Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 ZÜRICH UNDREGION 33


INTERNATIONALE AUSGABE


À LA CARTE


Viel schöner


als Döner


Urs Bühler·Am Eingang dieses Zürcher
Lokals wäre einWarnschild gerecht-
fertigt: Suchtgefahr!Tatsächlich beschert
das «RestoranGül» dem Gaumen der-
art vielWohlgefühl, dass man gleich hier
überwintern möchte. Das Team befreit
türkisches Essen vom hiesigenKebab-
Grill-Klischee, das so beschränkt ist, als
würde man die helvetischeKüche auf
Raclette reduzieren. So wirdseit bald
einemJahr an der urschweizerisch klin-
gendenTellstrasse in einem Innenhof des
Chreis Cheib dieKochkultur vom Bos-
porus hinreissend adaptiert und inter-
pretiert. Dabei spannen Elif Oskan,
dieKöchin undPatissière mit anatoli-
schenWurzeln, sowie ihr Allgäuer Be-
rufskollege und Lebenspartner Markus
Stöckle – gemeinsam haben sie schon das
«Rosi» lanciert – mitdemGastronomen
Valentin Diem zusammen, dem langjäh-
rigenPop-up-König der Stadt.
Das eher schlicht gehaltene Inte-
rieur des knapp hundert Gäste fassen-
den Lokals, das auch im Innenhof einige
Tischchen bietet, lockern einige heime-
ligeKomponenten auf.Allen voran die
offeneKüche, aus der dezente Arbeits-
geräusche in dennicht ganzleisen Ess-
raum entweichen. Ihr Herz ist der Holz-
kohlegrill und -ofen, um denFunken
tanzen, während sich die Ornamentik
derKeramikkacheln in denTattoos des
auffälliggutgelaunt wirkendenKüchen-
personals fortzusetzenscheint.
Der sehr gastfreundliche Kellner
bremst unseren Bestelleifer undrät, vor-
erst nicht mehr als je drei Gerichte zu tei-
len. Das wird uns kaum mehr als 60Fran-
ken proPersonkosten und umfassend ver-
köstigen. Die Kreativität der Crew spie-
gelt sich schon in den Cocktails, die etwa
Raki mit dem hierzulande geläufigenVer-
jus vermählen.Zumköstlichen Hausbrot
Ekmek (Fr. 4.50) begeistern uns in Öl
gebackene Sardellen (Fr. 12.50), die wir
selbst am Meer kaum je besser gegessen
haben.Lattich und Chicorée, grilliert und
abgeschmeckt mit Bergamotte (Fr. 15.–),
haben eine angenehm dezenteRäucher-
note; einzig das fermentierte Gemüse
Tursu (Fr. 5.50) überzeugt nicht ganz im
Vergleich mitPickles anderer Provenienz.
Umso herzhafter ist dasLahmacun
(Fr. 23.–), dünnes Fladenbrot mit einem
Belag auf derBasis vonLammhack-
fleisch, dessen Schärfe bereitstehen-
der Sauerampfer gekonntabfedert. Die
PouletflügeliTavuk Kanadi (Fr.18.–),
in Honig, Joghurt undTomaten mari-
niert und wie alles Fleisch laut Deklara-
tion aus nachhaltigen Schweizer Betrie-
ben stammend, sind zum Niederknien.
Dazu trinken wir kräftigenRotwein aus
Ostanatolien (Fr.8.50 / dl).Den Ab-
schluss bilden eine hausgemachteVer-
veine-Glace (Fr. 6.50) von unvergleich-
lich homogenem Schmelz sowie eine
fabelhaft frischeBaklava(Fr. 16.50) mit
feiner Earl-Grey-Eiscrème.
DasAngebot fügt sich in eineReihe
von Neueröffnungen, die dem Import
fremdländischerKüchen in die Stadt
frisches Leben einhauchen, von vietna-
mesisch bis peruanisch. Selten hat uns
heuer in Zürich ein erschwingliches An-
gebot derart beglückt wie das vielfältige
Spiel des «Gül»-Teams mit Säure und
Süsse,das zu erstaunlich leichten, be-
kömmlichen Ergebnissen führt.
Gault-Millau, um dieAuffrischung des
eigenen Images bemüht, hat das Lokal
jüngst gar in seinenFührer aufgenommen
(14 Punkte).Das mag eine Spur zu hoch
gegriffen sein, leuchtet uns aber noch
eher ein als der Umstand, dass es aufTr ip-
advisor nurRang 21 bei den türkischen
Lokalen undRang 1141 insgesamt belegt.
Dafandenwohl manche, das sei zu teuer
für einenKebabstand.Wir aber nehmen
es als weiteres Indiz dafür,mit wie viel
Vorsicht dieWertungen solcherKunden-
plattformen zu geniessen sind.

