Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 ZÜRICH UND REGION21


A LA CARTE


Nicht ganz


aus einem Guss


Urs Bühler· Originell zu sein, das versu-
chen viele. Die wenigsten Gastbetriebe
aber verbinden diesen Anspruch mit
derart originär wirkenderPatina wie die
«Giesserei Oerlikon», in der vor einem
Vierteljahrhundert noch Stahlarmatu-
ren von Hand gegossen wurden. Seit
nunmehr zwanzigJahren schafft dieFi-
del GastroAG um den Investor Ursin
Mirer ganz legal ihren postindustriellen
Spagat in dieser1910 erbautenFabrik
in Zürich Nord. Ehe die Liberalisierung
des Gastgewerbegesetzes1998 Umnut-
zungen dieser Art begünstigte, gab es
noch ein nicht gesetzeskonformes Inter-
mezzo inForm vonPartyseinerGruppe
um denKünstler Lukas Hofkunst.
Heute ist das einer derraren Orte,
die sich etwas vomReiz der damaligen
illegalen Szene bewahrthaben. Und nach
der inspirierendenTr ansformation lebt
zwischen den abgenutzten Mauern und
anderenRelikten mehr als nur ein Hauch
der industriellenVergangenheit weiter:
Deren Spuren sind sozusagenkonserviert
undgekonnt mit neuen Elementenkom-
biniert worden. Mit der Zeit ist so ein in-
zwischen zehnteiligesRaumangebot ent-
standen, vom unlängst als Bibliothek ge-
stalteten Sitzungszimmer über die 2005
von Alfredo Häberli undDavidJoho
zurBar umgestalteteWerkstatt bis zum
grosszügigenAussenbereich. Die Nut-
zungsformenreichenvonTagungenüber
Firmenessen bis zu Hochzeiten, die Spe-
zialangebote von Dinner-Krimis bis zum
Tatarenhut für kleinereGesellschaften
im ehemaligenRohstoffkeller.
Wir aber nehmen an diesem Don-
nerstagabend nebst nur wenigen ande-
ren Gästen Platz im ursprünglichen
Giesserei-Restaurant – unter dem be-
rauschenden Cynar-Plakat, dem dieser
mit Sinn fürTheatralik gestalteteTeil
seinen heutigen Namen verdankt. Der
düstergehaltene, hoheRaum mit sei-
nen Kassettenfenstern und verlebten
Wänden ist mit vielKerzenlicht erhellt,
ein wunderbaresRefugium für die kalte
Jahreszeit mit einer einzigartigen Atmo-
sphärein dieser Stadt, in der so vieles zu
Toderenoviert ist.
Auch die grosszügig portionierten
Gerichte sind so schön angerichtet, dass
sie alsAugenweiden gelten dürfen. Sie
überzeugen bei unserem Besuch aller-
dings im Gaumen nicht bis ins Detail.
Kaum Anlass zur Kritik bieten der präch-
tige Herbstsalat (Fr. 15.–), das Schweizer
Rindsentrecôte (Fr. 58.–), das stattliche
Rindsfilet (Fr. 52.–),der Schwertfisch im
Backpapier (Fr. 39.–), dasWildsaubäg-
gli aus dem mit Buchenholz befeuerten
Smoker (Fr. 41.–). Bei derFeinabstim-
mung der Beilagen indes hapert es: Die
Tagliatelle beispielsweise haben sich ent-
schieden zu lange im Heisswassergetum-
melt, und einWildreis – in dieser Art vor
Jahrzehnten in Mode gekommen – ist
trocken, fad und ohne Biss.
Keine Offenbarung ist zum Dessert
auch dieVermicelli-Mousse (Fr. 16.–),
die zu süss ist; die gross angekündigte
Meringue wird homöopathisch dosiert
darunter begraben.Viel besser gefällt
uns ein Balsamico-Essig-Sorbet (Fr.
4.–),das Säure,Süsse und Kälte über-
raschend vermählt und ebenso ein tol-
ler Zwischengang wäre. Von der sehr in-
spiriert sortiertenWeinkarte wählen wir,
da dieKellnerin es empfiehlt und es zur
Inszenierung diesesRaums passt: «Das
Phantom». Die imBarrique ausgebaute
Cuvéeaus dem Burgenland (Fr. 78.–)
erweist sich als nicht ganz so vollmun-
dig wie angekündigt, aber das lasten wir
nicht dem Service an. Dieser sammelt
nämlich eindeutig Pluspunkte, auch in
den Details (der Chef höchstselbst etwa
liest zweimal diskret eine heruntergefal-
lene Stoffserviette auf und ersetzt sie
durch eine neue).

