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von alexandra föderl-schmid
Tel Aviv – Es war zwei Minuten nach acht
am Dienstagmorgen, als die Sirenen in Tel
Aviv heulten und die Menschen aufgefor-
dert waren, in die Bunker zu gehen. Davor
waren schon Alarmmeldungen aus dem be-
nachbarten Holon zu vernehmen gewesen.
Dann waren auch in Tel Aviv zischende Ex-
plosionen zu hören: Solche Geräusche gibt
es, wenn das Raketenabwehrsystem Iron
Dome, die Eisenkuppel, aktiv wird und ei-
nes ihrer Abwehrgeschosse schießt.
Eltern, die gerade ein Kind zu einer der
drei Schulen in der Yefet-Straße im Stadt-
teil Yafo gebracht hatten, eilten zurück
und holten den Nachwuchs wieder ab;
auch in Tel Aviv wurden erstmals nach En-
de des Gazakriegs 2014 die Schulen wegen
Luftalarms geschlossen. Mehr als eine Mil-
lion Kinder und Jugendliche sowie Lehrer
waren von den Schulschließungen in allen
Orten zwischen dem Gazastreifen und der
Mittelmeer-Metropole betroffen.
Erstmals seit fünf Jahren wurde der öf-
fentliche Verkehr in Tel Aviv eingestellt,
Bunker wurden geöffnet. Viele Cafés blie-
ben zu, nur einzelne Geschäfte sperrten
auf. Am Dienstagvormittag waren nur we-
nige Menschen auf der Straße, es herrsch-
te ungewöhnliche Ruhe – zumindest für ei-
nige Stunden. Erst kurz nach zehn Uhr wur-
de die Aufforderung aufgehoben, zu Hause
zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen.
Während sich in Tel Aviv das Leben nor-
malisierte, dauerte der Raketenbeschuss
in den näher am palästinensischen Gaza-
streifen gelegenen Orten an. 160 Geschos-
se wurden bis zum frühen Nachmittag ab-
gefeuert, rund 60 abgefangen. Drei Häuser
und Fahrzeuge in der Nähe des Gazastrei-
fens sowie eine Schnellstraße bei Beer Tu-
via wurden von Raketen getroffen, mehre-
re Menschen verletzt.
Die Geschosse waren die Vergeltung des
Islamischen Dschihad für die Tötung ihres
Kommandanten Baha Abu al-Ata. Der
42-jährige Anführer der Al-Quds-Briga-
den im Nord-Gazastreifen war gegen vier
Uhr früh im Schlaf getötet worden. Er soll
bereits drei Tötungsversuche überlebt ha-
ben, den letzten davon 2014. Laut palästi-
nensischen Angaben kam auch seine Frau
um. Zwei ihrer Kinder sollen bei dem israe-
lischen Luftangriff auf das Haus im dicht
bebauten Viertel Shejaiya im Osten von Ga-
za-Stadt verletzt worden sein.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
beschrieb al-Ata nach einem Treffen mit
Armeevertretern als „Drahtzieher des Ter-
rorismus“ und „tickende Zeitbombe“. Der
Angriff sei notwendig gewesen, weil al-Ata
neue Schläge geplant habe. Zuvor hatte ein
Armeesprecher betont, Israel werde nicht
zur Politik gezielter Tötungen zurückkeh-
ren, es handle sich um einen Einzelfall.