Gül, Tellstr. 22, 8004 Zürich.Tel. 044 431 90 90.

Gereizte Stimmung auf den Strassen

Die Stadt Zürich will handeln, weil das Verkehrsklima als sehr schlecht wahrgenommen wird


DANIEL FRITZSCHE


ZwischenLandesmuseum und Haupt-
bahnhof zeigt sich, was im ZürcherVer-
kehr schiefläuft. EinVelofahrer flitzt an
einer stehendenAutokolonne vorbei,
rammt beinahe einenFussgänger, der
über die Strasse huscht. Es wird geflucht,
gehupt – und dazwischen zieht einTr am
quietschend eineVollbremsung. Will-
kommen im hektischenVerkehrsalltag
von Zürich!
Dass es um dasVerkehrsklima in der
Stadt nicht besonders gut bestellt ist, ist
eine gefühlteWahrheit.Die städtische
DienstabteilungVerkehr wollte es nun
genauer wissen. Sie hat über 20 00 Perso-
nen befragt, und dieResultate der nicht
repräsentativen Umfrage sind vernich-
tend: 65 Prozent derTeilnehmerinnen
undTeilnehmer bezeichnen die Stim-
mung auf den Zürcher Strassen immer
oder oft als schlecht.
Vor allemAuto- undVelofahre-
rinnen sind unzufrieden (76 bezie-
hungsweise 77 Prozent).FürWernher
Brucks, LeiterVerkehrssicherheit bei
der Stadt, ist klar: «DieKonflikte spie-
len sich in Zürich hauptsächlich auf
derFahrbahn ab.»Fussgängerinnen
undÖV-Nutzer sind zwar in derTen-
denz auch eher unzufrieden (54 Pro-
zent), aber weniger stark als dieVer-
kehrsteilnehmer mit zweioder vierRä-
dern. Mankönne davon ausgehen,dass
sichdieVelo- und dieAutofahrer häu-
fig gegenseitig in die Querekämen,
sagt Brucks. Dies sei zumindest eine
logische Erklärung.


Knuffige Grossmutter


Am zweitenTag derVerkehrssicher-
heit haben imAuditorium desLandes-
museums rund 200 Experten aus 15
Kantonen und dem nahenAusland über


die Gründe für die miese Stimmung dis-
kutiert undWege zu einer Klimaver-
besserung aufgezeigt. Anderegrössere
Städte haben bekanntlich ähnliche Pro-
bleme. «Wir möchten eineVerhaltens-
änderung erreichen», sagte Brucks. «Das
ist erfahrungsgemäss ein schwieriges
Unterfangen.»
Hilfehat sich die Stadt an spezieller
Stelle geholt, bei Hans-Joachim Mos-
ler. Der Sozialpsychologe war bis anhin
vor allem in Entwicklungsländern tätig
und versuchte dort, in Zusammenarbeit
mit Hilfswerken dasVerhalten vonPer-
sonen zu verändern. So solltebeispiels-
weise das Benutzen von hygienischen
Toiletten in Ghana gefördert werden.
In Zürich empfahl Mosler einen
ähnlichenAnsatz wie imAusland: Zu-
erst müssten die Motive für eine ne-
gativeVerhaltensweise erfasst werden,
dannkönnten sie gezielt angegangen
werden. In der Umfrage wurde deshalb
auch thematisiert, wann die Stimmung
bei denVerkehrsteilnehmer ins Nega-
tive kippt. Der Befund ist klar: 80 Pro-
zentreagieren gehässig, wenn sie unter
Zeitdruck stehen.
Die Stadt versucht, diesem Stress-
faktor mit einer neuen Kampagne
Rechnung zu tragen. Mit «Grosi an
Bord» soll das Klima in der Stadt ge-
lassener, freundlicher und rücksichts-
voller werden. «Sei so unterwegs, wie
wenn dein Grosi dabei wäre», lautet
der Slogan, der bereits seit September

