschrift
wirft ihnen vor, „Hunderte Millionen Dol-
lar der entwendeten Kreditgelder“ verwen-
det zu haben, um in den USA Immobilien
und Fabriken zu kaufen. 622,8 Millionen
Dollar seien allein hier gewaschen worden.
Einer Gerichtssprecherin zufolge steht der
Verhandlungsbeginn noch nicht fest.

Um den höchsten Einsatz geht es in Lon-
don: Dort fror der Londoner High Court of
Justice schon Ende 2017 weltweiten Besitz
von Kolomoiskij, Bogoljubow und ihren Fir-
men im Wert von 2,6 Milliarden Dollar ein.
Kolomoiskij beteuerte, bei der Privat Bank
sei alles rechtens zugegangen. „Es gab kei-
nen Betrug, und der Bank entstand kein
Verlust“, erklärte er über die ihn vertreten-
de Kanzlei Fieldfisher. Bogoljubow ließ ei-
ne Anfrage über seine Anwälte unbeant-
wortet. Der High Court stellte am 15. Okto-

ber fest, die Beweise sprächen dafür, dass
es „weitreichenden Betrug“ und „Geldwä-
sche im großen Maßstab“ gegeben habe so-
wie den „Versuch, vor jedem Buchprüfer
oder Regulator die Existenz fauler Kredite
in den Büchern der Bank zu verschleiern“.
Und: Kolomoiskij und Bogoljubow hätten
vor Gericht „zugegeben, dass es gegen sie
einen plausiblen Fall von Betrug in epi-
schem Ausmaß“ gebe. Die beiden bestrit-
ten auch hier, dass die englische Justiz zu-
ständig sei. Doch der High Court entschied
kürzlich gegen sie. Das Londoner Gericht
wird nun gegen sie verhandeln, ein Urteil
dürfte prozessnahen Juristen zufolge
nicht vor 2022 fallen.
In der Ukraine dagegen fehlt jede Aufar-
beitung des Skandals, zumal Kolomoiskijs
Protegé Wolodimir Selenskij zum Präsiden-
ten gewählt wurde. Stattdessen gerieten
die Privat Bank und die NBU unter Druck.
Zwei für anrüchige Entscheidungen be-
kannte Kiewer Gerichte erklärten die Ver-
staatlichung der Privat Bank für illegal
und der NBU gegebene Bürgschaften Kolo-
moiskijs über umgerechnet gut 320 Millio-
nen Dollar für ungültig. Die Entscheidun-
gen werden angefochten. Seit April wer-
den Manager der Privat Bank „regelmäßig
von der Polizei, dem Anti-Korruptionsbü-
ro Nabu, dem Geheimdienst SBU und der
Staatsanwaltschaft zu Verhören vorgela-
den – obwohl sie nie etwas gefunden ha-

ben“, sagt Bankchef Krumphanzl. Er habe
zum ersten Mal in seinem Leben Leibwäch-
ter, wie auch mehrere andere Vorstands-
mitglieder. „Obwohl ich bereits in vielen
anspruchsvollen Positionen war und mir
verschiedene mächtige Gegenspieler ge-
genüberstanden, ist die Situation bei der
Privat Bank außergewöhnlich“, sagt er.
Wie am 11. September, einen Tag nach ei-
nem Treffen Kolomoiskijs mit Präsident
Selenskij, dessen Stabschef und dem Mi-
nisterpräsidenten. „Drei Polizeieinheiten,
maskiert und bewaffnet mit Maschinenpis-
tolen, kamen in unsere Bankzentrale in
Dnjepro“, sagt Krumphanzl. Sie hätten alle
juristischen Unterlagen für die vergange-
nen Jahre verlangt. „Der einzige mögliche
Sinn ist der Missbrauch dieser Unterlagen
durch unsere Gegner in unseren Verfahren
gegen Kolomoiskij und seine Geschäfts-
partner oder Firmen in London oder Dela-
ware.“
Westliche Regierungen und Geldgeber
der Ukraine sorgen sich zunehmend we-
gen Kolomoiskijs Einfluss auf die Selenskij-
Regierung und der Vorgänge um die Privat
Bank. Die Sorgen nahmen zu, nachdem
Präsident Selenskij sagte, man sei im Fall
der Privat Bank zum Gespräch mit Kolomo-
iskij bereit. Ministerpräsident Alexej Gont-
scharuk sprach sogar von „gemeinsamen
Lösungen“ und einem „Kompromiss“. Der
IWF unterbrach daraufhin Anfang Okto-