Netanjahu wirkte bei seinem Auftritt im
Hauptquartier der Armee ruhig und beson-
nen. Israel sei nicht an einer Eskalation in-
teressiert, beteuerte er. „Aber wir werden
alles tun, um uns zu schützen. Das könnte
einige Zeit dauern. Man braucht Durchhal-
tevermögen und einen kühlen Kopf.“ Die
Militäraktion, die laut Netanjahu schon
vor zehn Tagen vom Sicherheitskabinett
genehmigt worden war, wurde an Netanja-
hus letztem Tag als kommissarischer Ver-
teidigungsminister gestartet. Er übergab
das Amt am Dienstagnachmittag an Nafta-
li Bennett von der Partei Neue Rechte, der
die bisherigen Reaktionen Israels nach Ra-
ketenbeschuss aus dem Gazastreifen als
zu lasch bezeichnet hatte. Als erste Amts-
handlung hat Bennett eine 48-stündige
Sondersituation für Gemeinden im Um-
kreis von 80 Kilometern vom Gazastreifen
ausgerufen, was Jerusalem einschließt
Während einige Politiker hinter der Tö-
tung von al-Ata einen Profilierungsver-
such Netanjahus vermuteten, verteidigte
sein Rivale Benny Gantz die Entscheidung.
Nachdem Netanjahu beim erneuten Ver-
such, eine Koalition zu bilden, gescheitert
war, ist Gantz am Zug. Der Chef des blau-
weißen Bündnisses, das die Wahl Mitte
September knapp gewonnen hatte, hat bis
zum 20. November Zeit. Der Ex-General-
stabschef traf sich am Dienstag zu Beratun-
gen mit Netanjahu. Präsident Reuven Riv-
lin appellierte an die Parteien, sich auf eine
Einheitsregierung zu verständigen. „Es ist
keine Zeit für Zank.“
Die israelische Armee wolle keine Eska-
lation, sei aber darauf vorbereitet, versi-
cherte Generalstabschef Aviv Kochavi. Bis
zum Nachmittag wurden mehrere Ziele
des Islamischen Dschihad im Gazastreifen
bombardiert. Auch im Gazastreifen blie-
ben Schulen geschlossen. Nach palästinen-
sischen Angaben wurden insgesamt vier
Menschen getötet und 25 verletzt. Laut is-
raelischer Armee wurden zwei Anhänger
des Islamischen Dschihad unter Beschuss
genommen, als diese Raketen abfeuerten
- einer soll getötet worden sein.
Die israelische Armee appellierte an die
regierende Hamas, keinen größeren Kon-
flikt zu suchen. Die radikalislamische
Gruppe, die den Gazastreifen kontrolliert,
erklärte, Israel sei verantwortlich für „alle
Konsequenzen dieser Eskalation“. Der Tod
von al-Ata werde nicht ungestraft bleiben.
Die Hamas wird wegen ihres seit Mai an-
dauernden Waffenstillstandes vom Islami-
schen Dschihad unter Druck gesetzt. Die
zweitgrößte Gruppe im Gazastreifen, die
vom Iran unterstützt wird, feuerte in den
vergangenen Monaten immer wieder ein-
zelne Raketen auf Israel.
Der Islamische Dschihad sprach von ei-
ner „Kriegserklärung“. Netanjahu habe „al-
le roten Linien überschritten“. Die militan-
te Organisation verwies darauf, dass es
zwei koordinierte Angriffe gegeben habe.
Laut Berichten syrischer Medien wurde
am Dienstagmorgen das Haus eines Anfüh-
rers des Islamischen Dschihad in Damas-
kus von israelischen Raketen getroffen.
Athen – Roter Teppich, Kränze am Grab-
mal des unbekannten Soldaten und Lob-
reden auf das antike Erbe, das ganze
Programm also: Chinas mächtigster Mann
Xi Jinping hat sich drei ganze Tage Zeit für
einen Staatsbesuch in Griechenland ge-
nommen. Und das Land war auch noch das
einzige, das der chinesische Präsident
diesmal in Europa besuchte – auf dem Weg
zu einem Gipfeltreffen der Brics-Staaten
in Brasilien, zu denen neben China und In-
dien auch Russland gehört. Griechenlands
konservativer Premier Kyriakos Mitsota-
kis, erst seit Juli im Amt, weiß, warum er Xi
hofiert; sein linker Vorgänger Alexis Tsi-
pras hat es genauso gemacht.
