Focus - 02.11.2019

(Barré) #1

KULTUR KINO


Foto: imago images

102 FOCUS 45/2019


„Oh Boy“ zu rekapitu-
lieren. „Im November
2012 war die Premiere,
aber zunächst passier-
te bei dem Film ja nicht
viel.“ Der Erfolg sei erst
Monate später gekom-
men, unter anderem in
Form von zwei Bayeri-
schen Filmpreisen, sechs
Deutschen Filmpreisen
und einem Europäischen
Filmpreis. 24 Preise wur-
den es am Ende insge-
samt sowie rund 500 000
Zuschauer, was für eine
kostengünstig realisierte
Arthouse-Produktion aus
Deutschland mindestens
sensationell ist.„Ich war ein bisschen
überrumpelt von dem Erfolg und hab es
mir auch richtig hart eingeschenkt“, sagt
Gerster. „Ich habe wirklich jedes Festival
mitgenommen, das gefragt hat, ob ich mit
dem Film nicht vorbeischauen möchte.“


Seine Filme sind Berlin-Geschichten


Irgendwann stand er dann bei der Eröff-
nungsfeier eines zwar charmanten, aber
nicht sonderlich wichtigen Filmfestivals
in Südfrankreich in einem Autohaus und
realisierte, dass es wohl langsam Zeit sei,
sich neuen Aufgaben zu widmen. Mit
viel Elan arbeitete er sich durch Berge
von Drehbüchern, die man ihm in großer
Zahl geschickt hatte, zog manche davon
in Betracht, um sie kurz darauf aber wie-
der zu verwerfen. Dann nahm er sich
vor, Christian Krachts Roman „Imperium“
zu verfilmen, musste aber bald erken-
nen, dass es wohl einen längeren Atem
braucht, um mit den überschaubaren
Mitteln des deutschen Kinos
eine Abenteuergeschichte in
der Südsee auf die Leinwand
zu bringen.
Es lässt sich also nicht
behaupten, dass Gerster untä-
tig gewesen wäre. „Im Nach-
hinein versuche ich, mir die
Zeit nachvollziehbar zusam-
menzurechnen“, sinniert er,
„aber irgendwie gibt es da ein
unerklärliches Jahr.“
„Lara“ kam dann über den
slowenischen Filmemacher,
Drehbuchautor und Foto-
grafen Blaz Kutin in Gers-
ters Leben. „Nachdem wir
uns kennengelernt hatten


und gut fanden, hat Blaz sein Drehbuch
immer mal wieder erwähnt.“ Dass er mal
einen Preis dafür gewonnen und Jeanne
Moreau es gelesen habe, die sich darüber
dann stundenlang mit Kutin unterhielt.
„Ich fragte mich, was es wohl für eine
Geschichte sein muss, wenn sogar Jeanne
Moreau sich dafür interessiert“, sagt
Gerster und forderte von Kutin: „Jetzt gib
mir das Buch doch endlich mal her!“ Der
Autor rückte es zögerlich raus, Gerster las
es und wusste, er hatte endlich den Stoff
für seinen zweiten Film. „Die Geschich-
te spielte ja noch in Ljubljana, aber das
hatte ich schnell vergessen“, sagt Gerster.
„Ich hatte auch gleich Corinna Harfouch
für die Rolle im Kopf und überlegte: Wie
hol ich die Geschichte nach Berlin?“
Die Hauptstadt ist nicht die einzige
Gemeinsamkeit in Gersters Filmen. Bei-
de erzählen die Geschichte eines einzel-
nen Tages, in beiden ist die Hauptfigur
ständig unterwegs, und auch Tom Schil-
ling, Hauptdarsteller von „Oh
Boy“, taucht als Laras Sohn
Viktor wieder auf. Doch selbst
wenn Laras Gedanken in ers-
ter Linie um die abendliche
Premiere ihres Sohnes krei-
sen, ist „Lara“ vor allem ein
Corinna-Harfouch-Film. Prak-
tisch jede Szene gehört ihr.
In wunderbar komponier-
ten Bildern von Tom Tykwers
Kameramann Frank Grie-
be gefilmt, ist „Lara“ das
Porträt einer Frau, zerrissen
von mütterlicher Liebe, Sor-
ge, Strenge und Härte. Eine
Frau, die einst ihre eigene
Karriere als Pianistin begrub,

um ihre Eltern nicht zu
blamieren, und die sich
jetzt davor fürchtet, dass
sie von ihrem Sohn bla-
miert wird. „Mir gefiel
die Widersprüchlichkeit
der Figur“, sagt Gerster,
„und ich bin auch ein
Fan von so kleinen gro-
ßen Geschichten.“

Videokassetten als
Fenster zur Welt
Seine Liebe zum Film fand
Gerster in einer Video-
thek. In Hagen geboren
und im Siegerland aufge-
wachsen, waren VHS-Fil-
me für ihn sozusagen das
Fenster zur Welt. Irgendwann fiel ihm
dann auf, dass die meisten deutschen
Filme, die ihm gefielen, Produktionen aus
dem Hause X Filme waren, Werke wie
etwa „Das Leben ist eine Baustelle“ oder
„Lola rennt“.
Nachdem er den Entschluss gefasst
hatte, selbst Regisseur zu werden, hielt
er ein Praktikum bei der Berliner Produk-
tionsgesellschaft für unabdingbar. Also
bewarb er sich um eine Stelle und rief
nach der Absage so häufig immer wieder
im Büro von X Filme an, bis man irgend-
wann schon fast auf seine Anrufe wartete
und ihm dann doch die Stelle gab, eine
beinah rührende Geschichte.
Das Praktikum führte zu einem Assis-
tentenjob bei Wolfgang Beckers „Good
Bye Lenin!“ und anschließend zu einem
Regie- und Drehbuchstudium an der
Deutschen Film- und Fernsehakademie
Berlin, das er dann mit seinem Abschluss-
film „Oh Boy“ beendete.
„Lara“ ist nun nicht nur sein zweiter
Film, sondern auch ein wichtiger Schritt
zur Vollendung einer möglichen Trilo-
gie. Das könnte je nach Schwerpunkt
eine Berlin-, eine Generationen- oder
eine Eintagsgeschichten-Trilogie wer-
den. Doch wie es für ihn weitergeht,
weiß Gerster selbst noch nicht zu sagen.
Mit der Verfilmung von Christian Krachts
„Imperium“ wird er sich, so viel ist zumin-
dest sicher, weiter beschäftigen. „Das ist
so ein megalomanisches Projekt, an dem
wir entweder zerschellen“, sagt Gerster,
„oder es wird so großartig, wie wir uns
es erträumen.“
Nach seinem bisherigen Lauf zu urtei-
len, scheint Letzteres allerdings deutlich
wahrscheinlicher.n

Oh yeah! Friederike Kempter, hier in „Oh Boy“, wie Tom Schilling Mitglied in Gersters Ensemble

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Ich bin ein
Fan von
so kleinen
großen
Geschichten

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Jan-Ole Gerster,
Regisseur
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