Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


26 SACHBÜCHER


InHitlers Todeslagern


Drei Journalisten beleuchten erst mals das Schicksal der Schweizer KZ-Häftlinge


MarcTribelhorn· Im November 1938 reist
Albert Mülli, 22-jähriger Zürcher Sanitär-
monteur, mit dem Nachtzug nachWien.
Dort gerät er in dieFänge der Gestapo,
weil er alsKurier politische Flugblätter
geschmuggelt hat,kommt in Haft und lan-
det schliesslich im KZDachau. Erst im
Frühling1945 wird er von US-Truppen
befreit. Als er zurück in der Heimat ist,
fordern die Schweizer Behörden von dem
traumatisierten Mann, die Militärsteuer
für die letzten sechsJahre nachzuzahlen.
Die Geschichte von Albert Mülli ist
nur ein Beispiel für Schweizer, die Op-
fer des nationalsozialistischenTerrors
wurden und deren Leid nie anerkannt
worden ist. In den KZ waren sie Num-
mern, im Bundesarchiv allenfalls Ent-
schädigungsfälle.In einem neuen Buch
sollen sie «wieder zu Menschen wer-
den», wie die dreiAutoren schreiben.
Die JournalistenBalz Spörri, René
Staubli und BennoTuchschmid haben
während vierJahren im In- undAus-
land zu diesen «vergessenen Opfern
des DrittenReichs»recherchiert,Tau-
sende von Dokumenten ausgewertet
sowie mit Nachfahren gesprochen –
eine beschwerliche, höchst bedeutsame

Arbeit. Erstmals liegen nun belegbare
Opferzahlen vor: 391 Männer, Frauen
undJugendliche, die bei ihrerVerhaf-
tung oder zu einem früheren Zeitpunkt
die Schweizer Staatsbürgerschaft besas-
sen, waren in KZ inhaftiert. Die aller-
meisten wurden im besetztenFrankreich
festgenommen, weil sie jüdisch waren
oder ihnen «regimefeindlichesVerhal-
ten», «Beziehung zumWiderstand» und
Ähnliches vorgeworfen wurde. 201 von
ihnen überstanden dieTorturen nicht.
Dazu kamen 328Inhaftierte, die in der
Schweiz geboren wurden, aber nie das
Bürgerrecht besassen: 255 von ihnen
starben in denKZ.Weitere Opfer wird
es gegeben haben, deren Spuren waren
aber bisher unauffindbar.
DieAutoren zeichnen nach, wie sich
dieLager allmählich vonFolterstätten
zu Tötungsmaschinerien wandelten.
Und sie schildern, wie Bundesbernauf
dieFestnahmen und Deportationen von
Landsleutenreagierte.Die Schweizer
Behörden unterschätzten dieRepres-
sion in den KZ lange massiv und inter-
venierten nur im Einzelfall. Kriminelle,
Behinderte, Kommunisten, Homosexu-
elle oder «Asoziale», aber auchJuden

galten als Schweizer zweiter Klasse, die
man nicht zwingendzurückhaben wollte.
Das Fazit des Buchs ist unmissverständ-
lich: «Die Schweiz hätte viel mehr für
die KZ-Häftlinge tunkönnen, als sie es
effektiv tat.» Sie habe es aus mangeln-
dem Interesse an den Opfern unterlas-
sen sowie aus Angst, die Nazis zu ver-
ärgern.Dass damals vorhandene Hand-
lungsspielräume nicht genutzt wurden,
ist das eine.Der Umgang mit dem erlit-
tenen Unrecht nach dem Krieg das an-
dere: Die Opfer wurden von den Behör-
den, die sich fehlerlos gaben, alleingelas-
sen und erstJahre später mit etwas Geld
abgefunden. Ihr Schicksal geriet bald in
Vergessenheit.Das Buch ist nun Memo-
rial und Mahnung zugleich, aber auch
eineAufforderung, weiter zu forschen.

