Süddeutsche Zeitung - 13.11.2019

(Ron) #1
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D


as Jahr 1989 war in Kuba der
Auftakt zur sogenannten „Sonder-
periode in Friedenszeiten“, von der
Fidel Castro zum ersten Mal öffentlich auf
einem Kongress des kubanischen Frauen-
verbands sprach. Nachdem er dort seinen
Blick über die Anwesenden hatte schwei-
fen lassen und ihnen mitgeteilt hatte, sie
seien die Schönsten der Welt, bat er sie,
nur gut auf ihre schönen Kleider aufzu-
passen, ihre eleganten Blusen, denn was
nun komme, sei arg, eine Zeit, die allen
Vorzeichen nach schrecklich werde, aber
natürlich, selbstverständlich werde die
Revolution standhalten. Da erhoben sich
alle Anwesenden und klatschten Beifall, ob
wegen der Aufrichtigkeit des Comandante,
des von ihm garantierten Überlebens des
kubanischen Sozialismus, der tropischen
Schmeichelei oder allem zusammen, ist
nicht zu sagen.
Im selben Jahr sollte Fidel, der sich
schon als Chefmeteorologe versucht hatte
(indem er den genauen Ort vorhersagte, an
dem die Wirbelstürme vorbeidefilieren
sollten, und der Natur damit geradezu
Befehle erteilte) sowie als Chefviehzüchter
(er war der Besitzer der Kuh, die den Welt-
rekord in der Milchproduktion hielt, der
legendären Ubre Blanca, die nach ihrem
Tod ausgestopft wurde, um auch die kuba-
nische Geisterwelt weiter mit Milch zu
versorgen) – im selben Jahr also sollte
Fidel der Welt ein weniger sympathisches

Gesicht zeigen: als Chef eines Erschie-
ßungskommandos, da nach einem der
ersten langwierigen und angespannten
Gerichtsprozesse, die im Staatsfernsehen
übertragen wurden, der General Arnaldo
Ochoa und weitere hohe Offiziere der kuba-
nischen Armee, Veteranen des Angola-
Krieges und der Revolutionsguerilla in der
Sierra Maestra, wegen Drogenhandels,
unrechtmäßiger Bereicherung und Landes-
verrats schuldig gesprochen und zum Tod
durch Erschießen verurteilt wurden.
In der Bevölkerung kursierte das Ge-
rücht, die wahre Schuld an der Erschie-
ßung des Generals Ochoa und der weiteren
Offiziere trage niemand Geringeres als Gor-
batschow, denn der Generalsekretär der
KPdSU reiste von einem sozialistischen
Land ins nächste, mit dem halb geäußer-
ten, halb geheim gehaltenen Wunsch, die
alten Diktatoren durch junge und vorzeig-
bare Regierende zu ersetzen.
Ochoa, Held der kubanischen Republik,
schien der geeignete Kandidat zu sein, um
alle Posten zu übernehmen, die bis ins be-
sagte Jahr 1989 Fidel Castro, abgenutzter
Repräsentant aus Kalten Kriegszeiten, in-
nehatte, und um dem kubanischen Sozia-
lismus ein menschlicheres Gesicht zu
verleihen. „Papperlapapp“, sagte sich of-
fenbar Fidel, der Russe mit dem Feuermal
auf der Stirn war ihm schon von Anfang an
unsympathisch gewesen, als er nach
Tschernenkos Tod die sowjetische Füh-
rung übernahm und sich über Glasnost
und Perestroika zu verbreiten begann –
Wörter, die die karibischen Regierungs-
chefs ins Stottern brachten. Für viele
Durchschnittskubaner schien 1989 jedoch