Denn China hat auch während der Fi-
nanzkrise in das hochverschuldete Grie-
chenland investiert, in seine marode Infra-
struktur und sogar in griechische Staatsan-
leihen. „Sie kamen, als andere wegblie-
ben“, sagte Außenminister Nikos Dendias
einem griechischen Radiosender. Athen
bedankte sich für dieses Engagement
schon in der Vergangenheit mit politischer
Rücksichtnahme. Im Juni 2017, als Tsipras
regierte, verweigerte Griechenland einer
chinakritischen Stellungnahme der EU-
Staaten im UN-Menschenrechtsrat die
Zustimmung. Ein Jahr davor hatte der chi-
nesische Staatskonzern Cosco 51 Prozent
des Hafens von Piräus bei Athen erworben,
mit der Zusage für zusätzliche 16 Prozent,
wenn weiter investiert wird. Schon 2009
hatte der Logistikkonzern Cosco zwei Con-
tainerterminals in Piräus für 35 Jahre ge-
pachtet und mit viel Geld modernisiert.
Griechenlands Gläubiger hatten in den
Jahren der Krise die Privatisierung von
Staatsbesitz zur Bedingung für EU-Hilfs-
kredite gemacht, auch Deutschland dräng-
te darauf. Nun will China mit Investitionen
von weiteren 600 Millionen Euro in Piräus
Hamburg und Bremerhaven überholen
und das griechische Containerdrehkreuz
hinter Rotterdam und Antwerpen zum
drittgrößten Hafen in Europa machen. Mit-
sotakis schwärmte, Piräus könnte auch
„Nummer eins“ in Europa werden.
Allerdings stoppten zwei Anliegerge-
meinden im Oktober einen Teil der Ausbau-
pläne. Cosco zeigte sich davon nach der bis-
herigen Vorzugsbehandlung überrascht.
Das Athener Schifffahrtsministerium er-
klärte danach, man sei auf der Suche nach
einem Kompromiss mit den lokalen
Interessen und rechne lediglich mit einer
Verzögerung des Projekts. Vor allem die Be-
sitzer kleinerer Werften hatten gegen die
Konkurrenz von Cosco mobil gemacht.
Piräus ist der erste Tiefseehafen, den
Schiffe aus Asien im östlichen Mittelmeer
erreichen, und zentrale Station auf der von
Peking propagierten „Neuen Seidenstra-
ße“, bestehend aus Schiffs- und Bahnver-
bindungen von Asien nach Europa, Athen
ist der Initiative Pekings beigetreten. Chi-
na investiert Milliarden in sein globales In-
frastrukturprojekt. Für Griechenland soll
davon nun noch mehr abfallen. 16 Handels-
vereinbarungen wurden in Athen unter-
zeichnet. Es geht dabei um den Export von
Kiwis nach China, den Handel mit Safran
und bedeutender: um Filialen zweier chine-
sischer Banken in Athen, Pekings Interes-
se am Bau einer Unterwasserstromleitung
vom Festland zur Insel Kreta, die Zusam-
menarbeit von Universitäten und von
Medien beider Länder sowie um die Aus-
lieferung „gesuchter Personen“.
Xi und Mitsotakis unterschrieben zu-
dem ein Memorandum, in dem beide Sei-
ten zusagen, „alle Hindernisse“ für den
Hafenausbau von Piräus zu überwinden.
Cosco plant dort auch ein größeres Termi-
nal für Kreuzfahrtschiffe. Chinesische Tou-
risten seien gerade dabei, diese Form des
Reisens zu entdecken. „Sie sind ganz ver-
rückt nach Santorin“, sagte ein Sprecher
der Hafenverwaltung der Süddeutschen
Zeitung. Cosco will zudem mehrere neue
Luxushotels in Hafennähe bauen.