Giess ere i Oerlikon, Birchstrasse108, 8050
Zürich. Tel. 043 205 10 10. So geschlossen.

Das «Select»-Haus wird neu erfunden

Jahrzehntela ng war das Haus am Limmatquai ein Hort der lokale n Bohème – nun ist es renoviert worden


ADI KÄLIN


Wenn man die neu eröffnete Pizzeria
Ristorante Molino Select betritt, fal-
len zwei Dinge sofort auf: zum einen
die Decke, die sich gegen hinten ab-
senkt, zum andern der grosse Spiegel,
der an der gegenüberliegendenWand
hängt. Mit etwas Phantasie kann man
sich den ehemaligen Kinoraum vorstel-
len, in den dasRestaurant eingebaut
worden ist: Die Decke ist ein Element
des früheren «Nord-Süd», derSpiegel
stehtfür die Leinwand, die dorteinst
aufgespannt war.
Gestaltet wurde das Lokal vom Ate-
lier Ushitamborriello zusammen mit
dem ArchitektenTomaso Zanoni, der für
den gesamten Umbau des Hauses ver-
antwortlich zeichnet.Das Restaurant hat
seinen Standort getauscht:Woes früher
war, befindet sich nun dasLadengeschäft
der Schmuckfirma Meister, deren Betrei-
berfamilie auch das Haus gehört. Neu er-
reicht man das «Molino» durch den frü-
heren Kinoeingang.DerWechsel hat für
dasUnternehmen denVorteil, dass es auf
dem anschliessenden Platz seinAussen-
restaurant betreiben kann.


EinHauch vonParis


Als das frühere Café Select imJahr
1998 definitiv geschlossen wurde,hatte
sichdas Pariser Flair,das dieses Lo-
kal einst ausstrahlte, längstverflüchtigt.
Man hatteVerständnis für den letzten
Pächter, der auf die nicht allzu heiteren
finanziellenAussichten verwies und den
Betrieb einstellte.Neu zog die Pizzeria
der Molino-Kette ein, betrieben von der
Ospena Group, die zunächst zuJelmoli
und danach der Migros gehörte. Zwölf
Jahre später hatte auch das Studiokino
Nord-Südausgedient, dassich in den
besten Jahrenvor allem mitWerken
französischer Meisterregisseure profi-
lierthatte.
Willy Boesiger, einst Mitarbeiter bei
Le Corbusier inParis, hatte das Haus
1935 erworben und darin «Select» und
«Nord-Süd» eingerichtet. Beides war
PariserVorbildern nachempfunden, und
beides zog Literaten,Künstler, Schau-
und später auch Schachspieler in grosser
Zahl an. Der Kaffee war gut, das Essen
günstig. Einem alten NZZ-Artikel ent-
nehmen wir, dass man für das Menu 1 in
denerstenJahren 4Franken 80 bezahlte.
Für Zürich waren beideBetriebe damals
eine Sensation:Das «Nord-Süd» war das
ersteStudiokino,in den wärmerenJah-
reszeiten profilierte sich das «Select» als
erstes Boulevardcafé der Stadt.
Die Geschichte des Hauses geht aber
sehrviel weiter zurück: EinVorgänger-
bau ist bis ins15.Jahrhundert zurück
nachgewiesen,und schon damals wurde


