Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 REISEN


kommt.Kann ich meine Liebe erklären?
Nein,es sei denn:die Kargheit, der poeti-
sche Zauber der Namen,die Stille–und
die Schafe,die von drei anhänglichen
Eseln vor denWölfen beschützt werden.

Die schönsteTonne der Schweiz


Wer weiss, was man dem Eishockeystür-
mer Robert Sabolic über seinen neuen
Arbeitsort gesagt hat.Was hätte man
ihm auch sagen wollen? Er lag immer-
hin 2000 Kilometer südlich von seiner
bisherigenWirkungsstätte. Das allein
wirdihn überzeugt haben. Nocheinmal
2000 Kilometer weitersüdli ch – und er
wäre mitten in der Sahara gelandet. So
weit im Süden musste es ja auch nicht
gerade sein.
Ambri klang verheissungsvoll
genug für einen, der gerade in der
200000-Einwohner-Stadt Nowgorod

seinem Handwerk nachging. Das zwei
schnelle Autostunden nördlich ge-
legene St.Petersburgkonnte ihm ge-
stoh len bleiben.Vielleicht hatte ihm
Filippo Lombardi,Präsident des HC
Ambri-Piotta, auch gesagt, St.Peters-
burg sei vomTessiner Architekten
DomenicoTrezzini erbautworden, da
käme er doch ohnehin besser gleich zu
ihnen in den Süden.
Ach, RobertSabolic,duwirst dir bei
deiner Ankunft in der Leventina die
Augen gerieben haben. Und kamst du
bei Tageslicht an, wird dich der Schlag
getroffen haben (vielleicht ist es darum
Oktober geworden, bis du dein erstes
Tor für Ambri geschossen hast). Die
Hälfte der Hauseingänge zugemauert,
kein Mensch auf der Strasse, und win-
ters, das meldet ein Zettel an der Kir-
chentüre, wird keine Messe gelesen, um
Heizkosten zu sparen.

Ach, Robert, wird man ihm gesagt
haben:Du steigst insAuto, und in zwei-
mal zehnMinuten liegst du unterPal-
men und in noch einmal zehn Minu-
ten am Strand unterPalmen. Und die
halbierte Blechtonne am oberen Dorf-
rand, ja, da spielen wir Hockey, es ist
die schönste Blechtonne der Schweiz,
leider wird sie bald ersetzt durch ein
neues Stadion, das uns Mario Botta ent-
worfen hat. Und auch wenn unser Dorf
fast ausgestorben ist: UnsereFans sind
die treusten und heissesten imLand und
kommen von überall her.
Ach, Ambri, bevor dieAutobahn ge-
baut wurde, erstickte das Dorf fast an
denAbgasen und lebte gut.Jetzt atmetes
wieder und stirbt trotzdem.Viele Häuser
verfallen, selbst die paar wenigenVillen
schauen verdrossen muffig drein,an einer
Hausfassade erzählt eine fast schamhaft
in einer Nische verborgene Statuette von

einstigem Übermut.Geblieben ist davon
nur dieMelancholieeines Dorfes, das
wenigVergangenheit und noch weniger
Zukunft hat, aber dafür mit umso mehr
Leidenschaft die Gegenwart befeuert: in
einer umgestürzten Blechtonne.

Hier beginnt der Süden


Mit Soglio auf der Bergeller Sonnen-
terrasse ist es wie mitParis.Alle lieben
es, weil es ohne Anstrengung zu lieben
ist.Es isteine Common-Sense-Liebe. Ich
mag das Dorf ja auch,noch mehr frei lich
die Kastanienwälder zu seinenFüssen,
auch Castasegna habe ich ins Herz ge-
schlossen,noch mehr freilich Bondo mit
seiner Kirche und,ja, auchVicosoprano.
Verloren aber habe ich mein Herz wei-
ter oben,gleich nach dem Malojapass.
Das Dorf Casaccia klammert sich
förmlich an diePassstrasse, wo diese in

ih rem Sturzflug meerwärts eine kleine
Verschnaufpause macht, es duckt sich
unter den schroffenFelswänden, die
von allen Seiten über das Dorf hän-
gen. Derweil morgens das halbeVelt-
lin ins Engadin hinauf zur Arbeitrast,
um abends dann wieder in umgekehr-
ter Richtung nach Hause zu donnern.
Und am Dorfeingangdroht eine ver-
blasste Inschrift aus vergangenen Zei-
ten jenen mit einer Busse,die nicht im
Schritttempo fahren.
Ein stattliches Hausmachtsich breit
mitten im Dorf, davor ein grosser um-
friedeter Garten. Schwer zu sagen, ob
es bewohnt ist.Das Dorf selber hat we-
nig Reize, schmucklos ist die kleine Kir-
che, dahinter und hangaufwärts stehen
ein paar neuere Häuser, allesamt be-
wohnt, da und dort auch Kinder, als
sei es nichts Besonderes, hier zu woh-
nen. Und ein gutes Stück vor dem Dorf
trifft man an derPassstrasse auf die Kir-
chenruine San Gaudenzio. Die einstige
Pfarrkirche wurde im18.Jahrhundert
sich selbst überlassen und verfiel seither,
nachdem sie bereits Mitte des16.Jahr-
hunderts in denReformationswirren
von einem wütenden Mob geplündert
und profaniert worden war.
Nun wacht die Ruine über dem
Dorf als doppeltes Mahnmal. Es erin-
nert daran, wie ein unfassbarer Groll
die Menschen einst so sehr gegen den
Klerus aufbringenkonnte, dass sie das
eigene Gotteshaus verwüsteten, und
es zeugt zugleich von dem stillenVer-
schwinden der alpinen Lebenskultur. In
Casaccia stockt der Zeit der Atem zwi-
schen unendlich langerTradition und
ungewisser Zukunft. Man braucht nur
den Strassenverkehr wegzudenken, und
schon fühlt man sich zurückversetzt
in die Anfänge desletztenJahrhun-
derts. Und talwärts lockt der Süden, fast
glaubt man das Meer zu riechen.
Ich wüsste nicht zu sagen, warum
mich das Dorf im Schatten der Berge
so sehr anzieht. Sind es die lichtenWäl-
der mit ihrem weichen Moosboden ent-
lang der Orlegna?Vielleicht liegt es
daran, dass ich nach vielenWanderun-
gen so beglückt in diesem Dorf ankam,
dass mir das Dorf selber als ein glück-
liches erschien. Oder istes, weil die
Muttereiner lieben Bergeller Bekann-
ten hier auf dem schönstenFriedhof des
Tals begraben liegt? Zwei kräftigeWet-
tertannen stehen seit ewigen Zeiten wie
stummeWächter beim Gittertor, gleich
hinter den Mauern aber meckern und
bimmeln die Ziegen desBauern.

Wie er kläre ich


meine Vorliebe für


die Aschenputtel-Orte,


was zieht michdahin,


wohin es sonst


kaum jemanden zieht?


Für den Film «Goldfinger»(1964) macht SeanConnery aliasJamesBond kurzhalt an der Furkapassstrasse.Wenig später brausterdurchRealp. KEYSTONE

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