Wie die liberale


Ordnun g überle bt


Nüchterne Vorschläge für zukunftsfähige Reformen


Markus Ziener·AnBetrachtungen
über den unaufhaltsamen Niedergang
der liberalen Ordnung leidet die Publi-
zistikkeinen Mangel. Mit dem massier-
tenAuftreten vondisruptiven und auto-
kratischen Staatslenkern existiert indes
dazu auch genügendAnlass.
In dieser aufgeheizten Stimmung tut
Nüchternheitgut. Einen solchunauf-
geregten Blick liefertThomas Kleine-
Brockhoff mit seinem Buch. DerAutor,
langeJournalist, dann der Chef des Pla-
nungsstabs vonBundespräsident Gauck
und heute der Direktor des German
MarshallFunds, glaubt nicht nur an die
Widerstandskräfte desWestens. Er misst
der liberalen Ordnung auch eine Zu-
kunft zu – sofern sich diesereformiert.
Ein solcher «robuster Liberalismus», wie
er ihn nennt, darf indes dreierlei nicht
tun: Er darf sich nicht überdehnen, nicht
in demokratischem Bekehrungseifer als
Weltbeglücker auftreten, und er muss
sich in seinen Zielenreduzieren. Dies
illustriert derAutor an Beispielen: Die
offene Migrationspolitik von Angela


Merkel etwa stehtbei ihm für die libe-
rale Überdehnung, füreinen Idealismus,
der sich an derRealität brach.Wann dies
geschah? Als sie andereRegierungs-
chefs überzeugen wollte, ihrerPolitik zu
folgen. Humanitäremilitärische Inter-
ventionen wie etwa in Libyen illustrie-
ren einen falsch verstandenen Bekeh-
rungseifer.Das Buch besticht durch
nüchterne Analyse.Es setztFakten an
die Stelle, wo andere das grosseWelten-
beben ausmachen. Und es zeigt einen
Weg auf, der der liberalen Ordnung noch
ein langes Leben bescherenkönnte. Er
könnte in der simplen Erkenntnis be-
stehen:Weniger ist mehr.

Balz Spörri, René
Staubli, BennoTuch-
schmid: Die Schweizer
KZ-Häftlinge.Vergessene
Opfer des DrittenReiches.
Verlag NZZ Libro,Basel


  1. 320 S., Fr. 48.–.


Thomas
Kleine-Brockhoff:
Die Welt braucht
den Westen.Neustart
für eine liberale Ordnung.
Edition Körber, Hamburg


  1. 208 S., Fr. 28.90.


Vernimmt man den NamenTheodor
W.Adorno, denkt man an einen fein-
sinnigen Autor, dessen bevorzugter
Aufenthaltsort der Elfenbeinturm war.
In diesem Abseits hat er enigmatisch
geschriebene, dem Leser alleKonzen-
tration abnötigende Bücher verfasst.
AberAdorno ist mehr als derAutor der
«Negativen Dialektik». Er war auch ein
Philosoph, der sich in der politischen
und kulturellen Öffentlichkeit enga-
gierte und nachResonanz strebte.Das
zeigte sich, alsAdorno nach fünfzehn
Jahren der Emigration1949 insLand
der Täter zurückkehrte. Er wollte dazu
beitragen,dass die monströse Schuld
der Deutschen nicht,wie er anThomas
Mann schrieb, «insWesenlose zerrinne».
Das anschaulichste Beispiel fürden
öffentlichen IntellektuellenAdorno ist
der zum 50.Todesjahr bei Suhrkamp er-
schienene Band«Vorträge1949–1968».
DieseNeuveröffentlichung,sorgfältig
ediert und aufschlussreichkommentiert
von Michael Schwarz, enthält zwanzig
Vorträge, die zeigen, dassAdorno mehr
war als der Philosoph einer negativen
Ontologie. Er wollte, wie er selbst sagte,
etwas «herüberbringen». Als Motto für
dieses Programmkönnte eine Bemer-
kung stehen, die alleVorträge charakte-
risiert: «Ich möchteIhnen ein bisschen
dabei helfen, dass Sie sich nicht bange
machen lassen.»