eine Zeit der Hoffnung zu sein, eine Zeit
der Träume, der Eiserne Vorhang bekam
Risse, und was draußen vor sich ging – der
Fall der Berliner Mauer, die
Demokratisierung Polens, Rumäniens und
die Veränderungen in der Sowjetunion, die
plötzlich keine monolithische Nation mehr
war –, schien Kuba schließlich die ersehn-
te Freiheitsbrise zu bringen.
Dazu kam es aber nicht, oder zumindest
nicht so, wie wir gehofft hatten. Viele Jahre
mussten vergehen, bevor die Kubaner ei-
nes Tages aufwachten und jemand das
Land regierte, der nicht den Familienna-
men Castro trug, obwohl der aktuelle kuba-
nische Präsident in Rede und Ausdruck
mehr von einem Castro zu haben scheint
als die Namensträger selbst; der Respekt
vor der Freiheit des Individuums und der
Presse ist sogar noch geringer geworden,
wenn wir den Vergleich zu jener epheme-
ren Epoche namens Raulismus nach Fidels
Tod ziehen – ein demokratischer Aufbruch,
der im Besuch Obamas und der Wieder-
herstellung beiderseitiger diplomatischer
Beziehungen gipfelte und mit dem nord-
amerikanischen Regierungswechsel und

dem Rückzug Raúl Castros wieder endete.
Zugleich denkt man sich beim Rück-
blick auf diese dreißig Jahre: Was ist
eigentlich von 1989 noch übrig in einer
Welt, die inzwischen unter dem Zeichen
von Religionskriegen steht, von wieder-
erstarkendem Totalitarismus, von Frem-
denfeindlichkeit und einem Klimawandel,
der einen Punkt erreicht hat, an dem der
Planet sagt: „Basta, Mensch hat ausge-
dient“?

Worin haben wir uns geirrt, dass wir
diesen Paradigmenwechsel nicht genutzt
haben, um die Gesellschaft tatsächlich
zudemokratisieren, einen neuen und un-
verstellten Blick aufzusetzen, der die Ost-
West-Dichotomie überwindet? Warum ha-
ben die Götter plötzlich aufgehört, bloße
Moralgespenster zu sein und sich in Cau-
sus Belli verwandelt, sodass Tausende im
Namen der verschiedenen Auffassungen

von Religion sterben? Warum ist es, nach-
dem der Kalte Krieg beendet und die Welt
nicht mehr in einen roten und einen blau-
en Block aufgeteilt ist, unmöglich, den
sozial und wirtschaftlich entwicklungs-
schwächsten Ländern echte Hilfe zu
gewähren? War die Zerstörung der Twin
Towers das Spiegelbild des Berliner Mauer-
falls? Wurde am 11. September 2001 mit
dem Einsturz der Zwillingstürme die
Gewissheit begraben, die Welt könne sich
beginnend mit dem Berliner Mauerfall in
einen besseren Ort verwandeln? Wird die
Erderwärmung (die Städte und sogar
Länder in ihrer Existenz bedroht, wenn der
Meeresspiegel weiter ansteigt) es eines
Tages auf die globale Agenda schaffen?
Fragen über Fragen, so viele, dass sie
schier nicht zu beantworten sind. „Etwas
ist faul im Staate Dänemark“, sagte Shake-
speare im Hamlet, und um die verrückte
Weltnation, die diesen Planeten besiedelt,
hat es noch nie so schlecht gestanden; die
Möglichkeit, die engstirnigen Nationalis-
men zu überwinden, die Bagatellen, die
uns entzweien, anstatt uns anzunähern,
rückt in immer weitere Ferne.

Seit dem Fall der Berliner Mauer haben
wir so viel Wahnsinniges erlebt, dass sich
unmöglich alles aufzählen lässt, der Völker-
mord in Ruanda, die Balkankriege, religiö-
ser Fanatismus im Nahen Osten, die Macht-
übernahme durch Extremisten, Rechte ge-
nauso wie Linke, die Weltpolitik betreiben,
als handle es sich um Filme à la Marvel oder
Walt Disney statt um Realität, das Wiederer-
starken der extremen Rechten in Ländern
wie Frankreich, Spanien, Italien und
Deutschland selbst und Rassismus, der
sich offenbar an vielen Orten der Welt
wieder regt und festigt.
Alles in allem bleiben die Herausforde-
rungen unverändert groß und im Macht-
vakuum, das durch das Verschwinden des
sogenannten sozialistischen Lagers ent-
standen ist, greifen heute politische und
religiöse Strömungen um sich, die nahezu
eine Rückkehr in Zeiten bedeuten, die von
der Menschheit längst überwunden schie-
nen. Werden wir in der Lage sein, diesen
Herausforderungen zu begegnen?

Aus dem Spanischen von Laura Haber.