über Plakate verbreitet wird. Erarbeitet
wurde die Kampagne, mit einer knuf-
fig gezeichneten Grossmutter als Mas-
kottchen, zusammen mit zwölf wichti-
genVerkehrsverbänden – vomVCS bis
zumACS.Die Hoffnung ist, dass sich
mit derVerbesserung desVerkehrs-
klimas mittelfristig auch die Sicherheit
auf den Strassen erhöhen wird.
Nun will die Stadt die Erkennt-
nisseaus der Umfrage in ihreGrosi-
Kampagne aufnehmen. Bereits nächste
Woche wird sie an alle 50 00 0 Perso-
nen, die eine Blaue-Zone-Parkkarte
beziehen, Kampagnenunterlagen ver-
schicken.Enthaltensind unterande-
rem Stickers, die sich die Empfänger
zum Beispiel ansAuto heftenkönnen.
«So zeigen sie, dass ihnen dasVerkehrs-
klima in der Stadt nicht egal ist», sagt
Wernher Brucks.Erspricht von einer
«öffentlichen Selbstverpflichtung», die
gemäss wissenschaftlichenErkenntnis-
sen einen nachweislichen Einfluss auf
dasVerhalten habe. Dieskönnedann
wiederum auf andereVerkehrsteilneh-
mer übergreifen. «Im bestenFall ent-
steht eine Art Bewegung.»

Mehr Achtsamkeit


Erreichen möchte die Stadt mit der
Kampagne sowohl «Verkehrsklima-
schützer» als auch«Verkehrsklimasün-
der».Also solche, denen ein anständi-
ger Umgang im Strassenverkehr prin-

zipiell wichtig ist, und solche, die nicht
dazu beitragen. Es gehe auch darum,
einenTeufelskreis zu durchbrechen, sagt
Brucks. Immerhin 40 Prozent der «Sün-
der» geben nämlich an, zukeiner guten
Stimmung beizutragen, weil es andere
auch nicht täten. «Da liegtPotenzial»,
sagt derVerkehrssicherheitsexperte. 52
Prozent von ihnen geben auch an, das
guteVerhalten im Alltag «oft oder gar
immer zu vergessen». Darum soll die
Grosi-Kampagne auch auf der Strasse,
an Leihvelos und Dienstfahrzeugen für
mehrAchtsamkeit werben.

«Verkehrerzogene»Zürcher


Das «Grosi» soll dabei als natürliche,
sympathischeAutorität wahrgenom-
men werden, die in allenKulturkrei-
sen verstanden undrespektiert wird.
Damit geht die Stadt einen anderen
Weg als bei der früheren, eher morali-
sierenden Kampagne unter dem Motto
«Generell freundlich». Der neueVer-
such soll möglichst ohne Zeigefinger
daherkommen.
Ob es etwas bringt?Fakt ist, dass die
Stadt seitJahrzehnten neueVerkehrs-
kampagnen für «Sicherheit durch Höf-
lichkeit» lanciert. Besonders schön war
der Slogan in den1930erJa hren.Inhalt-
lich gilt er immer noch, nur genderneu-
tral müsste er heute wohl formuliert
werden: «Er liebt die Stadt, ist ihrgewo-
gen – der Zürcher ist verkehrerzogen.»

Vorallem unter Zeitdruckwerden die Zürcher zu «Verkehrsklimasündern». CHRISTIAN BEUTLER/KEYSTONE

MehrStaat oder mehrFreiheit?