ber Gespräche über einen neuen Milliar-
denkredit an die Ukraine. Zwar erklärte Se-
lenskijs Stabschef schließlich den Bot-
schaftern der G-7-Staaten, die Rückgabe
der Privat Bank an ihre früheren Eigentü-
mer sei ausgeschlossen. Doch von einem
Vorgehen gegen Oligarch Kolomoiskij ist
weiter keine Rede. Im Parlament etwa, in
dem schon beim Auffliegen des Privat-
Bank-Skandals etliche Kolomoiskij nahe-
stehende Abgeordnete saßen, „war die
Mehrheit nie bereit, einen Untersuchungs-
ausschuss zum Privat-Bank-Skandal ein-
zusetzen“, sagte der langjährige Parlamen-
tarier Serhij Leschtschenko. Das neue, En-
de Juli gewählte Parlament, wird zwar von
Selenskijs Partei „Diener des Volkes“ mit
absoluter Mehrheit kontrolliert. Doch man-
che „Diener“ sind nicht nur Abgeordnete,
sondern arbeiten noch heute für Kolomois-
kij; insgesamt solen ihm rund 20 Abgeord-
nete nahestehen.
Drei Jahre nach Auffliegen des größten
Wirtschaftsskandals der unabhängigen
Ukraine haben weder die Generalstaatsan-
waltschaft noch die Anti-Korruptions-
staatsanwaltschaft Anklage erhoben ge-
gen Kolomoiskij, Geschäftspartner Bogol-
jubow oder etliche am mutmaßlichen Be-
trug beteiligte Ex-Bankmanager. Die Gene-
ralstaatsanwaltschaft und das Anti-Kor-
ruptions-Büro Nabu antworteten nicht auf
SZ-Anfragen. florian hassel

von florian hassel

D


ie Ukraine war schon im Krieg, als
Waleria Gontarewa im Juni 2014
Chefin der Nationalbank wurde.
Die Krim war annektiert, der Donbass um-
kämpft, die Wirtschaft im freien Fall – die
Ukraine stand vor dem Abgrund. Die erste
Frau an der Spitze der Zentralbank be-
kämpfte Kapitalflucht und entzog Dutzen-
den Banken die Lizenz. Etliche von ihnen
gehörten Oligarchen, Geldwäsche und Insi-
derkredite waren häufig.


Die Bank aber, bei der Gontarewa zufol-
ge der „größte Finanzbetrug des 21. Jahr-
hunderts“ stattfand, durfte nicht sterben:
die Privat Bank, die größte Bank des Lan-
des. Und der Kampf um die Bank, um Milli-
arden, um eine unabhängige Justiz und
darum, ob die Ukraine weiter von Oligar-
chen kontrolliert wird, geht bis heute wei-
ter.
Bei Gontarewas Amtsantritt gehörte die
Privat Bank hauptsächlich Ihor Kolomois-
kij und seinem Geschäftspartner Gennadij
Bogoljubow. Kolomoiskij ist bis heute Herr
über Metallwerke, Fernsehsender und die
größte Fluglinie. Dieses Jahr wurde er mit
seinem TV-Kanal 1+1 auch wichtigster
Wahlhelfer des neuen Präsidenten Wolodi-
mir Selenskij. Kolomoiskijs Anwalt Andrij
Bohdan führte Selenskijs Kampagne mit
und ist heute dessen Stabschef.
Der Zentralbank, abgekürzt NBU, und
der Finanzdetektei Kroll zufolge arbeitete
die Privat Bank unter Kolomoiskij und Bo-
goljubow mit einem Schneeballsystem:
Kredite wurden mit den Bankeigentümern
verbundenen Tarnfirmen gewährt, oft nur
zum Schein zurückgezahlt, Milliarden ins
Ausland verschoben. „Schließlich klaffte
bei der Privat Bank ein mehr als 5,5 Milliar-
den Dollar großes Loch“, sagt Gontarewa.