Interesse hat Peking auch am Energie-
sektor in Griechenland. An Windparks und
Solarfeldern sind chinesische Firmen be-
reits beteiligt. Mitsotakis war erst in der
vergangenen Woche mit einer großen
Unternehmerdelegation in Shanghai, wo
Griechenland Gastland der diesjährigen in-
ternationalen Wirtschaftsmesse war.
2013 schuf Athen das „Goldene Visum“,
wer für 250000 Euro eine Immobilie in
Griechenland erwirbt, bekommt fünf Jah-
re Aufenthaltsrecht – im Schengen-Raum.
Über 5000 Chinesen hätten davon bereits
profitiert, schriebChina Dailyjetzt. EU-
Kritik an diesem Programm hatte Athen
jüngst mit dem Hinweis zurückgewiesen,
Griechenland brauche schließlich Geld,
um seine Kredite zu bedienen.
Zum Abschluss seines Besuchs ließ sich
Xi am Dienstag das Akropolismuseum zei-
gen. Dort sind auch Kopien jener Teile des
Parthenonfrieses ausgestellt, deren Origi-
nale sich in London befinden. Griechen-
land verlangt seit Langem ihre Rückkehr
und bekam dafür nun Unterstützung von
Xi, der ebenfalls die Rückführung chinesi-
scher Kunstwerke aus Europa nach China
forderte. christiane schlötzer
Heftiger Beschuss aus Gaza
Nach der gezielten Tötung eines Kommandeurs überzieht die Gruppe „Islamischer Dschihad“ Israel mit einem
Raketenhagel. In dieser Krisensituation zeigen sich sogar die größten politische Kontrahenten des Landes einig
London – Es kommt nicht oft vor, dass Ni-
gel Farage sich verteidigen muss. Die meis-
te Zeit verbringt der Chef der Brexit-Partei
schließlich liebend gerne damit, andere
vor sich herzutreiben. Doch am Tag nach
seiner überraschenden Kehrtwende stand
er selbst unter massivem Rechtfertigungs-
druck. In einem Interview mit der BBC sah
Farage sich am Dienstag sogar genötigt, ei-
nes klarzustellen: „Ich bin nicht käuflich.“
Weder Boris Johnson noch Donald Trump
hätten ihm etwas für seinen Wahlpakt mit
den Tories versprochen, erklärte er. Das
seien alles „wilde Verschwörungstheo-
rien“. Es sei allein seine Entscheidung ge-
wesen, dass sich die Brexit-Partei bei der
Parlamentswahl am 12. Dezember nicht
um die 317 Mandate bewerben werde, die
zuletzt von der Konservativen Partei ge-
wonnen wurden. Eine Gegenleistung der
Tories habe es dafür nicht gegeben, erklär-
te Farage sichtlich aufgebracht.
In einem Gastbeitrag für denTelegraph
begründete der Brexit-Partei-Chef seinen
Sinneswandel damit, dass er am Sonntag-
abend ein Video von Johnson auf Twitter
gesehen habe. Darin erklärte der Premier-
minister, dass er einen „Super Kanada
Plus“-Freihandelsvertrag mit der EU wol-
le. Dies sei eine „große Veränderung“ zur
bisherigen Tory-Politik gewesen, schrieb
Farage, schließlich hätten die Konservati-
ven vor allem unter Johnsons Vorgängerin
Theresa May auf eine „enge und spezielle
Partnerschaft“ mit Brüssel hingearbeitet.
Er verfüge zwar über „keine große Liebe
zu den Tories“, erklärte der Brexit-Partei-
Chef, aber in seiner Unterstützung für
Johnson liege die Chance, ein zweites Refe-
rendum zu verhindern. Er wolle sich des-
halb voll und ganz auf all jene Wahlkreise
konzentrieren, die im Parlament bislang
von Labour und pro-europäischen Partei-
en vertreten werden, schrieb Farage.