Meisterder freien Rede


AlsVortragender so gut wie freiredend,
kam er auf so verschiedeneThemen zu
sprechen wie die Probleme des Städte-
baus im zerstörten Deutschland oder
die Aktualität der Soziologie im geis-
tig desaströsen Land. Oder er ging
auf musiktheoretischeFragen ein wie
dieKompositionstechnik von Richard
St rauss oder dieFormprinzipien zeit-
genössischer Musik. Oder er themati-
sierte dasVerhältnis von Individuum
und Gesellschaft, von europäischerKul-
tur und amerikanischer Culture.
Er war sich auch nicht zu schade,
den Glauben an die Astrologie zu kriti-
sieren. Und legte besonderenWert dar-
auf, seine Deutungen der autoritären
PersönlichkeitunddenRechtsradika-
lismus und Antisemitismus bekannt zu
machen. Die durchaus locker gespro-
chenen, leicht nachvollziehbarenAus-
führungenlegen Zeugnis davon ab, dass
Adorno tatsächlichals Exponent einer
zweiten, einer intellektuellen Gründung
der Bundesrepublik gewirkt hat.
Diese beachtliche Wirkung geht
Hand in Hand mit einem Imperativ, den
er als Sozialtheoretiker aufgestellt und
sich in seiner intellektuellen Praxis zu
eigen gemacht hatte: der«Wendung aufs
Subjekt», einem Imperativ, den er in sei-
nenVorträgen denn auch mehrfach ins
Spiel bringt: «Ich glaube also, dass die
Arbeit, die hier zu leisten ist, viel mehr
am Subjekt anzusetzen hat, das heisst,


Ein Meisterdenker

betreibt öffentliche

Aufklärung

1949 kehrte Theodor W. Adorno nach Deutschland


zurück und begann eine rege Vortragstäti gkeit.


Seine Referate ze igen Adorno als Exponenten


einer zweiten, intellektuellen Gründung der


Bundesrepubl ik.Von Stefan Müller-Doohm


dass eigentlich alles darauf ankommt,
dass wir, und zwar schon in den frühen
Phasender infantilenEntwicklung, es
lernen, die Menschen so frei zu machen
und gleichzeitig so in sich zu kräftigen,
dass sie fähig werden, überhaupt spezi-
fische Erfahrungen zu machen.»
DassAdornosWirkung ein halbes
Jahrhundert nach seinemTod noch
immer anhält, ist ein auffälliges Phäno-
men. Gegenwärtig ist ein über die deut-
schen Sprachgrenzen hinausgehender
Adorno-Hype feststellbar. Und dass
AdornosThesenkeinen Staub ange-
setzt haben, zeigt sich vor allem in den
Vorträgen zur autoritärenPersönlich-
keit und zumRechtsradikalismus. Es
verblüfftund inspiriert, dass seine Ana-
lyse nach wie vor einen tauglichen Er-
klärungsansatz bietet für das, was heute
wieder für Entsetzen sorgt:rechter
Populismus und politischerRechtsradi-
kalismus, verbunden mit aggressivem
Antisemitismus.
FürAdorno ist der autoritätsge-
bundene Charakter «eine Art von ab-
gekürzter Anpassung an dieautori-
tär eingerichteteWelt». Deshalb habe
derAutoritäre «dieTendenz, zweiwer-
tig zu denken, also dieWelt aufzuteilen,
schlicht gesagt, in Schafe und Böcke».
Neben demFreund-Feind-Denken hebt
Adorno die paranoide Struktur bezie-
hungsweise die Projektivität als Grund-
mechanismus des autoritären Charak-
ters hervor. Zugleich warnt er mit Blick
auf seine zurückliegenden amerikani-
schenForschungen zur «Authoritarian
Personality» davor, autoritäreReak-
tionsmuster primär sozialpsychologisch
zu erklären.
Wichtiger sind für «die Aktualisie-
rung von autoritärenTendenzen objek-
tive politische und ökonomische Ge-
gebenheiten». Adorno machtklar, dass
das autoritäreSyndrom, verbunden mit
der Empfänglichkeit für rechtsradi-
kale Ideologien,Ausdruck einer neuen
anthropologischenFormation ist. Die
autoritätsgebundenePersönlichkeit ist
ihrerseits Zeichen für das «Misslingen
der Individuation», bedingtzum einen
durch die zunehmenden Zwänge zur
«Integration des Individuums in die ge-
sellschaftlicheTotalität» und zum ande-
ren dadurch,dass«die Zivilisation ihren
vermeintlichen Nutzniessern immer
mehr Opfer abverlangt».