in dessenRäumen gewirtet.Vor ziem-
lich genau180 Jahren,1839/40, wurde
das heutige Gebäude errichtet.Esstand
damals für eine Entwicklung,die das
kleine Städtchen an der Limmat allmäh-
lich zur modernen Stadt werden liess.
Dazu mussten aber derVerkehr und
die Marktstände aus der engen Altstadt
auf bequemereRouten verlegt werden.
Eine neueVerkehrsachse wurdekonzi-
piert, die sich vom neuen Hafen (beim
heutigen Sechseläutenplatz) über den
neuen Limmatquai (damals noch Son-
nenquai) und die ebenfalls neue Müns-
terbrücke zumParadeplatz zog.
Gewissermassen die Brückenpfeiler
dieser neuenAchse waren der Hafen auf
der einen, derPosthof mit dem gleich-
zeitig erstellten HotelBaur enVille
(heute Savoy) auf der andern Seite. Der
Posthof löste den früheren Startort der
Postkutschen ab, der sich auf dem klei-
nen Plätzchen vor dem Spezialitäten-
geschäft Schwarzenbach befand. Dort
muss es vor lauterKutschen zu gewissen
Zeiten soeng gewesen sein, dass kaum
mehr einDurchkommen war.Teil der
neuenAchse waren überdies zwei vor-
nehme Gasthäuser am Limmatquai; zum
einen das Hotel zur goldenen Krone
(Limmatquai 4), zum andern das «Du

Lac» am Limmatquai16, dessen Be-
trieb allerdings1886 eingestellt wurde.
In den folgendenJahren wurde es zum
Geschäftshaus, bis es1935 um «Select»
und «Nord-Süd»bereichertwurde.

Einen Schritt zurück


Willy Boesiger wollte aus dem klas-
sizistischenBau etwas Modernes ma-
chen, schlug deshalb die altenVerzie-
rungen an derFassade ab und strich das
ganze Haus in der gleichenFarbe an.
Der ganze Sockel wurde erneuert und
um grosseFenster erweitert.Auch das
Kino wurde als «tadelloser, sachlicher,
schmuckfreierRaum» geschaffen, wie
die NZZ damals lobend festhielt. «Boe-
siger hat das Haus sorasant ins 20.Jahr-
hundert katapultiert, dass vor allem im
Sockelgeschoss nicht mehr viel Origi-
nales blieb», sagt denn auch der Archi-
tektTomaso Zanoni. Zusammen mit
Eigentümerschaft und Denkmalpflege
beschloss er, viele Eingriffe Boesigers
wieder rückgängig zu machen. Am deut-
lichsten lässt sich dasan denFassaden
ablesen, die sich wieder am ursprüng-
lichenBau orientieren.
Weil die Veränderungen in den
1930erJahren soradikal waren, musste

Zanoni auch bei der Sanierung sehr tief
eingreifen, wie er auf einemRundgang
durch das sanierte Haus erklärt. Böden
undTr eppen, die in der Zwischenzeit ex-
trem schief waren, mussten wieder ge-
richtet werden, es brauchte neueKel-
lerräume, und die gesamte Haustechnik
wurde ausgewechselt.
Der Haupteingang des Hauses be-
findet sich neu wieder am Limmatquai.
Schon imTr eppenhaus,das sehrgross-
zügig gestaltetist, merkt man,dass die-
ses Gebäudeursprünglich ein Hotel war.
Davon zeugen auch die Zimmerin den
achtWohnungen und auf der Büroetage,
die ganz spezielle Grundrisse haben.Auf
einem Zwischengeschoss,woeinsteine
Toilette untergebracht war, gibt es ein
«Fenster insJahr1840», ein Stückreich
bemalteWand.
Der Höhepunkt der Führung ist
allerdings dieDachterrasse hoch über
allen Nachbarhäusern.Von hier aus
kann man sich in die Entstehungszeit
des Hauses zurückversetzen, als das
«Du Lac» tatsächlich am See oder
mindestens an einer sehr viel breite-
ren Limmat stand,als es nochkeine
Quaibrücke gab und die grossenPas-
sagierschiffe direkt gegenüber, amBau-
schänzli, landeten.