Doch genau das ist auch für die Tories
ein Problem. Denn für die Konservativen
reicht es nicht, nur ihre bei der letzten
Wahl errungenen Wahlkreise zu verteidi-
gen. Sie müssen vor allem dort gewinnen,
wo Labour-Abgeordnete sich ein Kopf-an-
Kopf-Rennen mit ihren konservativen Her-
ausforderern liefern. Vor allem im Nordos-
ten Englands und den West Midlands um
Birmingham hoffen die Tories darauf,
neue Wahlkreise für sich zu erobern. Nur:
Wenn dort auch Farages Partei antritt,
dürften sich die Stimmen der brexitbegeis-
terten Wähler zwischen Tories und Brexit-
Partei aufteilen. Deshalb dringt Downing
Street darauf, dass Farage auch in weite-
ren Wahlkreisen einen Rückzieher macht,
um einen Sieg von Tory-Kandidaten nicht
zu gefährden. Die Warnung aus dem John-
son-Lager war am Dienstag jedenfalls
nicht zu überhören: Sollte es nach der Wahl
keine Mehrheit für den Brexit-Vertrag des
Premiers im Parlament geben, wäre Fara-
ge schuld daran.
Labour-Chef Jeremy Corbyn sieht in der
Zusammenarbeit zwischen Tories und der
Brexit-Partei nichts weiter als die Umset-
zung von Trumps Forderungen. „Vor einer
Woche sagte Donald Trump zu Nigel Fara-
ge, er solle einen Pakt mit Boris Johnson
schließen“, schrieb Corbyn auf Twitter.
Und fügte hinzu: „Trump hat seinen
Wunsch erfüllt bekommen.“ Der US-Präsi-
dent hatte sich Ende Oktober in einer Ra-
diosendung von Farage interviewen las-
sen. Trump äußerte sich damals zwar kri-
tisch zu Johnsons Brexit-Abkommen, riet
Farage aber, mit dem Premierminister zu-
sammenzuarbeiten. Gemeinsam seien die
beiden eine „unaufhaltbare Kraft“, erklär-
te Trump. Seitdem beteuert der Chef der
Brexit-Partei, dass er nicht mehr mit dem
US-Präsidenten gesprochen habe.
Ob es nach Farages Manöver nun zu ei-
ner Zusammenarbeit zwischen Labour
und Liberaldemokraten kommt, blieb in-
des weiter offen. In London wurde darüber
spekuliert, dass sich beide Parteien doch
noch zu einem Pakt entschließen könnten.
So gibt es viele Wahlkreise, in denen ein
Libdem-Kandidat zugunsten eines Labour-
Bewerbers zurückstecken könnte – und
umgekehrt. Doch weil Labour in vielen Tei-
len des Landes mit dem klaren Anti-Brexit-
Kurs der Libdems hadert, dürfte eine derar-
tige Absprache nur schwer zu verwirkli-
chen sein. Während die Liberaldemokra-
ten weiter dafür kämpfen, dass Großbri-
tannien in der Europäischen Union bleibt,
will Labour zuerst einen Vertrag mit Brüs-
sel aushandeln. Die Bürger sollen dann
erst darüber abstimmen, ob sie dieses Ab-
kommen gutheißen oder lieber in der EU
bleiben wollen. alexander mühlauer
New York – Im Grunde ist es ein Wunder,
dass sich Donald Trump seines Anwalts Ru-
dy Giuliani nicht längst entledigt hat. Der
amerikanische Präsident fordert von sei-
nen Mitarbeitern totale Loyalität, ist aber
selbst konsequent illoyal. An diesem Mitt-
woch beginnen die US-Demokraten mit
den ersten öffentlichen Anhörungen im
Amtsenthebungsverfahren gegen Trump,
und da dürften Giulianis Aktivitäten eine
ganz besondere Rolle spielen.
