DEUTSCHLAND
Fotos: Markus C. Hurek für FOCUS-Magazin, dpa
FOCUS 45/2019 35
M
it der großen Koalition
kennt Stephan Weil, 60,
sich aus. Seit zwei Jah-
ren führt der Sozialde-
mokrat in Niedersach-
sen eine rot-schwarze
Regierung. Während
die Koalition in Hannover geräuschlos
arbeitet, knallt es in Berlin immer wie-
der. „Das Erscheinungsbild der Regie-
rung ist nach wie vor nicht besonders
gut“, sagt der niedersächsische Minister-
präsident diplomatisch.
Am vergangenen Montag, dem Tag
nach der Thüringer Landtagswahl mit her-
ben Verlusten für SPD und CDU, besuchte
Weil die FOCUS-Redaktion in Berlin.
Herr Ministerpräsident, wissen Sie schon,
wem Sie in der Stichwahl um
den SPD-Vorsitz Ihre Stimme geben?
Ja.
Verraten Sie es uns?
Noch nicht, weil ich erst noch ein paar
Freunden Bescheid geben will. Aber
danach können Sie gerne noch mal nach-
fragen.
Haben Sie einen Tipp, wie es
am Ende ausgeht?
Nein. Eine Prognose ist schwierig. Klara
Geywitz und Olaf Scholz sowie Saskia
Esken und Norbert Walter-Borjans liegen
bislang relativ dicht beieinander. Viele
Mitglieder müssen sich jetzt neu orientie-
ren, weil ihre erste Wahl nicht mehr dabei
ist. Hinzu kommt, dass fast die Hälfte
der SPD-Mitglieder in der ersten Run-
de noch gar nicht abgestimmt hat. Die
können das in der entscheidenden Wahl
aber nachholen.
Wenn man die Stimmen für die
Kandidaten des linken Lagers addiert,
können Esken und Walter-Borjans
auf eine solide Mehrheit hoffen.
Wir haben jetzt eine neue Lage, die
die Mitglieder in der Stichwahl sicherlich
neu bewerten werden. Die Wahl ist offen.
Kann Olaf Scholz Finanzminister
und Vizekanzler bleiben, wenn die
SPD ihn nicht mehrheitlich zu ihrem
Vorsitzenden wählen will?
Das ist jetzt eine reine Spekulation.
Aber eines sollte uns nach den Turbulen-
zen dieses Jahres in der SPD eine Lehre
sein: mit führenden Sozialdemokraten
pfleglich umzugehen und nicht ohne Not
auf sie zu verzichten.
Wäre Scholz im Fall einer Niederlage
politisch nicht zu stark beschädigt,
um einfach weitermachen zu können?
Nochmals: Das sind hypothetische Fra-
gen. Es handelt sich schlichtweg um eine
Wahl, nicht mehr und nicht weniger. Es
darf für niemanden ein Nachteil sein, sich
dafür zur Verfügung zu stellen.
Bei 53 Prozent Wahlbeteiligung – wie
verpflichtend ist das Votum der Mitglieder
für die Delegierten des Parteitags, die
am Ende die neue Führung wählen?
Diese Höhe der Wahlbeteiligung war in
etwa zu erwarten. Schon bei der ersten
Mitgliederbefragung der SPD 1993 haben
sich ähnlich viele beteiligt. Aber natür-
lich wünsche ich mir, dass in der Stich-
wahl deutlich mehr Mitglieder abstim-
men. Vielleicht ist es jetzt mit einer klaren
Alternative zwischen zwei Teams leichter,
seine Stimme abzugeben.
Norbert Walter-Borjans sagt, die SPD habe
sich schon in der rot-grünen Ära in die „neo-
liberale Pampa“ verirrt. Stimmen Sie zu?
Ich würde das nicht so ausdrücken. Es
ist richtig, dass wir zu Anfang des Jahrtau-
sends einen übermächtigen neoliberalen
Zeitgeist hatten, dem
punktuell auch die
SPD gehuldigt hat.
Ich war damals Stadt-
kämmerer und auch
nicht gegen alle diese
Anfechtungen gefeit.
Aber das liegt fast 20
Jahre zurück und hat
mit der heutigen SPD
nun wirklich nichts
mehr zu tun.
Sollte die SPD zukünf-
tig sozialpolitisch eher
nach links und mig-
rationspolitisch eher
nach rechts rücken?
Ich halte nicht viel
von diesen Eintei-
lungen. Wir befinden
uns in einer Phase
grundlegender Ver-
änderungen, was bei
vielen Menschen
Ängste und Sorgen auslöst. Deshalb ist
es die Aufgabe der SPD, so gut wie mög-
lich Vertrauen und Sicherheit zu schaf-
fen, vor allem auch in sozialer Hinsicht.
Dazu braucht man einen starken Staat,
der Regeln setzt und dafür sorgt, dass sie
auch eingehalten werden. Und wir brau-
chen dringend mehr gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Wenn die SPD es schafft,
diese Grundgedanken in konkrete Politik
zu übersetzen, können wir auch wieder
mehr Vertrauen gewinnen.
Geht es konkreter? Viele Menschen
sorgen sich beispielsweise, dass ihr Job
im Zuge der Digitalisierung wegfällt.
Und Bundesarbeitsminister Hubertus
Heil reagiert darauf mit einer Reform
des Kurzarbeitergeldes mit dem Ziel, die
Betroffenen dieses Strukturwandels stär-
ker zu unterstützen. Viele Unternehmen
und Arbeitsplätze werden sich im Zuge
der Digitalisierung enorm verändern. Es
kommt darauf an, bei neuen Anforderun-
gen mithalten zu können durch Weiter-
qualifizierung oder Umschulung.
Haben Sie ein Beispiel?
Gerne: Das Volkswagenwerk in Han-
nover wird gerade für die Elektromo-
bilität massiv umgerüstet, und ebenso
massiv wird in die Qualifizierungs- und
Umschulungsmaßnahmen investiert.
Nicht wenige der heutigen Bandarbei-
ter werden künftig am Computer arbei-
ten. Ähnliche Prozesse muss es aber auch
bei viel kleineren Unternehmen geben
können.
Hat die SPD Antworten
auf die Sorgen vor
allzu starker Migration?
Inzwischen ja. Es
ist uns 2015 auf dem
Höhepunkt der Flücht-
lingskrise nicht immer
gelungen, den rich-
tigen Ton zu treffen.
Die SPD will die Men-
schen, die politisch
verfolgt werden und in
Not geraten sind, un-
terstützen. Aber man-
che andere können
nun einmal nicht bei
uns bleiben. Wir müs-
sen Flüchtlinge und
Migranten fair be-
handeln und zugleich
die Regeln und Ge-
setze des Rechtsstaats
durchsetzen.
Wenn Olaf Scholz
Parteichef wird, bleibt die SPD in der Re-
gierung, und wenn Norbert Walter-Borjans
gewinnt, verlässt sie die große Koalition –
was ist falsch an dem Satz?
Ich glaube nicht, dass Scholz und
Geywitz unter allen Umständen in der
großen Koalition bleiben möchten. Es
wird darauf ankommen, was diese Regie-
rung noch zustande bringen kann. Umge-
kehrt habe ich auch nicht den Eindruck,
dass Walter-Borjans und Esken um jeden
Preis die Koalition verlassen wollen.
Wer führt künftig die SPD?
GroKo-Skeptiker
Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Bor-
jans, 67, und Digitalexpertin Saskia Esken, 58
GroKo-Befürworter
Finanzminister Olaf Scholz, 61, und die Branden-
burgerin Klara Geywitz, 43