Dasehemalige HotelDu Lac am Limmatquai hat seinen ursprünglichen Fassadenschmuck zurückerhalten. ANNICKRAMP/NZZ

Stadtrat Golta kritisiert den Bund scharf


Die Unterbringung im Zürcher Bundesasylzentrum ist laut dem Sozialvorstand nicht menschenwü rdig


FABIANBAUMGARTNER


Die Schärfe vonRaphael GoltasVotum
kam überraschend. Der städtische
Sozialvorstand hat im Gemeinderat die
Zustände im neuen Bundesasylzentrum
auf demDuttweiler-Areal inZürich-
West harsch kritisiert. «Das Zentrum
erfüllt nach unseremKenntnisstand das
Ziel einer menschenwürdigen Unter-
bringung derzeit nicht.» Die Möblie-
rung sei knausrig, eine wohnliche Atmo-
sphärewerde verunmöglicht.
Ein Dorn imAuge sind Golta aber
vor allem dierestriktiven Sicherheits-
vorkehrungen in der Unterkunft, ins-
besondere dieEinlasskontrollen.In die
Verantwortung nahm der SP-Stadtrat
das für die Bundesasylzentren zustän-
dige Staatssekretariat für Migration. «Es
darf nicht sein, dass Menschenso mas-
sive Eingriffe in die persönlicheFrei-
heit erleben müssen», sagte Golta. Diese
seien unnötig und hätten verständlicher-
weise grossen Unmut bei den Betroffe-


nen hervorgerufen. «Ein pragmatisches
Vorgehen betreffend Sicherheit ist mög-
lich undauch ausreichend.»Das hätten
die Erfahrungen in der AnlageinOer-
likon gezeigt, wo die Stadt selbst für die
Sicherheit gesorgt habe.
Golta will nun allenVorwürfen nach-
gehen. Im Gemeinderat sagte er: «Der
aktuelle Zustand muss verbessert wer-
den – und das so schnell wie möglich.»

«KeinPlatz in Zürich»


DieÄusserungen des Sozialvorstands
folgten auf eine geharnischteFraktions-
erklärung der Alternativen Liste (AL).
Darin befand diePartei, für ein Bun-
desasylzentrum in dieserForm habe es
in Zürichkeinen Platz. Das Empfangs-
zentrum sei von den Stimmberechtig-
tenim Herbst 20 17 alsPrototyp eines
menschenwürdigen Empfangszentrums
gutgeheissen worden. «Doch davon ist
heute nichts zu spüren.» Die AL zählte
dabei auchkonkreteVorfälle auf, um

ihre Kritik zu untermauern. Demnach
würden die Bewohner des Zentrums
jedesMal gefilzt, wenn sievomAus-
gang zurückinsZentrum wollen. Be-
troffen vomRegime seienauch Kinder.
Wer drinnen sei, müsse bis zu dreimal
proTagAufseher ins Zimmer lassen, die
jedenWinkelkontrollierten.
In einem Bericht des Magazins «Das
Lamm», in dem die Situation im Bundes-
asylzentrum thematisiert wurde, hatte
die AL-Gemeinderätin Ezgi Akyol von
einem Skandal gesprochen. Die Bedin-
gungen seien viel härter als noch im
Abstimmungskampf für das Projekt im
Herbst 20 17 angekündigt. «Über ein
derartrepressivesZentrum wurde in
Zürich gar nie abgestimmt.»

«Einvernehmlichfestgelegt»


Das Staatssekretariat für Migration
widerspricht derDarstellung jedoch.Das
Bundesasylzentrum entspreche den An-
forderungen an eine menschenwürdige

Unterkunft und den gängigen Standards
aller Zentren, sagte der SprecherDaniel
Bach auf Anfrage. Dafür sei unterande-
rem auch das Uno-Flüchtlingshilfswerk
UNHCRkonsultiert worden.
Bach hält auch fest,dass das Zentrum
in Zürich die längstenAusgangszeiten
aller Bundesasylzentren in der Schweiz
habe. «Diese wurden mit der Stadt
Zürich einvernehmlich festgelegt.» Bei
der Infrastruktur seien tatsächlich einige
Mängel festgestellt worden, sagtBach.
Man sei nun daran, diese zu beheben.
Das Bundesasylzentrum in Zürich-
West ist seit Anfang November in Be-
trieb. Rund 150 Asylsuchende sind
dort momentan untergebracht, es bie-
tet jedoch Platz für bis zu 360 Perso-
nen. Gebaut wurde die Anlage von der
Stadt Zürich, der Bund hat sie nach
derFertigstellungvon dieser gemietet.
Den Kredit für dasBauprojekt hatten
die Stadtzürcher Stimmberechtigten im
September 20 17 mit70,4ProzentJa-
Stimmengenehmigt.
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