Vom richtigen Leben


Sosehr sich der Sprachstil derVorträge
vom Duktus ausformulierter Texte
Adornos unterscheidet, die Grundmelo-
die desBandes ist die, die er als Expo-
nent der kritischenTheorie der Gesell-
schaft über dieJahrzehnte geschaffen
hat. Der normative Fluchtpunkt ist die
richtige Gestaltung der Gesellschaft; sie
sei Bedingung für das Überleben der
Menschheit: «Jegrösser dasReservoir
der Menschen wird, die diesen Preis des

Fortschritts zu bezahlen haben, umso
mehr wächst natürlich auch dasReser-
voir desRessentiments und das Unbe-
hagen amFortschritt an und umso mehr
dann auch jene Kräfte, die schliess-
lich bereit sind, denFortschritt in die
Bahn der puren Zerstörung zu lenken.»
Haben die Aktivisten von Extinction
Rebellion das gelesen?
WennAdornoVorstellungen einer
vernünftig eingerichteten Gesellschaft
anklingen lässt, dann hält er einer Phi-
losophie dieTr eue, die er als Lehre vom
richtigen Leben versteht.Das Richtige
hat seinen Kristallisationspunkt im Be-
griff des Glücks,dessenMöglichkeit er
in demVortrag entfaltet, den er 1953
aus Anlass des Erscheinens des ersten
Bands der deutschen Übersetzung von
Marcel ProustsRoman «Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit» gehalten hat.
Er beginnt mit einemPaukenschlag: Es
könne scheinen, dass das «Dritte Reich»
erfunden worden sei, um denReichtum
individueller Erfahrungen, den dieser
Roman verkörpere,zu zerstören. Die
geschilderten Erfahrungen seien solche,
«die man als Kind hat und dieeinem
vom Leben sonst eigentlich ausgetrie-
ben werden».
Natürlich sind derVortragsform auch
retardierende Momente eigen. So unter-
brichtAdorno seine Gedankengänge
sehr oft mit einem rhetorischen «nun»,
um etwas zusammenzufassen oder um
neu anzusetzen. Einige vonAdornos
Diagnosen, über deren historische Be-
dingtheit er sich absolut im Klaren war,
sind heute obsolet oder zumindest um-
stritten.Wenn er etwa die Gesellschaft
al s «Riesenfabrik zurAusbeutung und
Beherrschung der Natur» beschreibt,
gehtdas nur durch, wenn man sich auf
seine Methode bewusster Übertrei-
bung einlässt. Sie hatte für ihn eine auf-
klärendeFunktion – und sei es nur die,
Widerspruch zu provozieren.
Adornos Praxis derAufklärung zielt
darauf ab,den normativen Gehalt der
demokratischenVerfassung öffentlich
zu thematisieren. Für sein Demokra-
tieverständnis war die Idee aufgeklär-
ten und vernunftorientierten Handelns
grundlegend.Rückblickend gesehen, be-
ru htseine bis heute anhaltendeWirkung
als öffentlicher Intellektueller darauf,
dass er sich als Kritiker der sozialenVer-
hältnisse exponiert hat.Dabei war ihm
Kritik immer auch einean dieÖffent-
lichkeit adressierte intellektuelle Praxis,
die auf die Produktivkraft der Negation
vertraute.

TheodorW. Adorno:
Vorträge 1949–1968.
Herausgegebenvon
Michael Schwarz. Suhr-
kamp-Verlag,Berlin 20 19.
Für Adornowar Philosophie die Lehrevom richtigen Leben. ARCHIV GERSTENBERG/GETTY 786S., Fr. 77.90.
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