Trumps Hang zur Illoyalität gegenüber
seinen engsten Mitarbeitern ist in Wa-
shington legendär. Sobald der Präsident
den Eindruck hat, dass ihm jemand nicht
mehr nutzen oder gar schaden könnte,
wendet er sich ab. Mehr noch: Er wendet
sich in der Regel sogar gegen die betroffe-
ne Person und behauptet, sie kaum ge-
kannt zu haben.
Bestes Beispiel dafür ist Michael Cohen,
der ebenfalls eine Weile als Trumps An-
walt fungierte und Schweigegeldzahlun-
gen an eine Pornodarstellerin organisierte,
mit der Trump angeblich nach der Geburt
seines jüngsten Sohnes im Jahr 2006 Sex
hatte. Cohen fiel Anfang 2018 in Ungnade,
nachdem er jahrelang als Trumps „Fixer“
gearbeitet hatte, als der Mann, der die Din-
ge für den Chef regelte. Er war ins Visier
der Behörden geraten, unter anderem we-
gen ebenjener Schweigegeldzahlungen –
Trump ließ ihn fallen. Das lag laut US-Me-
dien auch daran, dass der Präsident einen
neuen Berater gefunden hatte: Giuliani.
Die Präsidentschaft Trumps ist ohnehin
lärmig und laut, aber Giuliani hat die Laut-
stärke noch einmal auf bemerkenswerte
Weise erhöht. Mitte September hatte er ei-
nen TV-Auftritt, bei dem er den Moderator
scharf attackierte. Giuliani wirkte, gelinde
gesagt, nicht ganz ausgeglichen. Innerhalb
einer Minute gelang es ihm, strikt zu ver-
neinen, dass er jemals im Auftrag des Präsi-
denten in der Ukraine aktiv war, und dann
doch vehement zu bejahen, dass er im Auf-
trag des Präsidenten in der Ukraine aktiv
war. Wenige Tage später beschied er ei-
nem Radiomoderator schreiend, dass die-
ser ein „Schwachkopf“ sei, der „die Klappe
halten“ solle. Im Oktober konnte ein NBC-
Reporter unerwartet mithören, wie Giulia-
ni einer unbekannten Person sagte, er
brauche mehr Geld, ein paar Hunderttau-
send Dollar. Dazu gebe es Möglichkeiten in
der Türkei und in Bahrain. Offenbar hatte
Giuliani sein Mobiltelefon in der Hosenta-
sche getragen und den NBC-Reporter unge-
wollt angerufen: ein „pocket dial“, ein Ho-
sentaschenanruf also.
Trump hatte Giuliani im April 2018 an-
geheuert, als Teil des Teams, das ihn vor
den Ermittlungen des Sonderermittlers
Robert Mueller schützen sollte. Dieser un-
tersuchte, inwieweit Russland Einfluss auf
den Wahlkampf 2016 genommen hatte
und ob Trumps Team sich das zunutze
machte und später diesbezügliche Ermitt-
lungen behinderte.
Von Beginn an verteidigte Giuliani den
Präsidenten vehement. Er trat fortwäh-
rend im Fernsehen auf, wobei es schon da-
mals so schien, als sei er nicht sehr ausge-
glichen oder wirklich tief im Thema. Er
ließ zum Beispiel verlauten, dass Trump
dem erwähnten vormaligen Anwalt Cohen
die Schweigegeldzahlung an die Pornodar-
stellerin erstattet habe, obwohl der Präsi-
dent zuvor gesagt hatte, von der Zahlung
nicht einmal gewusst zu haben. Giuliani
sagte zudem, Trump habe den vormaligen
FBI-Chef James Comey gefeuert, weil die-
ser dem Präsidenten nicht zusichern woll-
te, dass in Sachen russische Einmischung
nicht gegen ihn ermittelt werde. Das galt in
Washington als ebenso neue wie erstaunli-
che Darstellung der Vorgänge. Trump in-
des reagierte untypisch gelassen: „Rudy
ist ein Supertyp, aber er hat gerade erst an-
gefangen in dem Job. Er arbeitet hart. Er
wird bald die richtigen Fakten kennen.“
Die Frage, welche die richtigen Fakten
sind, hängt im Impeachment-Verfahren
wesentlich mit Giulianis Aktivität in der
Ukraine zusammen. Die Demokraten sind
der Ansicht, dass er dort eine Art alternati-
ve Außenpolitik betrieben habe, mit dem
Ziel, den ukrainischen Präsidenten Wolodi-
mir Selenskij dazu zu bewegen, offiziell
Ermittlungen gegen Hunter Biden aufzu-
nehmen. Dieser hatte im Aufsichtsrat ei-
nes ukrainischen Energiekonzerns geses-
sen, während sein Vater Joe Biden Vizeprä-
sident der USA war.