Der Gemeinderat Zürich verabschiedet einen Bericht zur Zukunft der Ener gieunternehmen – viele Fragen bl eiben offen


DANIEL FRITZSCHE


Das Zürcher Stadtparlament beschäf-
tigt sich in letzter Zeit immer häufiger
mit den ganz grossen globalen Proble-
men: dem Klimawandel oder demKur-
denkonflikt zum Beispiel. DieseWoche
haben die Gemeinderätinnen und -räte
erneut auf derWeltbühne getanzt – auch
wenn fraglich ist, ob sie mitihren wort-
reichenAuftritten imRathaus viel er-
reichen werden. Sobrachte diedomi-
nierenderot-grüne Seite am Mittwoch-
abend eineResolution durch, die die
weltweite nukleareAbrüstung zum Ziel
hat (weil Atomwaffen eine «immense
Bedrohungfür Städte und Gemeinden»
darstellten). Und sie fand eine Mehrheit
für einenVorstoss, mit dem Bootsflücht-
linge leichterin der Stadt ZürichAuf-
nahme erhalten sollen (weil«die dra-


matisch zugespitzte Situation im Mittel-
meer unsere Solidarität erfordert»). Der
Stadtrat soll sich nun beim Bund für die
entsprechenden Anliegenstarkmachen.
Über die grossenThemen wurde
lang und breit diskutiert. Etwasinden
Hintergrund geriet die Debatte über
einFeld, dasdie Stadt in den nächs-
tenJahren tatsächlich hautnah beschäf-
tigen wird:die Zukunft ihrer Energie-
unternehmen,konkret das Elektrizitäts-
werk der Stadt Zürich (EWZ), Entsor-
gung undRecycling Zürich (ERZ) und
Energie 360°. Die ersten beiden sind
als Dienstabteilungen in der Stadtver-
waltung geführt, letztgenanntes ist als
Aktiengesellschaft organisiert. 2 016
wollteder Stadtrat das EWZ ebenfalls
auslagern, scheiterte aber amWider-
willendesParlaments. In derFolge ver-
langte der Gemeinderat auf Anraten

der AL einen Bericht, in dem dargelegt
werden sollte, wie es mit den Akteuren
der Energieversorgung weitergehen soll.
Am Mittwoch wurde die daraus entstan-
dene 80-seitige Abhandlung diskutiert.
«Wir haben hier eine vernünftige
Problemanalyse vor uns», sagte der
zuständige Stadtrat MichaelBaumer
(fdp.),Vorsteher des Departements
der Industriellen Betriebe. Grundsätz-
lich halte er die bestehenden drei Ener-
gieunternehmen der Stadt für gut auf-
gestellt.Auf Grundlage des Berichts
werde man nun aberVor- und Nachteile
des heutigenSystems abwägen. Zum
Beispiel werde man klären, welcheTeile
desAngebots als Service public einzu-
stufen seien und welche eher marktwirt-
schaftlichen Charakter hätten. In etwa
einemJahr willder Stadtrat eine Eigen-
tümerstrategie präsentieren.

DieParteien begrüssten den verfass-
ten Bericht allesamt, wiesen aber auch
darauf hin, dass damit bloss der Start-
schuss für eine grössereReform ge-
geben worden sei. Hierbei gibt es ver-
schiedene Ansichten: Die AL sieht
das Heil zum Beispiel in einer einheit-
lichen Dienstabteilung. Die SP hat noch
keine eindeutige Haltung entwickelt; es
brauche aber sicher wenigerKonkur-
renz unter den Anbietern als heute. Die
rechteRatsseite ist gegenüber weiteren
Auslagerungen traditionell offener. Die
SVP machte auch gleich einenkonkre-
ten Vorschlag. DerBereich der Energie-
dienstleistungen des EWZ soll schnellst-
möglich in eine politisch unabhängige,
privatrechtliche Gesellschaft überführt
werden.Das staatliche EWZ habesich
auf seineKernaufgaben zu beschränken:
Strom produzieren und liefern.
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