Wieder ein kleiner Roman von J.L. Carr! Es
ist der vierte, der nun auf Deutsch er-
scheint, nachdem der 1994 verstorbene
englische Autor erst 2016 seinen späten
Auftritt hierzulande hatte, mit der bezau-
bernden Idylle „Ein Monat auf dem Land“:
Ein stotternder Kriegsheimkehrer des
Ersten Weltkriegs wird geheilt durch die
Arbeit an einem mittelalterlichen Fresko
in einer Dorfkirche. Das danach übersetzte
Buch berichtete von einer aus Außen-
seitern zusammengesetzten dörflichen
Fußballmannschaft, die unvermutet einen
Pokal holt, trainiert unter anderem von
einem Lehrer („Wie die Steeple Sinderby
Wanderers den Pokal holten“, 2017). Es folg-
te ein Kriminalfall in einer Kleinstadt, Gele-
genheit für ein düsteres Sozialgemälde,
verdichtet auf einen einzigen Tag, ein Bild
aus der zweiten Nachkriegszeit: spannend,
rührend („Ein Tag im Sommer“, 2018).
Das neue Buch, pünktlich im Jahresab-
stand, wiederum übersetzt von Monika
Köpfer, erschien auf Englisch zuerst 1971.
Es entfaltet ein halbes Jahr im Leben und
Arbeiten eines Grundschuldirektors, auch
diesmal in einer Kleinstadt. Damit widmet
Carr sich unverstellt dem Beruf, den er
selbst viele Jahre ausgeübt hat. Und wieder
zeigt der nicht dicke Roman einen Kosmos


  • denn das ist eine Schule –, und zwar in
    zwei Ringen: Der innere Bezirk ist die
    Schule selbst mit Lehrerkollegium, Haus-
    meister, Beirat und aufsichtführender
    Schulverwaltung; der äußere Ring, das
    sind die Kinder mit ihren unterschied-
    lichen Begabungen, Eltern, sozialen Hinter-
    gründen, Wohngegenden, als Abbild der
    ländlichen Gesellschaft.
    Die Zeit um 1970 muss auch in England
    ein Moment des Umbruchs zwischen über-
    lieferten pädagogischen Routinen und
    neuen Experimenten gewesen sein – eine
    junge Kollegin, Cambridge-Absolventin,
    redet schon wie heutige Feministinnen.
    Der Held des Romans, George Harpole, ist
    noch jung, für ein halbes Jahr darf er den
    beurlaubten Rektor vertreten, und wie er
    das bei bestem Willen erst mit Unsicher-
    heit und Ungeschick angeht, wie er in Kon-
    flikten stark wird, davon handelt die Ge-
    schichte. Carr hat sie formal ambitioniert
    aus Korrespondenzen und Vermerken der
    Beteiligten zusammengebaut, so sehr lus-
    tig die bürokratische Grundierung heuti-
    ger Schulbetriebe nachahmend. Denn
    natürlich muss selbst die Erneuerung von
    Lehrmitteln aufwendig beantragt und
    genehmigt werden.


Das Buch zeigt eine Typenkomödie, die
sich bei englischen Lehrern offenbar bis
heute großer Beliebtheit erfreut. Das
Kollegium glänzt mit exzentrischen Cha-
rakteren, die vom insektenhaft erstarrten
Schulfuchs über die frustrierte Lehrerin
der Förderklasse bis zur hochfahrenden,
akademisch auf neuesten Stand gebrach-
ten Reformerin reichen. Der kleine bunte
Haufen muss mit einem mäßig motivier-
ten, selbstherrlichen, gewerkschaftlich
organisierten Hausmeister (wir sind ein
Jahrzehnt vor Margaret Thatcher) und ei-
ner alles abblockenden Aufsichtsbehörde
kämpfen – an beiden Fronten wird gern
mit lakonischen Zetteln gearbeitet, deren
Inhalt immer „nein“ ist.
Harpole, idealistisch und ängstlich zu-
gleich, kommt irgendwie trotzdem voran –
er löst die demütigende Förderklasse auf
(Inklusion!), kümmert sich um Läusebefall
(Stigma!), beschäftigt sich mit den zahl-
reichen übel riechenden Sprösslingen der
von der Stütze lebenden Familie Widmer-
pool (Anspielung auf Hochliteratur, Antho-
ny Powell!) und versetzt einem renitenten
Vater einen herzhaften und sehr wirksa-
men Kinnhaken. Nachdem er die Avancen
einer lüsternen Dame vom Gemeinderat
abgewehrt hat, scheint er erledigt. Doch
am Ende lieben ihn alle, obwohl seine
Freundin ihn inzwischen für einen Kosme-
tikartikelvertreter verlassen hat.
Das hat Lokalfarbe, es lebt von einer
präzisen Beobachtungsgabe, die sich hier
auch auf die Idiolekte von Dorfbewohnern,
Pädagogen und Bürokraten erstreckt.
Natürlich hat der kleine große Roman
inzwischen gehörig Patina angesetzt – das
Schulwesen ist wandelbar überall, da
gehen fünfzig Jahre nicht spurlos vorbei.
Das mindert das Vergnügen nicht, das
Carrs kleine menschliche Komödie auch in
diesem Abschnitt zeigt – Komplettierung
erwünscht. gustav seibt