Giulianis Rolle in der Ukraine ist un-
durchsichtig. Dokumentiert ist jedoch,
dass er Mittelsmänner beschäftigte, um
die ukrainische Regierung dazu zu bewe-
gen, in Trumps Sinne zu handeln, sprich:
offiziell gegen die Bidens ermitteln zu las-
sen. Joe Biden könnte in der Präsident-
schaftswahl 2020 gegen Trump antreten.
Die Demokraten argumentieren daher,
Trump habe sein Amt missbraucht, um
sich einen Vorteil gegenüber einem poten-
ziellen Rivalen zu verschaffen.
Zwei von Giulianis Mittelsmännern
sind kürzlich in Washington festgenom-
men worden, unter anderem wegen des
Vorwurfs der Veruntreuung von Wahl-
kampfgeldern. Beide Männer haben, wohl
durch Giulianis Vermittlung, auch Trump
getroffen, es gibt gemeinsame Fotos.
Normalerweise würde Trump sich von
einem Mitarbeiter trennen, der nicht nur
negative Schlagzeilen, sondern auch Pro-
bleme verursacht. Im Fall von Giuliani sag-
te er dem MagazinTimekürzlich: „Rudy ist
ein großer Kämpfer gegen das Verbrechen.
Er ist ein guter Mann.“ Giuliani selbst
scheint sich seiner Sache ebenfalls gewiss
zu sein. „Er steht zu 100 Prozent zu mir“,
sagte er über Trump, „so wie ich zum ihm
stehe.“ christian zaschke
In Athen unterstütz-
te Xi Jinping(FOTO: REU-
TERS)die griechische
Forderung nach ei-
ner Rückgabe von
antiken Gütern – sie
deckt sich mit dem
Anliegen Chinas, das
ebenfalls Kunstgüter
zurückfordert.
Nicht alle Raketen aus Gaza wurden vom „Iron Dome“-System abgefangen. Dieses Haus in der Stadt Netivot wurde getroffen. FOTO: MENAHEM KAHANA/AFP
DEFGH Nr. 262, Mittwoch, 13. November 2019 (^) POLITIK 7
Farage in einer
ungewohnten Rolle
Brexit-Partei-Chef unter Druck
nach Arrangement mit den Tories
Helfer mit
Hintergedanken
Griechen danken Chinesen mit
Wohlverhalten für Investitionen
Der Mann fürs ganz Grobe
Donald Trumps polterndem Anwalt Rudy Giuliani könnte im Amtsenthebungsverfahren eine Schlüsselrolle zukommen
Will im Wahlkampf vor allem gegen La-
bour austeilen: Nigel Farage. FOTO: GETTY
Bisher passte kein Blatt Papier zwischen ihn und Donald Trump, aber das könnte
sich nun ändern: Rudy Giuliani, Anwalt des US-Präsidenten. FOTO: CHARLES KRUPA / AP
Premier Netanjahu bezeichnet den
getöteten Kommandeur
als „tickende Zeitbombe“
Trump befiehlt, Farage liefert,
sagt der Labour-Vorsitzende
„Die Chinesen kamen,
als andere wegblieben.“
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