Die Privat Bank zu schließen, kam nicht in-
frage. „Gut 20 Millionen Ukrainer hatten
dort ihre Konten.“ Also verstaatlichte die
Regierung die Bank im Dezember 2016.
Der damalige Finanzminister Olexander
Daniljuk rekapitalisierte die Bank mit
Staatsanleihen für umgerechnet sechs Mil-
liarden Dollar, damals sieben Prozent der
Wirtschaftsleistung der Ukraine.
In ihrer Amtszeit reduzierte Gontarewa
die Zahl der Banken von 180 auf 82. Der In-
ternationale Währungsfonds (IWF), die EU
und westliche Regierungen lobten sie für
die Reformen. Doch in der Ukraine machte
sie sich viele Feinde. Erste Drohungen er-
hielt sie schon nach drei Monaten im Amt.
Auf ihr Privathaus wurde „Killer“ ge-
sprüht, am Eingang der Zentralbank legte
jemand einen Sarg ab – mit einer Gontare-
wa-Puppe.
„Nur ein Bankbesitzer“, sagt Gontare-
wa, „hat mir über Jahre offen gedroht: Ihor
Kolomoiskij.“ Sie habe den Oligarchen bis
zu 50 Mal getroffen, immer mit Vorstands-
kollegen der Zentralbank. „Kolomoiskij
hat jedes Mal gedroht: Wir werden euch zei-
gen, was passiert, wenn ihr euch mit uns
anlegt.“ Nach der Verstaatlichung der Pri-
vat Bank nahmen die Angriffe auf Gontare-
wa noch zu. Im Mai 2017 trat sie zurück,
seit 2018 forscht sie an der Londoner
School of Economics. Auch in England
fürchtet sie um ihre Sicherheit.
Ende August wurde sie von einem Auto
angefahren und schwer verletzt. Anfang
September brannte in Kiew das Auto ihrer
Schwiegertochter aus, die heißt wie sie. Ei-
ne Woche später wurde Gontarewas Kie-
wer Wohnung von zehn mit Maschinenpis-
tolen bewaffneten Polizisten wegen einer
Anzeige gegen Gontarewa wegen angebli-
chen Amtsmissbrauchs in ihrer Zeit als Na-
tionalbankchefin aufgebrochen. Zwei Ta-
ge, nachdem ihr Sohn das bei Kiew liegen-
de Haus der Familie verlassen hatte, um
nach London zum Studium zu fliegen,
steckten Unbekannte das Haus in Brand.
„Es ist zu Asche verbrannt, mit allen Mö-

beln und Familienalben“, sagt Gontarewa.
Auf Anfrage an seine Londoner Rechtsan-
waltskanzlei Fieldfisher bestritt Kolomois-
kij „kategorisch“, dass er Gontarewa je be-
droht oder etwas mit den Angriffen auf sie
und ihre Familie zu tun habe.
Trotz aller Vorwürfe gibt es bis heute in
der Ukraine weder eine strafrechtliche An-
klage gegen Kolomoiskij oder andere noch
einen parlamentarischen Untersuchungs-
ausschuss. Stattdessen ermittelt Vize-Ge-
neralstaatsanwalt Konstantin Kulik, 2016
selbst massiver Korruption angeklagt, ge-
gen Gontarewa. Ex-Präsident Poroschen-
ko wirft Kulik vor, auf Anweisung Kolomo-
iskijs zu handeln. Kolomoiskij erklärte, er
habe Kulik „niemals getroffen“. Im Parla-
ment beantragte der Vizevorsitzende des
Finanzausschusses, der bis heute für Kolo-
moiskijs Fernsehsender 1+1 arbeitet, einen
Untersuchungsausschuss zur Arbeit der
NBU. Begründung: die angebliche „Zerstö-

rung des nationalen Bankensystems und
künstlicher Bankrott kommerzieller Ban-
ken“ durch die NBU in der Ära Gontarewa.
Am Vorabend von Gontarewas 55. Ge-
burtstag im Oktober zeigte der TV-Sender
1+1 die Satirikertruppe, die bis vor Kurzem
von Präsident Selenskij geführt wurde. In
einem Lied machten sie sich über Gontare-
was niedergebranntes Haus lustig. Kolo-
moiskij lobte den Beitrag und riet im ukrai-
nischen Fernsehen: „Gontarewa soll lieber
ruhig in London sitzen und ihren Besitz auf
andere überschreiben, damit ihr nicht je-
mand noch etwas anzündet.“ Kolomoiskij
erklärte nun, dies sei „keine Drohung, son-
dern ein freundschaftlicher Rat“ gewesen.
Seit ihrem Unfall wurde Gontarewa drei
Mal operiert, sie sitzt seitdem im Rollstuhl
und arbeitet in ihrer Londoner Wohnung
an ihrem Buch: „Praktische Anleitung. Wie
man umfassende Bankreformen durch-
führt“. Mitte Oktober verbot ihr der Arzt ei-
ne Reise zur Jahrestagung des IWF in Wa-
shington, denn bald wird sie zum vierten
Mal operiert. Wer sie im Visier habe, wolle
eine grundsätzliche Botschaft senden, sagt
die Ex-Zentralbankchefin: „Der Terror ge-
gen mich ist auch eine Warnung an alle an-
deren: Wenn ihr echte Reformen umsetzt,
geschieht mit euch das Gleiche wie mit
Gontarewa.“