J.L. Carr: Die Lehren des Schuldirektors George
Harpole. Roman. Aus dem Englischen von Monika
Köpfer. DuMont Verlag, Köln 2019. 287 S., 20 Euro.

Die Welt nach 1989Zum Literaturfest München kommen Autorinnen und Autoren aus aller Welt und diskutieren in


einer von Ingo Schulze kuratierte Gesprächsreihe. Vorab haben sie über ihr Wendejahr geschrieben. Zwei Eindrücke


Eine Kuh für die Welt der Geister


1989 ließ Fidel Castro eine Reihe ranghoher Militärs erschießen, auf politisches Tauwetter musste


Kuba noch lange warten. Und wie weit ist die Welt seitdem gekommen?Von Marcial Gala


Die Grenze in der Zeit ist der Augenblick
(das Jahr?, das Jahrzehnt?), in dem sich
zwei Epochen ganz offensichtlich begeg-
nen, überlappen und ergänzen. Das Dop-
pelwesen der Grenze blickt, wie der Janus-
kopf, gleichzeitig nach vorne und zurück,
in die Vergangenheit und in die Zukunft,
die Epoche, die es beendet, zeigt es ebenso
deutlich wie die Epoche, die es beginnt.
Einmal habe ich über die Grenze in der
Zeit geschrieben, und diese Grenze habe
ich in den ersten zehn Jahren des 19. Jahr-
hunderts erkannt. In dieser Periode kam
die Dampfmaschine auf (eine in hohem Ma-
ße neue Existenzform). Napoleon hörte
auf, Befreier zu sein, und wurde Tyrann,
und in der Literatur schrieben zur gleichen
Zeit Autoren mit einem unerschütterli-
chen Glauben und mit einer radikalen,
totalen Skepsis, zum Beispiel Hölderlin
und Kleist, in der deutschen Sprache. Auch
in meinem Erzählband „Ein Haus für die
Müden“ habe ich Zeitgrenzen in der jünge-
ren Geschichte Bosniens thematisiert.
Viele Gesprächspartner versicherten
mir, das Jahr 1989 sei eine solche Grenze in
der Zeit. Ich habe ihnen nicht widerspro-
chen, obwohl ich nicht mit ihnen überein-
stimmte.
Es gibt Gründe, so zu denken: dieses
Jahr ließ das Ende des Kommunismus, des
vielleicht wichtigsten utopischen Projekts
der rationalistischen Epoche, ganz offen-
sichtlich werden; in diesem oder dem
folgenden Jahr zog sich die Sowjetunion
aus Afghanistan zurück; und wenn derjeni-
ge, der darüber spricht, aus Deutschland
kommt, ist mehr als klar, dass er dieses