„Der Terror gegen mich


ist eine Warnung“


Waleria Gontarewa reformierte den schmutzigen
ukrainischen Bankensektor. Bis der Druck zu groß wurde

Der Kampf um die Milliarden


Unter dem Oligarchen Kolomoiskij verschwand viel Geld aus der größten Bank der Ukraine. Die Justiz des Landes scheut den Fall – aber es gibt noch das Ausland


E


infach ist die Sache mit der Privat-
sphäre im Netz ja wirklich nicht. Wie
auch? Auf der einen Seite die Nutzer,
die meisten alles andere als Experten. Oft
sind die schon froh, wenn sie all das neumo-
dische Zeug überhaupt einigermaßen che-
cken. Aber auch die, denen das Elektroni-
sche locker von der Hand geht, sind meist
keine Kenner. Was wirklich hinter den
freundlich gestalteten Benutzeroberflä-
chen geschieht, davon ahnen auch sie in
der Regel nur wenig.
Sie alle stehen Konzernen wie Facebook
gegenüber, die gerne mal das Ende der Pri-
vatsphäre ausrufen und so erfolgreich das
Ihre dafür tun, dass man sich diesem Zu-
stand auch bedenklich nähert. Schließlich
Länder wie China, wo mittlerweile schon
die Hirnströme von Schulkindern wäh-
rend des Unterrichts gemessen werden.
Oder Konzerne, die mal eben DNA-Proben
der gesamten Belegschaft nehmen – nur
zu wissenschaftlichen Zwecken, versteht
sich. Und – nicht zu vergessen – Kriminel-
le, die es ebenfalls auf unsere Daten abge-
sehen haben.
Daten sind an sich ja nichts Negatives.
Wie viel Gutes ließe sich tun, gäbe es große
Mengen an detaillierten, aber zuverlässig
anonymisierten Gesundheitsdaten, um
wie viel besser könnte das Leben in Städ-
ten sein, würden bloß Daten, die es ja oft
schon gibt, besser miteinander verknüpft,
etwa im Verkehr.
So wie die Lage aber derzeit ist, kann es
für Privatpersonen eigentlich nur eine Re-
aktion geben: mit den eigenen Daten zu gei-


zen, wie und wo es nur geht. Es gibt auch
Menschen, die das tun. Aber es sind ver-
schwindend wenige. Viele glauben womög-
lich, sie gäben nicht allzu viel von sich preis


  • dabei ziehen sie einen ganzen Kometen-
    schweif von privaten und privatesten
    Daten hinter sich durchs Netz. Viele be-
    schleicht zwar ab und zu ein mulmiges Ge-
    fühl, doch dann meldet man sich doch wie-
    der via Facebook oder Google bei einem
    Dienst an, legt an der Supermarktkasse die
    Rabattkarte vor und tut auch sonst alles,
    was die Datensammler dieser Welt erfreut.
    Warum nur, zur Hölle?
    In gewisser Weise ähnelt das, was im
    Netz passiert, dem Wilden Westen. Erst
    vor einem guten Vierteljahrhundert er-
    reichte das World Wide Web die Massen.
    Es gilt das Recht des Stärkeren. Nur dass es
    viel subtiler geschieht. Die Konzerne gau-
    keln uns vor, es gebe sie nur zu unsrem
    Wohl. Das Wissen der Welt erschließen,
    die Menschen miteinander zu verbinden
    und so weiter. Hinter diesen Fassaden
    sieht es ganz anders aus. Da werden Strate-
    gien ausgeheckt, wie man die Nutzer dazu
    bringen kann, möglichst viele Daten preis-
    zugeben, möglichst lange den Dienst zu
    nutzen. Einen angemessenen Gegenwert
    für die Daten erhalten die Nutzer nicht.
    Und versucht etwa die EU, dem Treiben
    mal Einhalt zu gebieten, kann man die Ein-
    stellungen in der Software immer noch in
    der dritten Unterebene des Menüs und ver-
    teilt auf viele Menüpunkte verstecken. Das
    Konzept geht auf: Die Mühe machen sich
    dann nur noch wenige.