Jahr als wesentliche Grenze in der Zeit
betrachten wird. Aber für mich, der ich in
dieser Zeit in Jugoslawien gelebt habe, gibt
es viel mehr Gründe, all diese Ereignisse
als Resultat von dem zu sehen, was etwa
zehn Jahre zuvor geschehen ist.
Zehn Jahre zuvor (1979 und 1980)
marschierte die Sowjetunion nämlich in
Afghanistan ein, in Polen begannen die
Streiks auf der Werft, und eine unabhängi-
ge Gewerkschaft wurde gegründet, nach
Iran kehrte Imam Chomeini zurück und
brachte den Islam auf die politische Büh-
ne, und in zwei kardinalen Ländern des
Westens kamen die radikalen Antikommu-
nisten Ronald Reagan und Margaret That-
cher an die Macht, die die Vision des
kommunistischen Propheten Karl Marx
vom Absterben des Staates zu verwirkli-
chen begannen (einen modernen Staat,
wie er in der Aufklärung entstanden ist,
gibt es nämlich dort nicht, wo das Schul-,
das Gesundheitswesen, die Kommunikati-
on und die Sicherheit privat sind).

Sicherlich stimme ich nicht mit dem
Minister überein, der behauptet hat,
Deutschland werde am Hindukusch
verteidigt, aber ich bin geneigt zu glauben,
dass jeder Erzähler und jeder Historiograf,
also alle Menschen, die sich bemühen, die
Verbindungen zwischen den Ereignissen
zu verstehen und hinter diesen

Verbindungen eine Form der Zeit bezie-
hungsweise der Epoche zu erahnen, den
sowjetischen Einmarsch in Afghanistan
und die Wiedervereinigung Deutschlands
in einen Zusammenhang bringen wird. Es
ist klar, dass die Wiedervereinigung
Deutschlands keine Folge der sowjeti-
schen Intervention in Afghanistan ist; was
nur eine Ursache hat, ist weder ein Er-
eignis noch historisch, aber die Wieder-
vereinigung Deutschlands ist sowohl das
eine als auch das andere.
Die Beziehungen zwischen den Phäno-
menen der wirklichen Welt sind zu kom-
plex, als dass eine Beziehung „Ursache –
Folge“ zwischen ihnen möglich wäre, aber
es ist ebenso klar, dass die Verbindungen
zwischen diesen Ereignissen, nämlich
dem Einmarsch der sowjetischen Truppen
in Afghanistan, dem Zusammenbruch des
Kommunismus und der Wiedervereini-
gung Deutschlands vielschichtig und ganz
offensichtlich sind.
In der Erfahrung eines Jugoslawen
stellt das Jahr 1980 zweifellos eine beson-
dere Zäsur dar, beziehungsweise eine Gren-
ze in der Zeit, während 1989 lediglich den
Abschluss der am Anfang des Jahrzehnts
einsetzenden Prozesse bildet.
1989 ereignete sich, soweit ich mich
erinnere, nur eine Sache von historischer
Bedeutung – die Sozialistische Republik
Serbien ernannte Aleksandar Prlja zu
ihrem Außenminister und verabschiedete
eine separatistische Verfassung, in der es
explizit heißt, dass Serbien die jugoslawi-
schen Bundesgesetze nur dann achten
wird, wenn es in seinem Interesse ist.

Damit wurde die Demontage Jugoslawiens
vollendet, weil ein oder zwei Jahre später
die separatistischen Verfassungen in Slo-
wenien und in Kroatien folgten. Aber die
Demontage hat ganz offensichtlich 1980
begonnen, zu der Zeit, als Josip Broz Tito
starb und einige Ereignisse in Belgrad,
Ljubljana und Priština zeigten, wie weit die
Zersetzungsprozesse im gemeinsamen
Staat fortgeschritten waren.

Es hat keinen Sinn, jetzt an diese Ereig-
nisse zu erinnern, ich glaube, nicht einmal
die Menschen meiner Generation aus dem
ehemaligen Jugoslawien erinnern sich dar-
an, und mir ist klar, dass sie auch denen,
die sie im Gedächtnis behalten haben,
nichts mehr bedeuten.
Im Übrigen habe ich das alles geschrie-
ben, um daran zu erinnern, wie sehr die
Zeit tatsächlich ein „bewegliches Bild der
Ewigkeit“ ist, wie es uns Plato gelehrt hat.
Und die wesentliche Eigenschaft der
Ewigkeit ist, dass sie all das enthält, was
überhaupt möglich ist. Daher hat das
Lesen der Zeit viel mit dem Lesen eines
guten Romans gemein – jeder wahre Leser
hat seine eigene Version des Romans, und
jeder von uns findet die Grenze in der Zeit
in jenem „Augenblick“, den er als schicksal-
haft für sich erkannt hat.
Jetzt frage ich mich, ob ich einen Fehler
begangen habe, indem ich mich in dieser