Das ist vor allem aus zwei Gründen
problematisch. Erstens: Die Unternehmen
bieten zwar interessante, teils auch einzig-
artige Dienstleistungen an. Man kann sie
allerdings nur dann nutzen, wenn man
sich auf ihr Spiel einlässt, von einer echten
Wahl kann nicht die Rede sein. Die Nut-
zungsgebühr wird sozusagen in Naturali-
en kassiert – Daten. Das führt zu Problem
Nummer zwei: Daten, die vielen nutzen
können, bleiben in den Händen von Kon-
zernen, deren Ziel nicht das Wohlergehen
der Menschheit ist, sondern ihr eigener
Profit. Wäre das nicht so, würden die Inves-
toren schnell die Geduld mit ihnen verlie-
ren – sie sind ja schließlich börsennotiert
und somit dem Gewinn verpflichtet. Dass
sie ihren Wissensschatz auch ein bisschen
der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen,
etwa den Zugang zu KI-Ressourcen, ist
wenig mehr als ein PR-Feigenblatt.

Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte
eine Verpflichtung für Konzerne sein, Da-
ten für die Allgemeinheit zur Verfügung zu
stellen. So hätten beispielsweise auch
Start-ups mehr Chancen, gegen die Gro-
ßen zu bestehen. Denn eine umfangreiche
Datensammlung erst einmal aufzubauen,
das können die meisten aus eigener Kraft
nicht leisten. So ließen sich die entstande-
nen Daten-Monokulturen wenigstens et-

was aufbrechen. Nicht das Datensammeln
an sich ist ja das Schlimme, sondern deren
Konzentration bei viel zu wenigen Anbie-
tern und die Tatsache, dass die Konzerne
damit Milliarden verdienen und dabei mit
allerlei leider legalen Tricks noch Steuern
vermeiden, wo es nur geht.
Aber warum eigentlich überhaupt diese
ganze Aufregung um Daten? Nun, das ent-
scheidende Merkmal der Digitalisierung
ist ja nicht, dass das, was früher auf Vinyl-
schallplatte oder Tonband gespeichert
wurde, nun als digitale Computerdatei ab-
gelegt wird. Mit der neuen Form hat sich et-
was Grundsätzliches geändert. Weil sich
die Dateien verlustfrei übers Netz versen-
den und auch kopieren lassen, wurde die
gesamte Branche radikal verändert.
Und das ist erst der Anfang. Weil mehr
und mehr von dem, was früher analog war,
digitalisiert wird, fallen mehr und mehr Da-
ten an – ihre Menge steigt schneller, als die
Entwicklung von Computerchips voran-
schreitet. Diese Daten – etwa die von Autos,
von Sensoren im Körper – warten bloß dar-
auf, ihre Geheimnisse preiszugeben. Sie zu
entdecken, kann der Gesellschaft weiterhel-
fen. Sie zu missbrauchen, kann die Mensch-
heit aber auch in Gefahr bringen. Lässt man
die Dinge laufen, wird die Entwicklung in
die negative Richtung abdriften. Wir haben
die Wahl. helmut martin-jung

Claudia Cordioli, 48, wurde beim
Schweizer Rückversicherer Swiss Re
befördert. Anfang Februar 2020 wird sie
neue Finanzchefin für das weltweite
Rückversicherungsgeschäft. Sie folgt auf
Gerhard Lohmann, der das Unterneh-
men verlässt und zur Bank Credit Suisse
wechselt. Cordioli(FOTO: OH)ist seit 2003 in
verschiedenen Funktionen für die Swiss
Re tätig, die neben der Munich Re zu den
größten Rückversicherers der Welt
zählt. Derzeit leitet Cordioli das Rückver-
sicherungsgeschäft des Konzerns in
West- und Südeuropa. Ihre Karriere
begann sie im Finanzcontrolling des
italienischen Telekommunikationskon-
zerns Italtel. Weitere Stationen waren
das Aspen Institute und die Beraterfir-
ma KPMG. Die Rückversicherer sind in
einer schwierigen Lage. Trotz leichter
Prämienerhöhungen lassen die Preise
im Markt aus Sicht
der Anbieter immer
noch zu wünschen
übrig. Sie suchen
nach neuen Einnah-
mequellen wie der
Versicherung großer
Industriekonzerne
oder Cyberpolicen.
frkr/acg