Notiz mit meinem „deutschen Gesprächs-
partner“ und seiner Überzeugung, dass
das Jahr 1989 eine wichtige Grenze in der
Zeit ist, auseinandergesetzt habe.
Mir fällt nämlich auf, dass ich als
Argumente für und als Argumente gegen
diese Überzeugung lauter politische Ereig-
nisse angeführt habe, doch die Politik ope-
riert, wie wir wissen, mit abgeschlossenen
Prozessen oder solchen, die unmittelbar
vor dem Abschluss stehen. Aber unser
wirkliches Leben gestalten Prozesse, die
unsichtbar sind, weil sie noch immer im
Fluss begriffen sind.
Wäre es besser gewesen, diese Überle-
gung mit den Sechzigerjahren des 20. Jahr-
hunderts und dem Anfang des Massentou-
rismus zu beginnen? Ich glaube, damals
nahm unsere traurige Epoche, die wir als
Zeit der allgemeinen Obdachlosigkeit be-
zeichnen könnten, ihren Anfang. Daher die
Sechzigerjahre und der Massentourismus,
in der Welt des Tourismus ist niemand zu
Hause, weil die Menschen entweder Kell-
ner oder Gäste sind. Gerade wie in der
Welt, zu der wir heute verurteilt sind.

Die Ernst H. Klett Stiftung Merkur verleiht
in diesem Jahr erstmals einen Förderpreis
für herausragende Dissertationen, den
Merkur-Preis. Ausgezeichnet wird der in
Luzern lehrende Wissenschaftshistoriker
Kris Decker für die Arbeit „Im Hinterland
der Daten. Fragmente zur schriftbasierten
Klimaforschung“. Verliehen wird der Preis
im Februar 2020 in den Berliner Redakti-
onsräumen des Merkur. Über die Vergabe
des mit 3 000 Euro dotierten Preises ent-
scheiden die Mitglieder von Kuratorium
und Vorstand der Stiftung im Einverneh-
men mit den Herausgebern der Zeitschrift
Merkur. sz

Der Russe mit dem Feuermal
war Fidel Castro von Anfang an
unsympathisch gewesen

Dževad Karahasan , Jahr-
gang 1953, lebt heute in
Graz und Sarajevo. Er
beschrieb in „Tagebuch
der Aussiedlung“ (1993)
die Belagerung Sarajevos,
zuletzt erschien „Ein
Haus für die Müden“
(Suhrkamp, 2019).
FOTO: M. SIEBINGER / IMAGO

Jeder findet eine Grenze in der
Zeit in dem Augenblick, den er
als schicksalhaft erkannt hat

Was nur eine Ursache
hat, ist weder ein Ereignis
noch historisch

Das Kollegium – der Direktor
ist beurlaubt – glänzt mit
exzentrischen Charakteren

Läuse in der


Förderklasse


J. L. Carrs menschliche Komödie
aus der englischen Provinz

Entweder Kellner oder Gäste


Lag der entscheidende Einschnitt nicht zehn Jahre vor 1989? Über die Beliebigkeit von Epochenbrüchen.Von Dževad Karahasan


Neuer Preis für


junge Wissenschaftler


Der Autor und Architekt
Marcial Gala , geboren
1965, lebt in Cienfuegos
und Buenos Aires. Zuletzt
erschien auf Deutsch sein
Roman „Die Kathedrale
der Schwarzen“ (Nagel &
Kimche, 2019).
FOTO: ANA EICHENBRONNER MG
MEDIEN VERLAGS GMBH

Wurde am 11. September 2001 die
Gewissheit begraben, die Welt
könne ein besserer Ort werden?

(^14) LITERATUR Mittwoch, 13. November 2019, Nr. 262 DEFGH
Michail Gorbatschow 1989 zu Besuch beim kubanischen Staatschef Fidel Castro in Havanna. Begriffe wie Glasnost und Perestroika brachten die kubanische Führung
ins Stottern, schreibt der Schriftsteller Marcial Gala, der mit Kollegen aus allen Weltgegenden beim Literaturfest München über 1989 sprechen wird. FOTO: AP
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