Ben Smith, 48, Chef von Air-France-
KLM, feiert sich als Dompteur der wil-
den Belegschaft des Flugkonzerns. „Wir
haben eine erhebliche soziale Krise bei
Air France beigelegt“, sagte er am Diens-
tag bei der Vorstellung seiner Strategie
für das Unternehmen. Der Kanadier
(FOTO: BLOOMBERG)verwies auf neue Tarifver-
träge, die seit seiner Berufung im Herbst
2018 geschlossen wurden. Sein Vorgän-
ger war an einem erbitterten Gehalts-
streit mit den Arbeitnehmern geschei-
tert; und 2015 hatten aufgebrachte Ge-
werkschafter einem Air-France-Mana-
ger gar das Hemd vom Leib gerissen. In
Kombination mit einer erneuerten Flot-
te sollen die Tarifverträge, die dem Per-
sonal mehr Flexibilität abverlangen, die
Rendite in den nächsten fünf Jahren
deutlich steigern, so Smith. Den Aktionä-
ren verspricht er, sie
bekämen wieder
eine Dividende –
erstmals seit 2008.
Doch Smiths Plan ist
ihnen nicht ehrgei-
zig genug: Die Aktie
von Air-France-KLM
verlor am Dienstag
stark.lkl

Rolf Schrömgens, 43, Trivago-Mit-
gründer zieht sich bei dem Hotel-Such-
maschinenbetreiber nach 15 Jahren
aus dem operativen Geschäft zurück.
Schrömgens(FOTO: TOM ZIORA)wechselt zum
Jahresende in den Aufsichtsrat. Sein
Nachfolger als Vorstandschef wird nach
Angaben des Unternehmens der bisheri-
ge Finanzvorstand Axel Hefer, der 2016
vom Online-Möbelhändler Home 24 zu
Trivago gekommen war und Trivago an
die US-Technologiebörse Nasdaq ge-
führt hatte. „Es ist das Ziel jedes Grün-
ders, ein Unternehmen und ein Team zu
schaffen, das man guten Gewissens an
die nächste Generation weitergeben
kann“, sagte Schrömgens. Die Trivago-
Aktie hat 2019 fast 40 Prozent an Wert
verloren. Das Unternehmen ist an der
Börse noch 1,2 Milliarden Dollar wert,
bei der Erstnotiz vor
knapp drei Jahren
war es mehr als drei
Mal so viel. Im drit-
ten Quartal schmolz
der Gewinn von
Trivago auf 300 000
(vorher 10,1 Millio-
nen) Euro zusam-
men. reuters

Ein Londoner Gericht stellte fest,
die Beweise sprächen für
„Geldwäsche im großen Maßstab“

FinanzbetrugWiesich die Chefin der Ukrainischen Zentralbank mit den Oligarchen des Landes anlegte


(^16) WIRTSCHAFT Mittwoch, 6. November 2019, Nr. 256 DEFGH
Waleria Gontarewa wurde von einem Auto angefahren und schwer verletzt.
Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. FOTO: SIMON DAWSON / REUTERS
Gebt die Daten frei
Diegroßen Digitalkonzerne bieten ihre Dienste
nur scheinbar kostenlos an. In Wirklichkeit bezahlen
die Nutzer sie sehr teuer: mit Informationen
über sich selbst. Und die Unternehmen rücken sie
nicht heraus, sondern nutzen sie,
um damit enorm viel Geld zu verdienen.
Das muss sich ändern
SILICON FUTURE
Konzerne sollten dazu verpflichtet
werden,der Allgemeinheit
Daten zur Verfügung zu stellen
An dieser Stelle schreiben jeden Mittwoch Marc
Beise, Karoline Meta Beisel (Brüssel), Christoph
Giesen(Peking), Helmut Martin-Jung (München)
und Jürgen Schmieder (Los Angeles) im Wechsel.
MITTWOCHSPORTRÄT
Steigt auf
Feiertsich
Tritt ab
PERSONALIEN
Der Oligarch rät ihr, ihren Besitz
zu überschreiben: „Damit ihr nicht
jemand noch etwas anzündet.“

Free download pdf